Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die "Aktivisten" und die Sozialdemokratie Schwedens

In Anbetracht seiner Informationen aber kann man es dem Stockholmer
"Social-Demokraten" nicht verdenken, wenn er die Veröffentlichungen des Buches
von Wigsors "Världskriget och Världsfreden" (Der Weltkrieg und der Welt¬
frieden) mit Freuden begrüßt hat. Der Lunder Nationalökonom fucht in diesem
zweibändigen Werke Deutschlands Stellung zum Weltkrieg auf andere Weise
zu beleuchten, als es in den vielen Werken, die während des Krieges in Schweden
erschienen sind, und deren Autoren zu Deutschland hinneigen, geschah. Um zu
beweisen, daß Deutschland nicht unschuldig an dem Ausbruche des Krieges ist,
bringt er eine Anzahl deutscher Auslassungen, die zum Kriege aufmunterten.
Wigsors geht nicht immer sehr glücklich vor, wenn er beweisen will, wie der
Haß gegen die Feinde in dem deutschen Volke Wurzel gefaßt hat. Zum Beweise
bringt er unter anderem die nicht sehr geschmackvolle Äußerung eines deutschen sozial¬
demokratischen Witzblattes, in dem ein zur Front abfahrender Soldat sagt:
"Wenn ich wieder zurückkomme, Juste. darfst Du mir nichts anderes mehr
vorsetzen, als Poincaröschnitzel mit Nikolaussauce. Auf etwas anderes habe ich
keinen Appetit mehr." (I) Das sozialdemokratische Stockholmer Parteiblatt glaubt
bei der Besprechung des Buches nur allzugerne, daß die englischen Kulturträger
größere Mäßigung bei ihren Auslassungen zeigen, als die deutschen. (I)

Man kann nicht verlangen, daß alle Schweden während des Weltkrieges
politisch haben denken lernen; haben doch die meisten Deutschen erst in den
letzten vierzehn Monaten begriffen, was auswärtige Politik bedeutet. Mit welcher
Naivität man aber noch von mancher Seite die Politik in Schweden auffaßt,
zeigt die Tatsache, daß eine Anzahl Männer und Frauen in den russischen
Gefangenentransporten über Schweden eine Förderung der schwedisch-russischen
Annäherung sahen. Wir können die mangelnde logische Art zu argumentieren,
und die Naivität, von England das Heil zu erwarten, belächeln. Wir können
aber anderseits verstehen, daß Männer in Schweden durch Äußerung dieser
Meinung von tiefem Schmerze erfüllt werden. Sie sehen ihr Vaterland in
höchster Gefahr, wenn Politiker solcher Richtung entscheidenden Einfluß auf das
Volk gewinnen, wenn schwedische Männer so weit gehen, das Schicksal des
demokratischen England und Frankreich für wichtiger zu halten, als das ihres
eigenen Vaterlandes. Noch heute gilt für einen Teil der Liberalen und Sozial¬
demokraten das Paradoxon: Schwedens auswärtige Politik gipfele in der Idee,
keine auswärtige Politik zu haben. Dieser Gedankengang erklärt auch die
Gleichgültigkeit gegenüber den; Verteidigungswesen, die lange Zeit die schwedische
Politik beherrschte. Verschwommenes Gefühl nimmt vielfach die Stelle ein, wo
kraftvolle Energie das Schicksal des Vaterlandes beeinflussen sollte.

Es kann nicht wundernehmen, daß solche Unkenntnis politischer Dinge
und solcher Dogmatismus Gegnerschaft im eigenen Lager hervorruft und
Andersdenkende zur genauen Formulierung ihrer Ansichten führt. Es mehren sich
die sozialdemokratischen Stimmen, die gegen die Versuche Brantings und seiner
Presse, die öffentliche Meinung zu vergewaltigen, auftreten. So veröffentlicht


