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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes

Gründen die Behauptung verfechten: je größer ein Ereignis in historischem
Betracht ist, desto weiter reichen seine geschichtlichen Wurzeln, desto mehr bedeutet
die Beschränkung des Blickes auf das uächstvoraufgegangene (Verwechslung
von Ursprung und Veranlassung) eine Quelle gefährlicher historischer Täuschungen.

Ich greife einige Beispiele heraus: die große französische Revolution kann
unmöglich verstanden werden, ohne das; der neuzeitlich-subjektivistische Rationa-
lismus Descartes', die Wendung zum Kapitalismus schon vor der Renaissance,
die Zersetzung des Schichtnngsprinzips im Zeitalter der Reformation mit¬
hinzugezogen würden, lauter Ereignisse und Prozesse also, die um mehrere Jahr¬
hunderte vorausgingen. Die Völkerwanderung sehen wir im Zusammenhang
des niedergehenden Altertums und sind damit genötigt, noch größere Zeiträume
zu umfassen, um den Wurzeln dieses Ereignisses in seiner welthistorischen
Wirksamkeit nachzugehen. Niemand von uns weiß heute schon, welchen Größen¬
rang dieser Krieg im Gang der Geschichte geltend machen wird. Gerade
wenn wir aber glauben, daß es ein hoher sein wird, dann ist es durchaus
verfehlt, seine letzten Ursachen so überaus wichtig zu nehmen und ausdrücklich
zu behaupten, daß gerade die Zeit seit 1861 bis zur Gegenwart für uns
Preußen und Deutsche alles andere an Bedeutung übertreffe, was sich in der
Weltgeschichte ereignet habe. Und in der Tat wird meine Auffassung bereits
durch die trüben Erfahrungen der Stunde bestätigt. Ich wähle ein mir per¬
sönlich nahestehendes Beispiel. Nicht einmal die nunmehr geradezu bekämpfte
bisherige gleichmäßigere Behandlung des geschichtlichen Stoffes hat es ver¬
hindern können, daß dem modernen Deutschen das notdürftigste Verständnis
für das Problem der baltischen Ostseeprovinzen, das im Friedensschluß mit
Rußland in jedem Fall aktuell werden wird, fehlt und ihm heute erst mühsam
eingeimpft werden muß. In der Tat wird man nicht nur über den über¬
betonten Abschnitt seit 1796, sondern auch über das in den künftigen Abi-
turien privilegierte Gebiet seit dem siebzehnten Jahrhundert noch um ein gutes Stück
zurückgehen müssen, um dieses Verständnis zu gewinnen. Liegt also wirklich
ein Gegenwartsinteresse vor, daß unsere Schüler von dem Wirken einer deutschen
Hanse, von der ungeheueren mittelalterlichen Alternative östlicher oder südlicher
Machtpolitik, von dem doch sozusagen auch für Preußens Geschichte und das
Verständnis des märkischen Feudalismus grundlegenden Kulturfaktor der
Ritterorden noch weniger künftighin erfahren, als es -- Gott seis geklagt! --
bisher geschah? Ganz im Gegenteil: das monomanische Hinstarren auf die
jüngste Vergangenheit mit ihrer wahrscheinlich ganz episodischen dynastischen
Freundschaft zwischen Hohenzollern und Romanows erzeugt jenes optimistisch¬
sentimentale Nichtbeachten der unheimlich-überzeitlichen Familienähnlichkeit
zwischen Iwan dem Schrecklichen, dem Schänder Livlcmds, und Nikolai
Nikolajewitsch, dem Schänder Ostpreußens. -- Oder die vlamische Frage, die
vielen von uns heute ebenso vollkommenes Neuland ist wie das Problem des
ctommium Maris kÄltiei? Was ist für ihr Verständnis gewonnen mit der


Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes

Gründen die Behauptung verfechten: je größer ein Ereignis in historischem
Betracht ist, desto weiter reichen seine geschichtlichen Wurzeln, desto mehr bedeutet
die Beschränkung des Blickes auf das uächstvoraufgegangene (Verwechslung
von Ursprung und Veranlassung) eine Quelle gefährlicher historischer Täuschungen.

