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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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U?le das Deutsche Reich die Niederlande verlor

kommen. Wann endlich würde der Herzog-Graf auf eigenen Straßen von
Holland bis zum Mittelmeer eilen komm?

In einen wilden Taumel wurde Karl vou seinen phantastischen Plänen
hingerissen. Allerwärts entstanden ihm Gegner, überall regte sich Verrat und
Betrug. Karl merkte es nicht oder wollte es nicht merken. In den eigenen Landen
drohte Aufruhr und Abfall, die allzu scharf weitergeführte Zentralisation hatte
tiefgehende Erbitterung hervorgerufen. Weder die Niederlande noch das Herzog¬
tum Burgund wollten von den Eroberungskriegen etwas wissen und verweigerten
die Subsidien. Die militärischen Kräfte, wie so häufig schon, versagten völlig.
Das stehende Heer, das Karl endlich geschaffen, war zu klein. Die Söldner
zeigten sich unzuverlässig.

Unheimlich rasch erfolgte die Katastrophe. In ihrer Freiheit bedroht, stan¬
den die Schweizer auf. Einige wuchtige Schläge, und der Weltenunruhstifter
war verschwunden. Selten haben Schlachten so weittragende Folgen gehabt
wie Gansör, Murten und Nancy.

In weltgeschichtlichen Konflikte war der burgundische Staat entstanden,
sollte er jetzt in weltgeschichtlichen: Konflikte zu Grunde gehen?

Der Tod Karls des Kühnen stellte den burgundischen Staat vor den
Untergang. Keinen erprobten Krieger oder gewiegten Staatsmann hinterließ
Karl als Erben, sondern ein junges ebenso hübsches als unbedeutendes Mädchen,
die zwanzigjährige Maria (1477-1482). Keine treuen, zäh an dem Geschaffenen fest¬
haltenden Untertanen trauerten über den furchtbaren Tod des Herrn, sondern zahl¬
reiche Unzufriedene frohlockten über das jähe Ende der Zwingherrschaft. Der parti-
kularistische Geist der Kommunen loderte in hellen Flammen von neuem auf.
In Flandern rissen die drei Lebe, Gent, Brügge, Apern, die Herrschaft wieder
an sich. Karls ergebene Ratgeber mußten auf dem Schaffst für die verhaßten
Neuerungen ihres Herrn büßen. Das "große Privileg", im Sturm der hilf¬
losen Fürstin abgerungen, wollte den zentralisierten Staat zertrümmern, an
Stelle des einen, viele Stadtstaaten setzen.

König Ludwig der Elfte ließ die längst bereitstehenden Heere in Burgund
einrücken und zog das Herzogtum für die französische Krone ein. Auch an der
Grenze Flanderns erschienen seine Sireitkräfte, an die Wallonen ergingen ver¬
führerische Lockrufe. Würden auch England und Deutschland die Stunde nutzen,
wollte Deutschland einst Verlorenes wiedergewinnen?

Doch auch diese Stunde der Gefahr, da der burgundische Staat in allen
Fugen erzitterte, ging für die Niederlande vorüber. England war durch
den Rosenkrieg gefesselt, in Deutschland gab es keine starke Reichsgewalt mehr,
welche die Rechte des Imperium zur Geltung bringen konnte. Wohl erschien
ein deutscher Prinz als Retter des burgundischen Staates, wohl gewann der
einzige Sohn des Kaisers dem Dauphin und den englischen Prinzen zum Trotze
die Hand der Prinzessin Maria und damit den Einfluß auf die Geschicke der


U?le das Deutsche Reich die Niederlande verlor

kommen. Wann endlich würde der Herzog-Graf auf eigenen Straßen von
Holland bis zum Mittelmeer eilen komm?

In einen wilden Taumel wurde Karl vou seinen phantastischen Plänen
hingerissen. Allerwärts entstanden ihm Gegner, überall regte sich Verrat und
Betrug. Karl merkte es nicht oder wollte es nicht merken. In den eigenen Landen
drohte Aufruhr und Abfall, die allzu scharf weitergeführte Zentralisation hatte
tiefgehende Erbitterung hervorgerufen. Weder die Niederlande noch das Herzog¬
tum Burgund wollten von den Eroberungskriegen etwas wissen und verweigerten
die Subsidien. Die militärischen Kräfte, wie so häufig schon, versagten völlig.
Das stehende Heer, das Karl endlich geschaffen, war zu klein. Die Söldner
zeigten sich unzuverlässig.

Unheimlich rasch erfolgte die Katastrophe. In ihrer Freiheit bedroht, stan¬
den die Schweizer auf. Einige wuchtige Schläge, und der Weltenunruhstifter
war verschwunden. Selten haben Schlachten so weittragende Folgen gehabt
wie Gansör, Murten und Nancy.

In weltgeschichtlichen Konflikte war der burgundische Staat entstanden,
sollte er jetzt in weltgeschichtlichen: Konflikte zu Grunde gehen?

Der Tod Karls des Kühnen stellte den burgundischen Staat vor den
Untergang. Keinen erprobten Krieger oder gewiegten Staatsmann hinterließ
Karl als Erben, sondern ein junges ebenso hübsches als unbedeutendes Mädchen,
die zwanzigjährige Maria (1477-1482). Keine treuen, zäh an dem Geschaffenen fest¬
haltenden Untertanen trauerten über den furchtbaren Tod des Herrn, sondern zahl¬
reiche Unzufriedene frohlockten über das jähe Ende der Zwingherrschaft. Der parti-
kularistische Geist der Kommunen loderte in hellen Flammen von neuem auf.
In Flandern rissen die drei Lebe, Gent, Brügge, Apern, die Herrschaft wieder
an sich. Karls ergebene Ratgeber mußten auf dem Schaffst für die verhaßten
Neuerungen ihres Herrn büßen. Das „große Privileg", im Sturm der hilf¬
losen Fürstin abgerungen, wollte den zentralisierten Staat zertrümmern, an
Stelle des einen, viele Stadtstaaten setzen.

König Ludwig der Elfte ließ die längst bereitstehenden Heere in Burgund
einrücken und zog das Herzogtum für die französische Krone ein. Auch an der
Grenze Flanderns erschienen seine Sireitkräfte, an die Wallonen ergingen ver¬
führerische Lockrufe. Würden auch England und Deutschland die Stunde nutzen,
wollte Deutschland einst Verlorenes wiedergewinnen?

Doch auch diese Stunde der Gefahr, da der burgundische Staat in allen
Fugen erzitterte, ging für die Niederlande vorüber. England war durch
den Rosenkrieg gefesselt, in Deutschland gab es keine starke Reichsgewalt mehr,
welche die Rechte des Imperium zur Geltung bringen konnte. Wohl erschien
ein deutscher Prinz als Retter des burgundischen Staates, wohl gewann der
einzige Sohn des Kaisers dem Dauphin und den englischen Prinzen zum Trotze
die Hand der Prinzessin Maria und damit den Einfluß auf die Geschicke der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/211>, abgerufen am 29.12.2024.