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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Wie das Deutsche Reich die Niederlande verlor
Giro Lartellieri von

le geographische Lage bedingt das Schicksal der Niederlande in
der Geschichte. Zwischen Frankreich und Deutschland, gegenüber
von England gelegen, haben die Niederlande es dauernd mit den
drei Mächten zu tun, sie sind der Zankapfel dieser Reiche. England,
von jeher wirtschaftlich stark beteiligt, trat mit politischen Ansprüchen
erst später auf. Deutschland und Frankreich hingegen rangen um die Nieder¬
lande, sobald das Karolingerreich zerfiel.

Das Zwischenreich, das der Vertrag von Verdun im Jahre 843 zwischen Ost- und
Weftfranzien schuf, dieser lange Streifen von der Nordsee bis an das Mittelmeer, von
der Scheide im Westen bis östlich an den Rhein, hatte keine Lebenskraft, da es
der geographischen Grenzen entbehrte. Als der Herr des nördlichen Teiles,
König Lothar der Zweite, dem das Gebiet später den Namen endlich, im
Jahre 869 starb, stürzten sich sofort auf die lockende Beute König Ludwig der
Deutsche und der westfränkische Bruder, Karl der Kahle: Lotharingien wurde
geteilt(imJahre870). Doch bereits nach zehnJahren warf derVertrag vonNibemont
den von Meersen wieder um. Ganz Lotharingien kam jetzt an Ostfranzien.
Indem bereits der Vertrag von Verdun ohne Rücksicht auf Sprache und
Nationalität die Schelde als Grenze genommen und von Gent ab diese nordwärts
weitergezogen hatte, gehörte außer dem romanischen Artois (Utrecht) der größte
Teil des vorwiegend germanischen Flanderns*) zu Weftfranzien; gehörten zu
Ostfranzien: das östliche Flandern**) -- die Vier Andachten (les ()uatre
^stisi-8). das Waesland, die Herrschaft Aelst (Alost) --. Seeland, Hol¬
land, Friesland, Limburg, Antwerpen; aber außer diesen germanischen Gebieten
auch romanische wie der Hsnnegau, Namur (Namen) und Lüttich, gemischte
wie Brabant und Luxemburg.

Jahrhunderte lang, bis in die Zeit der Renaissance, blieben die Be¬
stimmungen des Vertrages von Verdun und der darauffolgenden Teilungspläne
in Kraft. Wie kam es, daß Deutschland seine Nordwestmark verlor?
Wie kam es, daß die Niederlande sich wie von Deutschland so von Frankreich




*) Die "Grafschaft" Flandern.
Neichsflcmdern, die "Herrschaft" Flandern,


Wie das Deutsche Reich die Niederlande verlor
Giro Lartellieri von

le geographische Lage bedingt das Schicksal der Niederlande in
der Geschichte. Zwischen Frankreich und Deutschland, gegenüber
von England gelegen, haben die Niederlande es dauernd mit den
drei Mächten zu tun, sie sind der Zankapfel dieser Reiche. England,
von jeher wirtschaftlich stark beteiligt, trat mit politischen Ansprüchen
erst später auf. Deutschland und Frankreich hingegen rangen um die Nieder¬
lande, sobald das Karolingerreich zerfiel.

