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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Das Bildungswesen der Bulgaren

sich nun zunächst wieder die kirchliche Unabhängigkeit von den griechischen
Bischöfen und ein bulgarisches Exarchat in Konstantinopel. Als Losung aber
ertönte in diesem Kampf: "Durch Schulbildung zur Befreiung!" Die Sprache
der Väter führte man jetzt wieder nicht nur in die Kirche, sondern auch in
die Schulen ein, die bald der "Mittelpunkt der nationalen Bewegung, des
nationalen Stolzes und Selbstbewußtseins" wurden.

Die damit begründete neubulgarische Schule emanzipierte sich jetzt von
der Kirchenleitung und war bestrebt, ihre Zöglinge vor allem für das bürger¬
liche Leben vorzubereiten. Damit hängt die Schaffung eines selbständigen
weltlichen Lehrerstandes zusammen, dessen Mitglieder eine besondere pädagogische
und wissenschaftliche Ausbildung durchzumachen hatten. Die Kosten der unent¬
geltlichen Schulerziehung wurden aus einer Kasse bestritten, zu deren Ver¬
waltung man einen Ortsausschuß wählte. Diese Ausschüsse wurden später in
Schulgemeinden verwandelt, die bald einen dem Schulwesen sehr förderlichen
Wetteifer entwickelten und auch den politischen Vorteil brachten, daß die in
ihnen notwendig werdenden Wahlen die Bulgaren das Wahlrecht schätzen und
gebrauchen lehrten und sie zur Selbstregierung erzogen.

Mit der Zeit erweckten das Beispiel von Nachbarn, kulturelle, politische,
wirtschaftliche (insbesondere internationalwirlschaftliche) Anstöße das Bedürfnis,
der jungen Generation etwas mehr als die allerelementarsten Kenntnisse in
das Leben mitzugeben. Hier liegen die Anfänge des höheren Schulwesens.

Das bulgarische Bildungswesen erlebte nun (bis etwa 1875) eine un¬
gefähr fünfzigjährige "Sturm- und Drangperiode", von der der Bulgare
Nikoltschosf. der Geschichtsschreiber des Bildungswesens seines Vaterlandes, mit
vollem Recht gesagt hat: "Von den Kylien bis zu den höheren Schulen, von
dem kaum des Lesens kundigen Schulmeister bis zu dem akademisch gebildeten
Lehrer, von der privaten Leseschule bis zu der sachgemäß eingerichteten Volks"
und Bürgerschule ist ein gewaltiger Sprung, der in der Geschichte des
Schulwesens in so kurzem Zeitraum wohl kaum noch einmal gemacht worden
ist. Möglich war er, weil es in diesem Lande so gut wie gar keine päda¬
gogische Tradition gab."

Auch das Mädchenschulwesen entwickelte sich vorzüglich, seitdem (um
1860) tüchtige weibliche Lehrkräfte zu wirken begannen und die Öffent-
lichkeit für das Recht der Frau durch Schriftsteller mobil gemacht wurde, unter
denen an erster Stelle Konstantin Photinoff (etwa 1735--1863), der Begründer
der bulgarischen periodischen Presse, zu nennen ist. Aus finanziellen Gründen
ging man in der Volksschule bald zur Koedukation über, während man in den
höheren Schulen aus sexual-sittlichen Gründen die Zusammenerziehung der
beiden Geschlechter vermied und deshalb besondere Mädchenschulen gründete,
die neuerdings in Lehrplan und Methode den Knabenschulen völlig gleichen.

Begleitet und getragen wurde die Praxis der Schulgründungen und des
Schullebens von reger literarischer und theoretischer Arbeit. Und gerade der


Grenzboten IV 191S 1"
Das Bildungswesen der Bulgaren

sich nun zunächst wieder die kirchliche Unabhängigkeit von den griechischen
Bischöfen und ein bulgarisches Exarchat in Konstantinopel. Als Losung aber
ertönte in diesem Kampf: „Durch Schulbildung zur Befreiung!" Die Sprache
der Väter führte man jetzt wieder nicht nur in die Kirche, sondern auch in
die Schulen ein, die bald der „Mittelpunkt der nationalen Bewegung, des
nationalen Stolzes und Selbstbewußtseins" wurden.

Die damit begründete neubulgarische Schule emanzipierte sich jetzt von
der Kirchenleitung und war bestrebt, ihre Zöglinge vor allem für das bürger¬
liche Leben vorzubereiten. Damit hängt die Schaffung eines selbständigen
weltlichen Lehrerstandes zusammen, dessen Mitglieder eine besondere pädagogische
und wissenschaftliche Ausbildung durchzumachen hatten. Die Kosten der unent¬
geltlichen Schulerziehung wurden aus einer Kasse bestritten, zu deren Ver¬
waltung man einen Ortsausschuß wählte. Diese Ausschüsse wurden später in
Schulgemeinden verwandelt, die bald einen dem Schulwesen sehr förderlichen
Wetteifer entwickelten und auch den politischen Vorteil brachten, daß die in
ihnen notwendig werdenden Wahlen die Bulgaren das Wahlrecht schätzen und
gebrauchen lehrten und sie zur Selbstregierung erzogen.

Mit der Zeit erweckten das Beispiel von Nachbarn, kulturelle, politische,
wirtschaftliche (insbesondere internationalwirlschaftliche) Anstöße das Bedürfnis,
der jungen Generation etwas mehr als die allerelementarsten Kenntnisse in
das Leben mitzugeben. Hier liegen die Anfänge des höheren Schulwesens.