1"
Die „Aktivisten" und die Sozialdemokratie Schwedens

In Anbetracht seiner Informationen aber kann man es dem Stockholmer
„Social-Demokraten" nicht verdenken, wenn er die Veröffentlichungen des Buches
von Wigsors „Världskriget och Världsfreden" (Der Weltkrieg und der Welt¬
frieden) mit Freuden begrüßt hat. Der Lunder Nationalökonom fucht in diesem
zweibändigen Werke Deutschlands Stellung zum Weltkrieg auf andere Weise
zu beleuchten, als es in den vielen Werken, die während des Krieges in Schweden
erschienen sind, und deren Autoren zu Deutschland hinneigen, geschah. Um zu
beweisen, daß Deutschland nicht unschuldig an dem Ausbruche des Krieges ist,
bringt er eine Anzahl deutscher Auslassungen, die zum Kriege aufmunterten.
Wigsors geht nicht immer sehr glücklich vor, wenn er beweisen will, wie der
Haß gegen die Feinde in dem deutschen Volke Wurzel gefaßt hat. Zum Beweise
bringt er unter anderem die nicht sehr geschmackvolle Äußerung eines deutschen sozial¬
demokratischen Witzblattes, in dem ein zur Front abfahrender Soldat sagt:
„Wenn ich wieder zurückkomme, Juste. darfst Du mir nichts anderes mehr
vorsetzen, als Poincaröschnitzel mit Nikolaussauce. Auf etwas anderes habe ich
keinen Appetit mehr." (I) Das sozialdemokratische Stockholmer Parteiblatt glaubt
bei der Besprechung des Buches nur allzugerne, daß die englischen Kulturträger
größere Mäßigung bei ihren Auslassungen zeigen, als die deutschen. (I)

Man kann nicht verlangen, daß alle Schweden während des Weltkrieges
politisch haben denken lernen; haben doch die meisten Deutschen erst in den
letzten vierzehn Monaten begriffen, was auswärtige Politik bedeutet. Mit welcher
Naivität man aber noch von mancher Seite die Politik in Schweden auffaßt,
zeigt die Tatsache, daß eine Anzahl Männer und Frauen in den russischen
Gefangenentransporten über Schweden eine Förderung der schwedisch-russischen
Annäherung sahen. Wir können die mangelnde logische Art zu argumentieren,
und die Naivität, von England das Heil zu erwarten, belächeln. Wir können
aber anderseits verstehen, daß Männer in Schweden durch Äußerung dieser
Meinung von tiefem Schmerze erfüllt werden. Sie sehen ihr Vaterland in
höchster Gefahr, wenn Politiker solcher Richtung entscheidenden Einfluß auf das
Volk gewinnen, wenn schwedische Männer so weit gehen, das Schicksal des
demokratischen England und Frankreich für wichtiger zu halten, als das ihres
eigenen Vaterlandes. Noch heute gilt für einen Teil der Liberalen und Sozial¬
demokraten das Paradoxon: Schwedens auswärtige Politik gipfele in der Idee,
keine auswärtige Politik zu haben. Dieser Gedankengang erklärt auch die
Gleichgültigkeit gegenüber den; Verteidigungswesen, die lange Zeit die schwedische
Politik beherrschte. Verschwommenes Gefühl nimmt vielfach die Stelle ein, wo
kraftvolle Energie das Schicksal des Vaterlandes beeinflussen sollte.