Das Zwischenreich, das der Vertrag von Verdun im Jahre 843 zwischen Ost- und
Weftfranzien schuf, dieser lange Streifen von der Nordsee bis an das Mittelmeer, von
der Scheide im Westen bis östlich an den Rhein, hatte keine Lebenskraft, da es
der geographischen Grenzen entbehrte. Als der Herr des nördlichen Teiles,
König Lothar der Zweite, dem das Gebiet später den Namen endlich, im
Jahre 869 starb, stürzten sich sofort auf die lockende Beute König Ludwig der
Deutsche und der westfränkische Bruder, Karl der Kahle: Lotharingien wurde
geteilt(imJahre870). Doch bereits nach zehnJahren warf derVertrag vonNibemont
den von Meersen wieder um. Ganz Lotharingien kam jetzt an Ostfranzien.
Indem bereits der Vertrag von Verdun ohne Rücksicht auf Sprache und
Nationalität die Schelde als Grenze genommen und von Gent ab diese nordwärts
weitergezogen hatte, gehörte außer dem romanischen Artois (Utrecht) der größte
Teil des vorwiegend germanischen Flanderns*) zu Weftfranzien; gehörten zu
Ostfranzien: das östliche Flandern**) — die Vier Andachten (les ()uatre
^stisi-8). das Waesland, die Herrschaft Aelst (Alost) —. Seeland, Hol¬
land, Friesland, Limburg, Antwerpen; aber außer diesen germanischen Gebieten
auch romanische wie der Hsnnegau, Namur (Namen) und Lüttich, gemischte
wie Brabant und Luxemburg.

Jahrhunderte lang, bis in die Zeit der Renaissance, blieben die Be¬
stimmungen des Vertrages von Verdun und der darauffolgenden Teilungspläne
in Kraft. Wie kam es, daß Deutschland seine Nordwestmark verlor?
Wie kam es, daß die Niederlande sich wie von Deutschland so von Frankreich




*) Die „Grafschaft" Flandern.
Neichsflcmdern, die „Herrschaft" Flandern,
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[0146] [Abbildung] Wie das Deutsche Reich die Niederlande verlor Giro Lartellieri von le geographische Lage bedingt das Schicksal der Niederlande in der Geschichte. Zwischen Frankreich und Deutschland, gegenüber von England gelegen, haben die Niederlande es dauernd mit den drei Mächten zu tun, sie sind der Zankapfel dieser Reiche. England, von jeher wirtschaftlich stark beteiligt, trat mit politischen Ansprüchen erst später auf. Deutschland und Frankreich hingegen rangen um die Nieder¬ lande, sobald das Karolingerreich zerfiel. Das Zwischenreich, das der Vertrag von Verdun im Jahre 843 zwischen Ost- und Weftfranzien schuf, dieser lange Streifen von der Nordsee bis an das Mittelmeer, von der Scheide im Westen bis östlich an den Rhein, hatte keine Lebenskraft, da es der geographischen Grenzen entbehrte. Als der Herr des nördlichen Teiles, König Lothar der Zweite, dem das Gebiet später den Namen endlich, im Jahre 869 starb, stürzten sich sofort auf die lockende Beute König Ludwig der Deutsche und der westfränkische Bruder, Karl der Kahle: Lotharingien wurde geteilt(imJahre870). Doch bereits nach zehnJahren warf derVertrag vonNibemont den von Meersen wieder um. Ganz Lotharingien kam jetzt an Ostfranzien. Indem bereits der Vertrag von Verdun ohne Rücksicht auf Sprache und Nationalität die Schelde als Grenze genommen und von Gent ab diese nordwärts weitergezogen hatte, gehörte außer dem romanischen Artois (Utrecht) der größte Teil des vorwiegend germanischen Flanderns*) zu Weftfranzien; gehörten zu Ostfranzien: das östliche Flandern**) — die Vier Andachten (les ()uatre ^stisi-8). das Waesland, die Herrschaft Aelst (Alost) —. Seeland, Hol¬ land, Friesland, Limburg, Antwerpen; aber außer diesen germanischen Gebieten auch romanische wie der Hsnnegau, Namur (Namen) und Lüttich, gemischte wie Brabant und Luxemburg. Jahrhunderte lang, bis in die Zeit der Renaissance, blieben die Be¬ stimmungen des Vertrages von Verdun und der darauffolgenden Teilungspläne in Kraft. Wie kam es, daß Deutschland seine Nordwestmark verlor? Wie kam es, daß die Niederlande sich wie von Deutschland so von Frankreich *) Die „Grafschaft" Flandern. Neichsflcmdern, die „Herrschaft" Flandern,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/146>, abgerufen am 22.07.2024.