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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Wie unsere vorfahren Besitz ergriffen

der Lüneburger Heide sagen darüber: der Inter soll sich neben die alte
Bienenstelle stellen, mit der linken Hand sein rechtes Ohr ergreifen und mit der
rechten rücklings unter dem linken Arme weg seinen Honiglöffel so weit als er
kann, werfen. Darauf soll er auf dieselbe Weise von dem Orte, wo der Löffel
niedergefallen ist, einen zweiten Wurf tun, und danach einen dritten. Wo der
Löffel zum drittenmal niederfiel, sollte er die neue Stelle anlegen. Und noch
umständlicher war folgende Bestimmung im Bochumer Landrecht: "da Hühner
im Korn schaden tun, soll man mit barveden Füßen auf zwei scharfe Zaun¬
staken klimmen und werfen zwischen den Beinen her mit einem Spaten; soweit
haben die Hühner recht und nicht weiter."

Die Bochumer Hühner werden bei dieser Rechtslage nur eine sehr be¬
schränkte Bewegungsfreiheit gehabt haben; das bringt uns nun auf die Frage
nach dem Mindestmaß von Besitz. In den alten Handvesten der Friesen war
es verbrieft, daß die ertrunkenen Landflächen, die das Meer ersäufte, dadurch
nicht herrenlos wurden, und wenn sie jemals wieder auftauchten, dem früheren
Eigner gehören sollten, dessen Ufer sich der neue Groben (Grünland) als
natürliches Geschenk anschloß. In späterer Zeit hat sich sogar die Gewohnheit
ausgebildet, ein Recht auf die noch gar nicht völlig aus dem Meere herauf¬
getauchten Waldflächen, die täglich zweimal unter der Flut verschwinden, zu
behaupten. Diese Anschauung beherrscht die Fischer am Dollart und an der
Ems heute noch, und sie ist ihnen dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen,
daß alte Fischer, die ihr Gewerbe aufgeben, vielfach den von altersher inne¬
gehabten, von Geschlecht zu Geschlecht ererbten Fangplatz auf dem Watt mitsamt
den Fischereigeräten verkaufen. Im Ruhrrecht vom Jahre 1452 findet sich folgende
schöne Bestimmung über kleinsten Besitz: "wem das Wasser ein Stück Land abreißt,
der mag dem nicht folgen, sondern dem es an sein Land getrieben, mag es
benutzen gleich dem Seinen; bleibt aber dem Geschädigten auch nur soviel, daß
eine Gans mit ihren Jungen darauf sitzen könnte, und wird ihm später einmal
daran Land angetrieben, dann sollen er und seine Erben dieses gebrauchen."
Ein oberdeutsches Weistum umschreibt das Mindestmaß von Besitz so, daß einer
wenigstens noch soviel Guts besitzen soll, daß eine Wiege mit einem Kinde und
einem Stuhle für ein Maidlin darauf Platz finden könne, um das Kind zu
wiegen. -- Man könnte meinen, ein solches "Grundstück" habe an und für
sich keinen Wert. Weit gefehlt! Zum mindesten die Steuerbehörde hatte auch
dafür noch ein geradezu peinliches Interesse, denn wir finden die selbst für
unsere fteuergeprüften Zeiten und Begriffe unerhörte Weisung: wer in den
Marken zu Schweinheim auch nur soviel Eigen oder Erbe hat, daß er einen
oreibeinigen Stuhl darauf setzen kaun, soll, wenn er von Todes wegen
abgeht, dem Amte ein Besthaupt geben. Ein Trost für den unglücklichen
Stuhlbefitzer und Landwirt "ohne Ar und Halm", daß er, wenn ihm der
Fronbote seine beste Kuh aus dem Stalle zog, es wenigstens nicht mehr
erlebte.


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Wie unsere vorfahren Besitz ergriffen

der Lüneburger Heide sagen darüber: der Inter soll sich neben die alte
Bienenstelle stellen, mit der linken Hand sein rechtes Ohr ergreifen und mit der
rechten rücklings unter dem linken Arme weg seinen Honiglöffel so weit als er
kann, werfen. Darauf soll er auf dieselbe Weise von dem Orte, wo der Löffel
niedergefallen ist, einen zweiten Wurf tun, und danach einen dritten. Wo der
Löffel zum drittenmal niederfiel, sollte er die neue Stelle anlegen. Und noch
umständlicher war folgende Bestimmung im Bochumer Landrecht: „da Hühner
im Korn schaden tun, soll man mit barveden Füßen auf zwei scharfe Zaun¬
staken klimmen und werfen zwischen den Beinen her mit einem Spaten; soweit
haben die Hühner recht und nicht weiter."

Die Bochumer Hühner werden bei dieser Rechtslage nur eine sehr be¬
schränkte Bewegungsfreiheit gehabt haben; das bringt uns nun auf die Frage
nach dem Mindestmaß von Besitz. In den alten Handvesten der Friesen war
es verbrieft, daß die ertrunkenen Landflächen, die das Meer ersäufte, dadurch
nicht herrenlos wurden, und wenn sie jemals wieder auftauchten, dem früheren
Eigner gehören sollten, dessen Ufer sich der neue Groben (Grünland) als
natürliches Geschenk anschloß. In späterer Zeit hat sich sogar die Gewohnheit
ausgebildet, ein Recht auf die noch gar nicht völlig aus dem Meere herauf¬
getauchten Waldflächen, die täglich zweimal unter der Flut verschwinden, zu
behaupten. Diese Anschauung beherrscht die Fischer am Dollart und an der
Ems heute noch, und sie ist ihnen dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen,
daß alte Fischer, die ihr Gewerbe aufgeben, vielfach den von altersher inne¬
gehabten, von Geschlecht zu Geschlecht ererbten Fangplatz auf dem Watt mitsamt
den Fischereigeräten verkaufen. Im Ruhrrecht vom Jahre 1452 findet sich folgende
schöne Bestimmung über kleinsten Besitz: „wem das Wasser ein Stück Land abreißt,
der mag dem nicht folgen, sondern dem es an sein Land getrieben, mag es
benutzen gleich dem Seinen; bleibt aber dem Geschädigten auch nur soviel, daß
eine Gans mit ihren Jungen darauf sitzen könnte, und wird ihm später einmal
daran Land angetrieben, dann sollen er und seine Erben dieses gebrauchen."
Ein oberdeutsches Weistum umschreibt das Mindestmaß von Besitz so, daß einer
wenigstens noch soviel Guts besitzen soll, daß eine Wiege mit einem Kinde und
einem Stuhle für ein Maidlin darauf Platz finden könne, um das Kind zu
wiegen. — Man könnte meinen, ein solches „Grundstück" habe an und für
sich keinen Wert. Weit gefehlt! Zum mindesten die Steuerbehörde hatte auch
dafür noch ein geradezu peinliches Interesse, denn wir finden die selbst für
unsere fteuergeprüften Zeiten und Begriffe unerhörte Weisung: wer in den
Marken zu Schweinheim auch nur soviel Eigen oder Erbe hat, daß er einen
oreibeinigen Stuhl darauf setzen kaun, soll, wenn er von Todes wegen
abgeht, dem Amte ein Besthaupt geben. Ein Trost für den unglücklichen
Stuhlbefitzer und Landwirt „ohne Ar und Halm", daß er, wenn ihm der
Fronbote seine beste Kuh aus dem Stalle zog, es wenigstens nicht mehr
erlebte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/95>, abgerufen am 22.07.2024.