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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Wie das Deutsche Reich die Niederlande verlor

Eins chaiserS bez hab wir tzü abkam,
Eins Pabst tzü viel auf erden.

klagt ein Dichter jener Tage, Peter Sucherwirt. Und an einer anderen Stelle
heißt es:


In Pehem") mawst der adalar,
Hat er icht schier gerekchet.*^)

Und mit Recht. Wer merkte damals noch etwas von dem kaiser¬
lichen Aar?

, Mit Ingrimm beobachtete man in Deutschland diese traurigen Verhältnisse,
sah man, wie sich Frankreich in den Vordergrund drängte und nicht nur in
Sachen des Schisma, sondern auch in weltlichen Dingen die Leitung für sich
beanspruchte. Eine Denkschrift, die damals am Heidelberger Hofe entstand,
gibt die Mißstimmung weiter Kreise gut wieder. Der Verfasser versteigt sich
sogar zu der Behauptung, daß bei dem Ausbruch der Kirchenspaltung der
französische König mit dem Gedanken gespielt habe, sich selbst die Tiara, dem
Sohne die Kaiserkrone zu verschaffen.

Mit Groll verfolgte man das dreiste Vorgehen der Franzosen, die sich
cillerwärts auf Deutschlands Kosten bereicherten, im Norden und im Süden.
Mit welchem Rechte wurde in Verdun das Lilienbanner gehißt, mit welchem
Recht an der ligurischen Küste in Genua? Sollten jetzt auch noch Brabant
und Limburg den Deutschen verloren gehen? Voller Mißtrauen hörte man,
daß König Wenzel in jener Zeit mit Frankreichs König in Reims zusammen¬
traf (1398).

Ein seltsames Bild: ein Trunkenbold und ein Geisteskranker begegneten sich.
Die Franzosen wahrten die Form. Vorsichtig waren Tage ausgesucht, an denen
König Karl der Sechste keine Anfälle zu befürchten hatte. Aber die Deutschen?
König Wenzel hatte auf den Zechgelagen den köstlichen französischen Weinen
so kräftig zugesprochen, daß er "vollen Bauches" schlief und zum Entsetzen der
Franzosen nicht geweckt werden konnte, als die Besprechung der Könige statt¬
finden sollte. Sie wurde an einem anderen Tage, nach einem Festmahl von
vierzig Gängen nachgeholt.

Wie deutlich wurde damals in Neinis der Unterschied der staatlichen Ver¬
hältnisse in Deutschland und Frankreich! In Deutschland der immer zunehmende
Verfall des Königtums, das vor der rücksichtslos sich ausbildenden Territorial¬
herrschaft stets weiter zurückgedrängt wird. In Frankreich trotz des Krieges
mit England auf Leben oder Tod. trotz der nie ganz aufhörenden inneren Un¬
ruhen die immer steigende Kraft der Monarchie. Führt auch der König nicht
selbst das Steuer, so fährt doch die Regierungsmaschine unverwandt auf das
Ziel los, das seit den Tagen Sugers von Saint-Denis den französischen
Staatsmännern vor Augen schwebt. In jenen Tagen, da ein Wahnsinniger




Böhmen.
Wohl gleich verreckt.
Wie das Deutsche Reich die Niederlande verlor

Eins chaiserS bez hab wir tzü abkam,
Eins Pabst tzü viel auf erden.

klagt ein Dichter jener Tage, Peter Sucherwirt. Und an einer anderen Stelle
heißt es:


In Pehem") mawst der adalar,
Hat er icht schier gerekchet.*^)

Und mit Recht. Wer merkte damals noch etwas von dem kaiser¬
lichen Aar?

, Mit Ingrimm beobachtete man in Deutschland diese traurigen Verhältnisse,
sah man, wie sich Frankreich in den Vordergrund drängte und nicht nur in
Sachen des Schisma, sondern auch in weltlichen Dingen die Leitung für sich
beanspruchte. Eine Denkschrift, die damals am Heidelberger Hofe entstand,
gibt die Mißstimmung weiter Kreise gut wieder. Der Verfasser versteigt sich
sogar zu der Behauptung, daß bei dem Ausbruch der Kirchenspaltung der
französische König mit dem Gedanken gespielt habe, sich selbst die Tiara, dem
Sohne die Kaiserkrone zu verschaffen.

Mit Groll verfolgte man das dreiste Vorgehen der Franzosen, die sich
cillerwärts auf Deutschlands Kosten bereicherten, im Norden und im Süden.
Mit welchem Rechte wurde in Verdun das Lilienbanner gehißt, mit welchem
Recht an der ligurischen Küste in Genua? Sollten jetzt auch noch Brabant
und Limburg den Deutschen verloren gehen? Voller Mißtrauen hörte man,
daß König Wenzel in jener Zeit mit Frankreichs König in Reims zusammen¬
traf (1398).