Das bulgarische Bildungswesen erlebte nun (bis etwa 1875) eine un¬
gefähr fünfzigjährige „Sturm- und Drangperiode", von der der Bulgare
Nikoltschosf. der Geschichtsschreiber des Bildungswesens seines Vaterlandes, mit
vollem Recht gesagt hat: „Von den Kylien bis zu den höheren Schulen, von
dem kaum des Lesens kundigen Schulmeister bis zu dem akademisch gebildeten
Lehrer, von der privaten Leseschule bis zu der sachgemäß eingerichteten Volks»
und Bürgerschule ist ein gewaltiger Sprung, der in der Geschichte des
Schulwesens in so kurzem Zeitraum wohl kaum noch einmal gemacht worden
ist. Möglich war er, weil es in diesem Lande so gut wie gar keine päda¬
gogische Tradition gab."

Auch das Mädchenschulwesen entwickelte sich vorzüglich, seitdem (um
1860) tüchtige weibliche Lehrkräfte zu wirken begannen und die Öffent-
lichkeit für das Recht der Frau durch Schriftsteller mobil gemacht wurde, unter
denen an erster Stelle Konstantin Photinoff (etwa 1735—1863), der Begründer
der bulgarischen periodischen Presse, zu nennen ist. Aus finanziellen Gründen
ging man in der Volksschule bald zur Koedukation über, während man in den
höheren Schulen aus sexual-sittlichen Gründen die Zusammenerziehung der
beiden Geschlechter vermied und deshalb besondere Mädchenschulen gründete,
die neuerdings in Lehrplan und Methode den Knabenschulen völlig gleichen.

Begleitet und getragen wurde die Praxis der Schulgründungen und des
Schullebens von reger literarischer und theoretischer Arbeit. Und gerade der


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[0157] Das Bildungswesen der Bulgaren sich nun zunächst wieder die kirchliche Unabhängigkeit von den griechischen Bischöfen und ein bulgarisches Exarchat in Konstantinopel. Als Losung aber ertönte in diesem Kampf: „Durch Schulbildung zur Befreiung!" Die Sprache der Väter führte man jetzt wieder nicht nur in die Kirche, sondern auch in die Schulen ein, die bald der „Mittelpunkt der nationalen Bewegung, des nationalen Stolzes und Selbstbewußtseins" wurden. Die damit begründete neubulgarische Schule emanzipierte sich jetzt von der Kirchenleitung und war bestrebt, ihre Zöglinge vor allem für das bürger¬ liche Leben vorzubereiten. Damit hängt die Schaffung eines selbständigen weltlichen Lehrerstandes zusammen, dessen Mitglieder eine besondere pädagogische und wissenschaftliche Ausbildung durchzumachen hatten. Die Kosten der unent¬ geltlichen Schulerziehung wurden aus einer Kasse bestritten, zu deren Ver¬ waltung man einen Ortsausschuß wählte. Diese Ausschüsse wurden später in Schulgemeinden verwandelt, die bald einen dem Schulwesen sehr förderlichen Wetteifer entwickelten und auch den politischen Vorteil brachten, daß die in ihnen notwendig werdenden Wahlen die Bulgaren das Wahlrecht schätzen und gebrauchen lehrten und sie zur Selbstregierung erzogen. Mit der Zeit erweckten das Beispiel von Nachbarn, kulturelle, politische, wirtschaftliche (insbesondere internationalwirlschaftliche) Anstöße das Bedürfnis, der jungen Generation etwas mehr als die allerelementarsten Kenntnisse in das Leben mitzugeben. Hier liegen die Anfänge des höheren Schulwesens. Das bulgarische Bildungswesen erlebte nun (bis etwa 1875) eine un¬ gefähr fünfzigjährige „Sturm- und Drangperiode", von der der Bulgare Nikoltschosf. der Geschichtsschreiber des Bildungswesens seines Vaterlandes, mit vollem Recht gesagt hat: „Von den Kylien bis zu den höheren Schulen, von dem kaum des Lesens kundigen Schulmeister bis zu dem akademisch gebildeten Lehrer, von der privaten Leseschule bis zu der sachgemäß eingerichteten Volks» und Bürgerschule ist ein gewaltiger Sprung, der in der Geschichte des Schulwesens in so kurzem Zeitraum wohl kaum noch einmal gemacht worden ist. Möglich war er, weil es in diesem Lande so gut wie gar keine päda¬ gogische Tradition gab." Auch das Mädchenschulwesen entwickelte sich vorzüglich, seitdem (um 1860) tüchtige weibliche Lehrkräfte zu wirken begannen und die Öffent- lichkeit für das Recht der Frau durch Schriftsteller mobil gemacht wurde, unter denen an erster Stelle Konstantin Photinoff (etwa 1735—1863), der Begründer der bulgarischen periodischen Presse, zu nennen ist. Aus finanziellen Gründen ging man in der Volksschule bald zur Koedukation über, während man in den höheren Schulen aus sexual-sittlichen Gründen die Zusammenerziehung der beiden Geschlechter vermied und deshalb besondere Mädchenschulen gründete, die neuerdings in Lehrplan und Methode den Knabenschulen völlig gleichen. Begleitet und getragen wurde die Praxis der Schulgründungen und des Schullebens von reger literarischer und theoretischer Arbeit. Und gerade der Grenzboten IV 191S 1"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/157>, abgerufen am 24.08.2024.