Ich greife einige Beispiele heraus: die große französische Revolution kann
unmöglich verstanden werden, ohne das; der neuzeitlich-subjektivistische Rationa-
lismus Descartes', die Wendung zum Kapitalismus schon vor der Renaissance,
die Zersetzung des Schichtnngsprinzips im Zeitalter der Reformation mit¬
hinzugezogen würden, lauter Ereignisse und Prozesse also, die um mehrere Jahr¬
hunderte vorausgingen. Die Völkerwanderung sehen wir im Zusammenhang
des niedergehenden Altertums und sind damit genötigt, noch größere Zeiträume
zu umfassen, um den Wurzeln dieses Ereignisses in seiner welthistorischen
Wirksamkeit nachzugehen. Niemand von uns weiß heute schon, welchen Größen¬
rang dieser Krieg im Gang der Geschichte geltend machen wird. Gerade
wenn wir aber glauben, daß es ein hoher sein wird, dann ist es durchaus
verfehlt, seine letzten Ursachen so überaus wichtig zu nehmen und ausdrücklich
zu behaupten, daß gerade die Zeit seit 1861 bis zur Gegenwart für uns
Preußen und Deutsche alles andere an Bedeutung übertreffe, was sich in der
Weltgeschichte ereignet habe. Und in der Tat wird meine Auffassung bereits
durch die trüben Erfahrungen der Stunde bestätigt. Ich wähle ein mir per¬
sönlich nahestehendes Beispiel. Nicht einmal die nunmehr geradezu bekämpfte
bisherige gleichmäßigere Behandlung des geschichtlichen Stoffes hat es ver¬
hindern können, daß dem modernen Deutschen das notdürftigste Verständnis
für das Problem der baltischen Ostseeprovinzen, das im Friedensschluß mit
Rußland in jedem Fall aktuell werden wird, fehlt und ihm heute erst mühsam
eingeimpft werden muß. In der Tat wird man nicht nur über den über¬
betonten Abschnitt seit 1796, sondern auch über das in den künftigen Abi-
turien privilegierte Gebiet seit dem siebzehnten Jahrhundert noch um ein gutes Stück
zurückgehen müssen, um dieses Verständnis zu gewinnen. Liegt also wirklich
ein Gegenwartsinteresse vor, daß unsere Schüler von dem Wirken einer deutschen
Hanse, von der ungeheueren mittelalterlichen Alternative östlicher oder südlicher
Machtpolitik, von dem doch sozusagen auch für Preußens Geschichte und das
Verständnis des märkischen Feudalismus grundlegenden Kulturfaktor der
Ritterorden noch weniger künftighin erfahren, als es — Gott seis geklagt! —
bisher geschah? Ganz im Gegenteil: das monomanische Hinstarren auf die
jüngste Vergangenheit mit ihrer wahrscheinlich ganz episodischen dynastischen
Freundschaft zwischen Hohenzollern und Romanows erzeugt jenes optimistisch¬
sentimentale Nichtbeachten der unheimlich-überzeitlichen Familienähnlichkeit
zwischen Iwan dem Schrecklichen, dem Schänder Livlcmds, und Nikolai
Nikolajewitsch, dem Schänder Ostpreußens. — Oder die vlamische Frage, die
vielen von uns heute ebenso vollkommenes Neuland ist wie das Problem des
ctommium Maris kÄltiei? Was ist für ihr Verständnis gewonnen mit der


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[0117] Zur Neuverteilung des geschichtlichen Lehrstoffes Gründen die Behauptung verfechten: je größer ein Ereignis in historischem Betracht ist, desto weiter reichen seine geschichtlichen Wurzeln, desto mehr bedeutet die Beschränkung des Blickes auf das uächstvoraufgegangene (Verwechslung von Ursprung und Veranlassung) eine Quelle gefährlicher historischer Täuschungen. Ich greife einige Beispiele heraus: die große französische Revolution kann unmöglich verstanden werden, ohne das; der neuzeitlich-subjektivistische Rationa- lismus Descartes', die Wendung zum Kapitalismus schon vor der Renaissance, die Zersetzung des Schichtnngsprinzips im Zeitalter der Reformation mit¬ hinzugezogen würden, lauter Ereignisse und Prozesse also, die um mehrere Jahr¬ hunderte vorausgingen. Die Völkerwanderung sehen wir im Zusammenhang des niedergehenden Altertums und sind damit genötigt, noch größere Zeiträume zu umfassen, um den Wurzeln dieses Ereignisses in seiner welthistorischen Wirksamkeit nachzugehen. Niemand von uns weiß heute schon, welchen Größen¬ rang dieser Krieg im Gang der Geschichte geltend machen wird. Gerade wenn wir aber glauben, daß es ein hoher sein wird, dann ist es durchaus verfehlt, seine letzten Ursachen so überaus wichtig zu nehmen und ausdrücklich zu behaupten, daß gerade die Zeit seit 1861 bis zur Gegenwart für uns Preußen und Deutsche alles andere an Bedeutung übertreffe, was sich in der Weltgeschichte ereignet habe. Und in der Tat wird meine Auffassung bereits durch die trüben Erfahrungen der Stunde bestätigt. Ich wähle ein mir per¬ sönlich nahestehendes Beispiel. Nicht einmal die nunmehr geradezu bekämpfte bisherige gleichmäßigere Behandlung des geschichtlichen Stoffes hat es ver¬ hindern können, daß dem modernen Deutschen das notdürftigste Verständnis für das Problem der baltischen Ostseeprovinzen, das im Friedensschluß mit Rußland in jedem Fall aktuell werden wird, fehlt und ihm heute erst mühsam eingeimpft werden muß. In der Tat wird man nicht nur über den über¬ betonten Abschnitt seit 1796, sondern auch über das in den künftigen Abi- turien privilegierte Gebiet seit dem siebzehnten Jahrhundert noch um ein gutes Stück zurückgehen müssen, um dieses Verständnis zu gewinnen. Liegt also wirklich ein Gegenwartsinteresse vor, daß unsere Schüler von dem Wirken einer deutschen Hanse, von der ungeheueren mittelalterlichen Alternative östlicher oder südlicher Machtpolitik, von dem doch sozusagen auch für Preußens Geschichte und das Verständnis des märkischen Feudalismus grundlegenden Kulturfaktor der Ritterorden noch weniger künftighin erfahren, als es — Gott seis geklagt! — bisher geschah? Ganz im Gegenteil: das monomanische Hinstarren auf die jüngste Vergangenheit mit ihrer wahrscheinlich ganz episodischen dynastischen Freundschaft zwischen Hohenzollern und Romanows erzeugt jenes optimistisch¬ sentimentale Nichtbeachten der unheimlich-überzeitlichen Familienähnlichkeit zwischen Iwan dem Schrecklichen, dem Schänder Livlcmds, und Nikolai Nikolajewitsch, dem Schänder Ostpreußens. — Oder die vlamische Frage, die vielen von uns heute ebenso vollkommenes Neuland ist wie das Problem des ctommium Maris kÄltiei? Was ist für ihr Verständnis gewonnen mit der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/117>, abgerufen am 29.12.2024.