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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Das jungtürkische progrannn

Einflusses wegen aufgehoben werden mußten. Besonders in Syrien hatte
Frankreich ein aufgebautes Schulnetz mit 41 000 Zöglingen. Dies? Schule"
sofort durch türkische zu ersetzen, war bisher aus verschiedenen Gründen un¬
möglich. Erstens weil die Kosten aus den laufenden Staatseinnahmen wegen
Überlastung des Budgets mit Militärausgaben -- das jährliche Defizit des
ordentlichen Etats belief sich auf 100 bis 130 Millionen Mark -- unmöglich
aufgebracht werden konnten. Diese könnten höchstens von dem Erlös einer
größeren Anleihe bestritten werden, deren Ausnahme in Anbetracht der
Milliarden, die der Krieg verschlingt, für geraume Zeit nicht zu bewerkstelligen
sein dürfte. Zweitens war die Unterrichtssprache in den bisherigen fremden
Schulen französisch oder englisch, deren Ersatz durch türkisch oder arabisch bei
dem Mangel an ausgebreiteter wissenschaftlicher Literatur -- besonders an
systematischen Lehrbüchern -- und bei der Unkenntnis der türkischen Sprache
seitens der meisten Lehrer der Naturwissenschaften vorläufig großen Schwierig¬
keit begegnet.

Die Errichtung von Schulen aller Grade, sowie von landwirtschaftlichen
und technischen Fachschulen, wird den deutschen kulturellen Einfluß in der
Türkei, wie er von den Jungtürken selbst erwünscht wird, mächtig heben.
Während die Neugestaltung der Verwaltung, die den Gegenstand besonderer
Aufmerksamkeit der Jungtürken bildet, lediglich die Hinzuziehung deutscher
Fachmänner erheischt, erfordert der Schulaufbau eine entsprechende Organisation
in Deutschland selbst. Die rege Beteiligung aller Kreise an diesem Kultur¬
werk darf sicher erwartet werden. Sowohl die Kreise, die unmittelbar am
Handel mit der Türkei, als auch diejenigen, die an der Hebung der türkischen
Landwirtschaft als Nohstofflieferantin für ihre Fabriken interessiert sind, dürsten
dabei ihre rege Teilnahme bekunden. Dasselbe gilt von den großen deutschen
Verkehrsgesellschaften im Orient. Es dürste sich als sehr zweckmäßig erweisen,
wenn die Erziehung der christlichen Jugend in der Türkei in die Hände
religiös-charitativer Vereine gelegt werden würde, wie ja auch Frankreich bisher
durch die Förderung solcher Schulvereine große Erfolge erzielt hat. Die
religiösen Kreise Deutschlands und Österreich-Ungarns stehen an Reichtum und
guten Willen denen Frankreichs gewiß nicht nach. Die Kosten der Schul¬
unterhaltung sind in der Türkei verhältnismäßig nicht groß. Es vermögen
daher vereinzelt vorgehende Organisationen mit Erfolg zu arbeiten. Die Er¬
fahrungen, die bisher der "Hilfsverein der Deutschen Juden", die einzige in
der Türkei arbeitende größere deutsche Organisation, mit ihrem Schulwerk ge¬
macht hat, berechtigen uns zu dieser Behauptung. Dieser Verein besaß bei
jährlichen Aufwendungen von nur 200--250 000 Mark 35 Anstalten in Ost¬
europa und im Orient mit rund 5000 Zöglingen. Zwecks Erleichterung
der Kostenfrage des deutschen Schulwerks wird die türkische Regierung vor¬
aussichtlich durch allerlei Zugeständnisse Entgegenkommen zeigen. Die bereits be¬
stehenden Einrichtungen genießen jetzt schon einige Vorrechte, wie etwa Zollfreiheit


Das jungtürkische progrannn

Einflusses wegen aufgehoben werden mußten. Besonders in Syrien hatte
Frankreich ein aufgebautes Schulnetz mit 41 000 Zöglingen. Dies? Schule»
sofort durch türkische zu ersetzen, war bisher aus verschiedenen Gründen un¬
möglich. Erstens weil die Kosten aus den laufenden Staatseinnahmen wegen
Überlastung des Budgets mit Militärausgaben — das jährliche Defizit des
ordentlichen Etats belief sich auf 100 bis 130 Millionen Mark — unmöglich
aufgebracht werden konnten. Diese könnten höchstens von dem Erlös einer
größeren Anleihe bestritten werden, deren Ausnahme in Anbetracht der
Milliarden, die der Krieg verschlingt, für geraume Zeit nicht zu bewerkstelligen
sein dürfte. Zweitens war die Unterrichtssprache in den bisherigen fremden
Schulen französisch oder englisch, deren Ersatz durch türkisch oder arabisch bei
dem Mangel an ausgebreiteter wissenschaftlicher Literatur — besonders an
systematischen Lehrbüchern — und bei der Unkenntnis der türkischen Sprache
seitens der meisten Lehrer der Naturwissenschaften vorläufig großen Schwierig¬
keit begegnet.

