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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Der Ministerwechsel in Rußland

vollen Köder. Der Staat werde, so erklärte er, für die arbeitslosen Arbeiter
sorgen, er werde vor allem die aus dem Kriege zurückkehrenden invaliden
Arbeiter sicherstellen. Dieses Aufwärmen von Ideen, die zur Zeit eines Gapon
praktisch zu verwirklichen versucht wurden, ist bestimmt, auch in diese oppo¬
sitionellsten Schichten einen Keil zu treiben.

Alle GeschickiielMt des neuen Mannes steht indessen den Tatsachen des
gegenwärtigen Lebens gegenüber, die zu überwinden selbst einem anderen Manne
Kls Chwüstow schwierig sein dürsten. Das russische Heer ist zu einer großen
Aktion unfähig, im Innern herrschen tausenderlei Nöte, der Lebensmittelmarkt,
die Versorgung mit Heizmaterial, mit Zucker, mit den sonstigen Gegenständen
der notwendigsten Versorgung des täglichen Lebens ist in einem vollkommenen
Chaos, Flüchtlinge tiberschwemmen das von einer Not in die andere geworfene
platte Land. Die Finanzen liegen hoffnungslos darnieder. Alles, was Herr
Bark in London erreicht hat, sind Palliative. In der äußeren Politik ent¬
täuscht, ohne eigentliche Kricgsziele, ohne leitende große Ideen versucht man
schlecht von einem Tag zum anderen zu sorgen. Das Land hat keinen geistigen
Mittelpunkt, kein Vertrauen zur Negierung, Patrioten wie Peter Struve predigen
zwar Einigkeit des nationalen Geistes -- ohne aber einen Weg anzugeben, auf
dem sie erreicht werden soll.

Es gibt eine Fabel von Krylow, die schildert, wie ein Gefährt von
mehreren Tieren weiterbiewegt werden soll, die ganz verschiedene Eigenschaften
und Fortbewegungsmöglchkeiten haben: vom Schwan, der in die Lüfte will,
vom Krebs, der zurückbremst und vom Hecht, der vom trockenen ins feuchte
Element hinabstrebt. Das Ergebnis ihrer Anstrengungen ist, daß nach allen
Bemühungen das Gefährt doch auf derselben Stelle bleibt. "Woh i n/nje
kam", (der Wagen ist auch jetzt noch dort, wo er zu Anfang war) ruft der
Dichter am Schlüsse seiner Fabel.

Diese kleine Fabel ist nicht nur eilt gutes Abbild des Zusammenwirkens
der gegen Deutschland verbündeten Mächte, sie charakterisiert auch treffend die
gegenwärtige innere Lage in Nußland, die soviel einander entgegengesetzte und
widerstreitende Joeen und Maßregeln vergeblich zu retten suchen.

V/os j riMjv tam, das wird auch das Ergebnis der Bemühungen des
neuen Ministers sein.




Der Ministerwechsel in Rußland

vollen Köder. Der Staat werde, so erklärte er, für die arbeitslosen Arbeiter
sorgen, er werde vor allem die aus dem Kriege zurückkehrenden invaliden
Arbeiter sicherstellen. Dieses Aufwärmen von Ideen, die zur Zeit eines Gapon
praktisch zu verwirklichen versucht wurden, ist bestimmt, auch in diese oppo¬
sitionellsten Schichten einen Keil zu treiben.

Alle GeschickiielMt des neuen Mannes steht indessen den Tatsachen des
gegenwärtigen Lebens gegenüber, die zu überwinden selbst einem anderen Manne
Kls Chwüstow schwierig sein dürsten. Das russische Heer ist zu einer großen
Aktion unfähig, im Innern herrschen tausenderlei Nöte, der Lebensmittelmarkt,
die Versorgung mit Heizmaterial, mit Zucker, mit den sonstigen Gegenständen
der notwendigsten Versorgung des täglichen Lebens ist in einem vollkommenen
Chaos, Flüchtlinge tiberschwemmen das von einer Not in die andere geworfene
platte Land. Die Finanzen liegen hoffnungslos darnieder. Alles, was Herr
Bark in London erreicht hat, sind Palliative. In der äußeren Politik ent¬
täuscht, ohne eigentliche Kricgsziele, ohne leitende große Ideen versucht man
schlecht von einem Tag zum anderen zu sorgen. Das Land hat keinen geistigen
Mittelpunkt, kein Vertrauen zur Negierung, Patrioten wie Peter Struve predigen
zwar Einigkeit des nationalen Geistes — ohne aber einen Weg anzugeben, auf
dem sie erreicht werden soll.