Es kann nicht wundernehmen, daß solche Unkenntnis politischer Dinge
und solcher Dogmatismus Gegnerschaft im eigenen Lager hervorruft und
Andersdenkende zur genauen Formulierung ihrer Ansichten führt. Es mehren sich
die sozialdemokratischen Stimmen, die gegen die Versuche Brantings und seiner
Presse, die öffentliche Meinung zu vergewaltigen, auftreten. So veröffentlicht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0015" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324424"/>
          <fw type="header" place="top"> Die &#x201E;Aktivisten" und die Sozialdemokratie Schwedens</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_16"> In Anbetracht seiner Informationen aber kann man es dem Stockholmer<lb/>
&#x201E;Social-Demokraten" nicht verdenken, wenn er die Veröffentlichungen des Buches<lb/>
von Wigsors &#x201E;Världskriget och Världsfreden" (Der Weltkrieg und der Welt¬<lb/>
frieden) mit Freuden begrüßt hat. Der Lunder Nationalökonom fucht in diesem<lb/>
zweibändigen Werke Deutschlands Stellung zum Weltkrieg auf andere Weise<lb/>
zu beleuchten, als es in den vielen Werken, die während des Krieges in Schweden<lb/>
erschienen sind, und deren Autoren zu Deutschland hinneigen, geschah. Um zu<lb/>
beweisen, daß Deutschland nicht unschuldig an dem Ausbruche des Krieges ist,<lb/>
bringt er eine Anzahl deutscher Auslassungen, die zum Kriege aufmunterten.<lb/>
Wigsors geht nicht immer sehr glücklich vor, wenn er beweisen will, wie der<lb/>
Haß gegen die Feinde in dem deutschen Volke Wurzel gefaßt hat. Zum Beweise<lb/>
bringt er unter anderem die nicht sehr geschmackvolle Äußerung eines deutschen sozial¬<lb/>
demokratischen Witzblattes, in dem ein zur Front abfahrender Soldat sagt:<lb/>
&#x201E;Wenn ich wieder zurückkomme, Juste. darfst Du mir nichts anderes mehr<lb/>
vorsetzen, als Poincaröschnitzel mit Nikolaussauce. Auf etwas anderes habe ich<lb/>
keinen Appetit mehr." (I) Das sozialdemokratische Stockholmer Parteiblatt glaubt<lb/>
bei der Besprechung des Buches nur allzugerne, daß die englischen Kulturträger<lb/>
größere Mäßigung bei ihren Auslassungen zeigen, als die deutschen. (I)</p><lb/>
          <p xml:id="ID_17"> Man kann nicht verlangen, daß alle Schweden während des Weltkrieges<lb/>
politisch haben denken lernen; haben doch die meisten Deutschen erst in den<lb/>
letzten vierzehn Monaten begriffen, was auswärtige Politik bedeutet. Mit welcher<lb/>
Naivität man aber noch von mancher Seite die Politik in Schweden auffaßt,<lb/>
zeigt die Tatsache, daß eine Anzahl Männer und Frauen in den russischen<lb/>
Gefangenentransporten über Schweden eine Förderung der schwedisch-russischen<lb/>
Annäherung sahen. Wir können die mangelnde logische Art zu argumentieren,<lb/>
und die Naivität, von England das Heil zu erwarten, belächeln. Wir können<lb/>
aber anderseits verstehen, daß Männer in Schweden durch Äußerung dieser<lb/>
Meinung von tiefem Schmerze erfüllt werden. Sie sehen ihr Vaterland in<lb/>
höchster Gefahr, wenn Politiker solcher Richtung entscheidenden Einfluß auf das<lb/>
Volk gewinnen, wenn schwedische Männer so weit gehen, das Schicksal des<lb/>
demokratischen England und Frankreich für wichtiger zu halten, als das ihres<lb/>
eigenen Vaterlandes. Noch heute gilt für einen Teil der Liberalen und Sozial¬<lb/>
demokraten das Paradoxon: Schwedens auswärtige Politik gipfele in der Idee,<lb/>
keine auswärtige Politik zu haben. Dieser Gedankengang erklärt auch die<lb/>
Gleichgültigkeit gegenüber den; Verteidigungswesen, die lange Zeit die schwedische<lb/>
Politik beherrschte. Verschwommenes Gefühl nimmt vielfach die Stelle ein, wo<lb/>
kraftvolle Energie das Schicksal des Vaterlandes beeinflussen sollte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_18" next="#ID_19"> Es kann nicht wundernehmen, daß solche Unkenntnis politischer Dinge<lb/>