Die Errichtung von Schulen aller Grade, sowie von landwirtschaftlichen
und technischen Fachschulen, wird den deutschen kulturellen Einfluß in der
Türkei, wie er von den Jungtürken selbst erwünscht wird, mächtig heben.
Während die Neugestaltung der Verwaltung, die den Gegenstand besonderer
Aufmerksamkeit der Jungtürken bildet, lediglich die Hinzuziehung deutscher
Fachmänner erheischt, erfordert der Schulaufbau eine entsprechende Organisation
in Deutschland selbst. Die rege Beteiligung aller Kreise an diesem Kultur¬
werk darf sicher erwartet werden. Sowohl die Kreise, die unmittelbar am
Handel mit der Türkei, als auch diejenigen, die an der Hebung der türkischen
Landwirtschaft als Nohstofflieferantin für ihre Fabriken interessiert sind, dürsten
dabei ihre rege Teilnahme bekunden. Dasselbe gilt von den großen deutschen
Verkehrsgesellschaften im Orient. Es dürste sich als sehr zweckmäßig erweisen,
wenn die Erziehung der christlichen Jugend in der Türkei in die Hände
religiös-charitativer Vereine gelegt werden würde, wie ja auch Frankreich bisher
durch die Förderung solcher Schulvereine große Erfolge erzielt hat. Die
religiösen Kreise Deutschlands und Österreich-Ungarns stehen an Reichtum und
guten Willen denen Frankreichs gewiß nicht nach. Die Kosten der Schul¬
unterhaltung sind in der Türkei verhältnismäßig nicht groß. Es vermögen
daher vereinzelt vorgehende Organisationen mit Erfolg zu arbeiten. Die Er¬
fahrungen, die bisher der „Hilfsverein der Deutschen Juden", die einzige in
der Türkei arbeitende größere deutsche Organisation, mit ihrem Schulwerk ge¬
macht hat, berechtigen uns zu dieser Behauptung. Dieser Verein besaß bei
jährlichen Aufwendungen von nur 200—250 000 Mark 35 Anstalten in Ost¬
europa und im Orient mit rund 5000 Zöglingen. Zwecks Erleichterung
der Kostenfrage des deutschen Schulwerks wird die türkische Regierung vor¬
aussichtlich durch allerlei Zugeständnisse Entgegenkommen zeigen. Die bereits be¬
stehenden Einrichtungen genießen jetzt schon einige Vorrechte, wie etwa Zollfreiheit


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[0110] Das jungtürkische progrannn Einflusses wegen aufgehoben werden mußten. Besonders in Syrien hatte Frankreich ein aufgebautes Schulnetz mit 41 000 Zöglingen. Dies? Schule» sofort durch türkische zu ersetzen, war bisher aus verschiedenen Gründen un¬ möglich. Erstens weil die Kosten aus den laufenden Staatseinnahmen wegen Überlastung des Budgets mit Militärausgaben — das jährliche Defizit des ordentlichen Etats belief sich auf 100 bis 130 Millionen Mark — unmöglich aufgebracht werden konnten. Diese könnten höchstens von dem Erlös einer größeren Anleihe bestritten werden, deren Ausnahme in Anbetracht der Milliarden, die der Krieg verschlingt, für geraume Zeit nicht zu bewerkstelligen sein dürfte. Zweitens war die Unterrichtssprache in den bisherigen fremden Schulen französisch oder englisch, deren Ersatz durch türkisch oder arabisch bei dem Mangel an ausgebreiteter wissenschaftlicher Literatur — besonders an systematischen Lehrbüchern — und bei der Unkenntnis der türkischen Sprache seitens der meisten Lehrer der Naturwissenschaften vorläufig großen Schwierig¬ keit begegnet. Die Errichtung von Schulen aller Grade, sowie von landwirtschaftlichen und technischen Fachschulen, wird den deutschen kulturellen Einfluß in der Türkei, wie er von den Jungtürken selbst erwünscht wird, mächtig heben. Während die Neugestaltung der Verwaltung, die den Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit der Jungtürken bildet, lediglich die Hinzuziehung deutscher Fachmänner erheischt, erfordert der Schulaufbau eine entsprechende Organisation in Deutschland selbst. Die rege Beteiligung aller Kreise an diesem Kultur¬ werk darf sicher erwartet werden. Sowohl die Kreise, die unmittelbar am Handel mit der Türkei, als auch diejenigen, die an der Hebung der türkischen Landwirtschaft als Nohstofflieferantin für ihre Fabriken interessiert sind, dürsten dabei ihre rege Teilnahme bekunden. Dasselbe gilt von den großen deutschen Verkehrsgesellschaften im Orient. Es dürste sich als sehr zweckmäßig erweisen, wenn die Erziehung der christlichen Jugend in der Türkei in die Hände religiös-charitativer Vereine gelegt werden würde, wie ja auch Frankreich bisher durch die Förderung solcher Schulvereine große Erfolge erzielt hat. Die religiösen Kreise Deutschlands und Österreich-Ungarns stehen an Reichtum und guten Willen denen Frankreichs gewiß nicht nach. Die Kosten der Schul¬ unterhaltung sind in der Türkei verhältnismäßig nicht groß. Es vermögen daher vereinzelt vorgehende Organisationen mit Erfolg zu arbeiten. Die Er¬ fahrungen, die bisher der „Hilfsverein der Deutschen Juden", die einzige in der Türkei arbeitende größere deutsche Organisation, mit ihrem Schulwerk ge¬ macht hat, berechtigen uns zu dieser Behauptung. Dieser Verein besaß bei jährlichen Aufwendungen von nur 200—250 000 Mark 35 Anstalten in Ost¬ europa und im Orient mit rund 5000 Zöglingen. Zwecks Erleichterung der Kostenfrage des deutschen Schulwerks wird die türkische Regierung vor¬ aussichtlich durch allerlei Zugeständnisse Entgegenkommen zeigen. Die bereits be¬ stehenden Einrichtungen genießen jetzt schon einige Vorrechte, wie etwa Zollfreiheit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/110>, abgerufen am 22.07.2024.