Ein seltsames Bild: ein Trunkenbold und ein Geisteskranker begegneten sich.
Die Franzosen wahrten die Form. Vorsichtig waren Tage ausgesucht, an denen
König Karl der Sechste keine Anfälle zu befürchten hatte. Aber die Deutschen?
König Wenzel hatte auf den Zechgelagen den köstlichen französischen Weinen
so kräftig zugesprochen, daß er „vollen Bauches" schlief und zum Entsetzen der
Franzosen nicht geweckt werden konnte, als die Besprechung der Könige statt¬
finden sollte. Sie wurde an einem anderen Tage, nach einem Festmahl von
vierzig Gängen nachgeholt.

Wie deutlich wurde damals in Neinis der Unterschied der staatlichen Ver¬
hältnisse in Deutschland und Frankreich! In Deutschland der immer zunehmende
Verfall des Königtums, das vor der rücksichtslos sich ausbildenden Territorial¬
herrschaft stets weiter zurückgedrängt wird. In Frankreich trotz des Krieges
mit England auf Leben oder Tod. trotz der nie ganz aufhörenden inneren Un¬
ruhen die immer steigende Kraft der Monarchie. Führt auch der König nicht
selbst das Steuer, so fährt doch die Regierungsmaschine unverwandt auf das
Ziel los, das seit den Tagen Sugers von Saint-Denis den französischen
Staatsmännern vor Augen schwebt. In jenen Tagen, da ein Wahnsinniger




Böhmen.
Wohl gleich verreckt.
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[0153] Wie das Deutsche Reich die Niederlande verlor Eins chaiserS bez hab wir tzü abkam, Eins Pabst tzü viel auf erden. klagt ein Dichter jener Tage, Peter Sucherwirt. Und an einer anderen Stelle heißt es: In Pehem") mawst der adalar, Hat er icht schier gerekchet.*^) Und mit Recht. Wer merkte damals noch etwas von dem kaiser¬ lichen Aar? , Mit Ingrimm beobachtete man in Deutschland diese traurigen Verhältnisse, sah man, wie sich Frankreich in den Vordergrund drängte und nicht nur in Sachen des Schisma, sondern auch in weltlichen Dingen die Leitung für sich beanspruchte. Eine Denkschrift, die damals am Heidelberger Hofe entstand, gibt die Mißstimmung weiter Kreise gut wieder. Der Verfasser versteigt sich sogar zu der Behauptung, daß bei dem Ausbruch der Kirchenspaltung der französische König mit dem Gedanken gespielt habe, sich selbst die Tiara, dem Sohne die Kaiserkrone zu verschaffen. Mit Groll verfolgte man das dreiste Vorgehen der Franzosen, die sich cillerwärts auf Deutschlands Kosten bereicherten, im Norden und im Süden. Mit welchem Rechte wurde in Verdun das Lilienbanner gehißt, mit welchem Recht an der ligurischen Küste in Genua? Sollten jetzt auch noch Brabant und Limburg den Deutschen verloren gehen? Voller Mißtrauen hörte man, daß König Wenzel in jener Zeit mit Frankreichs König in Reims zusammen¬ traf (1398). Ein seltsames Bild: ein Trunkenbold und ein Geisteskranker begegneten sich. Die Franzosen wahrten die Form. Vorsichtig waren Tage ausgesucht, an denen König Karl der Sechste keine Anfälle zu befürchten hatte. Aber die Deutschen? König Wenzel hatte auf den Zechgelagen den köstlichen französischen Weinen so kräftig zugesprochen, daß er „vollen Bauches" schlief und zum Entsetzen der Franzosen nicht geweckt werden konnte, als die Besprechung der Könige statt¬ finden sollte. Sie wurde an einem anderen Tage, nach einem Festmahl von vierzig Gängen nachgeholt. Wie deutlich wurde damals in Neinis der Unterschied der staatlichen Ver¬ hältnisse in Deutschland und Frankreich! In Deutschland der immer zunehmende Verfall des Königtums, das vor der rücksichtslos sich ausbildenden Territorial¬ herrschaft stets weiter zurückgedrängt wird. In Frankreich trotz des Krieges mit England auf Leben oder Tod. trotz der nie ganz aufhörenden inneren Un¬ ruhen die immer steigende Kraft der Monarchie. Führt auch der König nicht selbst das Steuer, so fährt doch die Regierungsmaschine unverwandt auf das Ziel los, das seit den Tagen Sugers von Saint-Denis den französischen Staatsmännern vor Augen schwebt. In jenen Tagen, da ein Wahnsinniger Böhmen. Wohl gleich verreckt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/153>, abgerufen am 22.07.2024.