Es gibt eine Fabel von Krylow, die schildert, wie ein Gefährt von
mehreren Tieren weiterbiewegt werden soll, die ganz verschiedene Eigenschaften
und Fortbewegungsmöglchkeiten haben: vom Schwan, der in die Lüfte will,
vom Krebs, der zurückbremst und vom Hecht, der vom trockenen ins feuchte
Element hinabstrebt. Das Ergebnis ihrer Anstrengungen ist, daß nach allen
Bemühungen das Gefährt doch auf derselben Stelle bleibt. „Woh i n/nje
kam", (der Wagen ist auch jetzt noch dort, wo er zu Anfang war) ruft der
Dichter am Schlüsse seiner Fabel.

Diese kleine Fabel ist nicht nur eilt gutes Abbild des Zusammenwirkens
der gegen Deutschland verbündeten Mächte, sie charakterisiert auch treffend die
gegenwärtige innere Lage in Nußland, die soviel einander entgegengesetzte und
widerstreitende Joeen und Maßregeln vergeblich zu retten suchen.

V/os j riMjv tam, das wird auch das Ergebnis der Bemühungen des
neuen Ministers sein.




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[0145] Der Ministerwechsel in Rußland vollen Köder. Der Staat werde, so erklärte er, für die arbeitslosen Arbeiter sorgen, er werde vor allem die aus dem Kriege zurückkehrenden invaliden Arbeiter sicherstellen. Dieses Aufwärmen von Ideen, die zur Zeit eines Gapon praktisch zu verwirklichen versucht wurden, ist bestimmt, auch in diese oppo¬ sitionellsten Schichten einen Keil zu treiben. Alle GeschickiielMt des neuen Mannes steht indessen den Tatsachen des gegenwärtigen Lebens gegenüber, die zu überwinden selbst einem anderen Manne Kls Chwüstow schwierig sein dürsten. Das russische Heer ist zu einer großen Aktion unfähig, im Innern herrschen tausenderlei Nöte, der Lebensmittelmarkt, die Versorgung mit Heizmaterial, mit Zucker, mit den sonstigen Gegenständen der notwendigsten Versorgung des täglichen Lebens ist in einem vollkommenen Chaos, Flüchtlinge tiberschwemmen das von einer Not in die andere geworfene platte Land. Die Finanzen liegen hoffnungslos darnieder. Alles, was Herr Bark in London erreicht hat, sind Palliative. In der äußeren Politik ent¬ täuscht, ohne eigentliche Kricgsziele, ohne leitende große Ideen versucht man schlecht von einem Tag zum anderen zu sorgen. Das Land hat keinen geistigen Mittelpunkt, kein Vertrauen zur Negierung, Patrioten wie Peter Struve predigen zwar Einigkeit des nationalen Geistes — ohne aber einen Weg anzugeben, auf dem sie erreicht werden soll. Es gibt eine Fabel von Krylow, die schildert, wie ein Gefährt von mehreren Tieren weiterbiewegt werden soll, die ganz verschiedene Eigenschaften und Fortbewegungsmöglchkeiten haben: vom Schwan, der in die Lüfte will, vom Krebs, der zurückbremst und vom Hecht, der vom trockenen ins feuchte Element hinabstrebt. Das Ergebnis ihrer Anstrengungen ist, daß nach allen Bemühungen das Gefährt doch auf derselben Stelle bleibt. „Woh i n/nje kam", (der Wagen ist auch jetzt noch dort, wo er zu Anfang war) ruft der Dichter am Schlüsse seiner Fabel. Diese kleine Fabel ist nicht nur eilt gutes Abbild des Zusammenwirkens der gegen Deutschland verbündeten Mächte, sie charakterisiert auch treffend die gegenwärtige innere Lage in Nußland, die soviel einander entgegengesetzte und widerstreitende Joeen und Maßregeln vergeblich zu retten suchen. V/os j riMjv tam, das wird auch das Ergebnis der Bemühungen des neuen Ministers sein.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/145>, abgerufen am 22.07.2024.