und solcher Dogmatismus Gegnerschaft im eigenen Lager hervorruft und<lb/>
Andersdenkende zur genauen Formulierung ihrer Ansichten führt. Es mehren sich<lb/>
die sozialdemokratischen Stimmen, die gegen die Versuche Brantings und seiner<lb/>
Presse, die öffentliche Meinung zu vergewaltigen, auftreten.  So veröffentlicht</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"></fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0015] Die „Aktivisten" und die Sozialdemokratie Schwedens In Anbetracht seiner Informationen aber kann man es dem Stockholmer „Social-Demokraten" nicht verdenken, wenn er die Veröffentlichungen des Buches von Wigsors „Världskriget och Världsfreden" (Der Weltkrieg und der Welt¬ frieden) mit Freuden begrüßt hat. Der Lunder Nationalökonom fucht in diesem zweibändigen Werke Deutschlands Stellung zum Weltkrieg auf andere Weise zu beleuchten, als es in den vielen Werken, die während des Krieges in Schweden erschienen sind, und deren Autoren zu Deutschland hinneigen, geschah. Um zu beweisen, daß Deutschland nicht unschuldig an dem Ausbruche des Krieges ist, bringt er eine Anzahl deutscher Auslassungen, die zum Kriege aufmunterten. Wigsors geht nicht immer sehr glücklich vor, wenn er beweisen will, wie der Haß gegen die Feinde in dem deutschen Volke Wurzel gefaßt hat. Zum Beweise bringt er unter anderem die nicht sehr geschmackvolle Äußerung eines deutschen sozial¬ demokratischen Witzblattes, in dem ein zur Front abfahrender Soldat sagt: „Wenn ich wieder zurückkomme, Juste. darfst Du mir nichts anderes mehr vorsetzen, als Poincaröschnitzel mit Nikolaussauce. Auf etwas anderes habe ich keinen Appetit mehr." (I) Das sozialdemokratische Stockholmer Parteiblatt glaubt bei der Besprechung des Buches nur allzugerne, daß die englischen Kulturträger größere Mäßigung bei ihren Auslassungen zeigen, als die deutschen. (I) Man kann nicht verlangen, daß alle Schweden während des Weltkrieges politisch haben denken lernen; haben doch die meisten Deutschen erst in den letzten vierzehn Monaten begriffen, was auswärtige Politik bedeutet. Mit welcher Naivität man aber noch von mancher Seite die Politik in Schweden auffaßt, zeigt die Tatsache, daß eine Anzahl Männer und Frauen in den russischen Gefangenentransporten über Schweden eine Förderung der schwedisch-russischen Annäherung sahen. Wir können die mangelnde logische Art zu argumentieren, und die Naivität, von England das Heil zu erwarten, belächeln. Wir können aber anderseits verstehen, daß Männer in Schweden durch Äußerung dieser Meinung von tiefem Schmerze erfüllt werden. Sie sehen ihr Vaterland in höchster Gefahr, wenn Politiker solcher Richtung entscheidenden Einfluß auf das Volk gewinnen, wenn schwedische Männer so weit gehen, das Schicksal des demokratischen England und Frankreich für wichtiger zu halten, als das ihres eigenen Vaterlandes. Noch heute gilt für einen Teil der Liberalen und Sozial¬ demokraten das Paradoxon: Schwedens auswärtige Politik gipfele in der Idee, keine auswärtige Politik zu haben. Dieser Gedankengang erklärt auch die Gleichgültigkeit gegenüber den; Verteidigungswesen, die lange Zeit die schwedische Politik beherrschte. Verschwommenes Gefühl nimmt vielfach die Stelle ein, wo kraftvolle Energie das Schicksal des Vaterlandes beeinflussen sollte. Es kann nicht wundernehmen, daß solche Unkenntnis politischer Dinge und solcher Dogmatismus Gegnerschaft im eigenen Lager hervorruft und Andersdenkende zur genauen Formulierung ihrer Ansichten führt. Es mehren sich die sozialdemokratischen Stimmen, die gegen die Versuche Brantings und seiner Presse, die öffentliche Meinung zu vergewaltigen, auftreten. So veröffentlicht 1»

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/15
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/15>, abgerufen am 29.12.2024.