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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Zur Rechtfertigung der Sozialpolitik

auch als Kulturgemeinschaft, weil der innere Erwerb des Kulturellen doch nun
einmal von einem gewissen Maße materieller Sorglosigkeit abhängt, sie tut
aber -- wohlverstanden -- all dies nur indirekt, indem sie Hinderndes
wegschafft, kann also unmöglich (mit Salz) schon selber als "die Liebe des
Volks zu sich" gesehen werden. Alle Vorzüge, die man ihr so häufig
nachrühmt, gelten nur mit der jedesmaligen Einschränkung, daß der sozial¬
politische Gedanke seine zivilisatorische Bescheidenheit nicht verlieren darf.

Und da alle Religion heute bei uns im Westen irgendwie aus dem
Sittlichen emporsteigt, mit ihm innig verwachsen ist, findet auf dem beschrittenen
Wege die Idee des staatlichen Sozialismus auch vor der Religion ihre Recht¬
fertigung. Denn gewiß gilt nicht nur der Satz, daß Not beten lehre, sondern
auch der entgegengesetzte, daß das dumpfe Proletarierelend nordischer Stadt¬
kolosse von Gott wegführt. Es wäre schlimmste Hoffart, nun etwa durch
sozialpolitische Maßnahmen "das Volk", wie in manchen Kreisen die Rede
geht, zu Gott hinführen zu wollen. Wo alles nur und lediglich Gnade ist,
da werden zivilisatorische Maßnahmen ganz klein und ganz unerheblich. Es
genügt, festzustellen, daß nicht eine tatsächliche Religionsfeindschaft aus ihnen
spricht. Es bestehen Gefahren in dieser Richtung, wir haben in den bereits
erwähnten Zusammenhängen selbst mit allem Ernst darauf hingezeigt. Auf
der Berechenbarkeit einer glatt daliegenden Zukunft droht sich eine hybride
Sicherheit des Individuums zu erheben. Doch erwachsen diese Bedenken meist
aus der genugsam zurückgewiesenen Selbstübersteigerung des sozialpolitischen
Gedankens zu einer ethischen oder gar religiösen Idee. Und schließlich find
diese Hemmnisse von derselben Art, wie sie nach Jesu tiefer Einsicht jedem Reichen
den Weg zum Himmelreich verbauen. Es kann niemals aus religiösen Gesichts¬
punkten gefordert werden, daß der Weg zu Gott möglichst leicht gemacht werde.

Nicht zu dem Ergebnis kamen wir, daß die Idee der Sozialpolitik
lediglich vor dem heimischen Forum, vor den Prinzipien des Rechtsgedanken
und der zivilisatorischer Zweckmäßigkeit sich zu verantworten habe. Dort hat
sie wohl ihren Ursprung. Ihre Rechtfertigung aber -- so könnte man in
einem prägnanten Sinn sagen -- findet sie erst da, wo ihr Bedenklichkeiten
einer höheren Ordnung entgegenstehen. Nicht Resignation ihnen gegenüber
schien uns -- so gut wir diese Haltung samt der bedenklichen Folge, dem
Kopfsprung in die Unreflektiertheit des Praktischen, verstehen können -- in
dieser junggewordenen Zeit die gebotene Haltung. So wagten wir es noch
einmal -- trotz allem Kopfschütteln der ganz Starken und der ganz Müden --
mit einer "Ideologie". Wir versuchten zu überzeugen, daß die Sozialpolitik
auch vor Sittlichkeit und Religion solche Prüfung wohl bestehen kann, wennschon
wir uns die Gefahren nicht verbargen, die mit ihrem Wirken verknüpft sind.
Aber wo junge Gefahren find, da wartet heute wieder -- so hoffen wir --
vor seinem weiten Felde ein junger Mut.




Zur Rechtfertigung der Sozialpolitik

auch als Kulturgemeinschaft, weil der innere Erwerb des Kulturellen doch nun
einmal von einem gewissen Maße materieller Sorglosigkeit abhängt, sie tut
aber — wohlverstanden — all dies nur indirekt, indem sie Hinderndes
wegschafft, kann also unmöglich (mit Salz) schon selber als „die Liebe des
Volks zu sich" gesehen werden. Alle Vorzüge, die man ihr so häufig
nachrühmt, gelten nur mit der jedesmaligen Einschränkung, daß der sozial¬
politische Gedanke seine zivilisatorische Bescheidenheit nicht verlieren darf.

Und da alle Religion heute bei uns im Westen irgendwie aus dem
Sittlichen emporsteigt, mit ihm innig verwachsen ist, findet auf dem beschrittenen
Wege die Idee des staatlichen Sozialismus auch vor der Religion ihre Recht¬
fertigung. Denn gewiß gilt nicht nur der Satz, daß Not beten lehre, sondern
auch der entgegengesetzte, daß das dumpfe Proletarierelend nordischer Stadt¬
kolosse von Gott wegführt. Es wäre schlimmste Hoffart, nun etwa durch
sozialpolitische Maßnahmen „das Volk", wie in manchen Kreisen die Rede
geht, zu Gott hinführen zu wollen. Wo alles nur und lediglich Gnade ist,
da werden zivilisatorische Maßnahmen ganz klein und ganz unerheblich. Es
genügt, festzustellen, daß nicht eine tatsächliche Religionsfeindschaft aus ihnen
spricht. Es bestehen Gefahren in dieser Richtung, wir haben in den bereits
erwähnten Zusammenhängen selbst mit allem Ernst darauf hingezeigt. Auf
der Berechenbarkeit einer glatt daliegenden Zukunft droht sich eine hybride
Sicherheit des Individuums zu erheben. Doch erwachsen diese Bedenken meist
aus der genugsam zurückgewiesenen Selbstübersteigerung des sozialpolitischen
Gedankens zu einer ethischen oder gar religiösen Idee. Und schließlich find
diese Hemmnisse von derselben Art, wie sie nach Jesu tiefer Einsicht jedem Reichen
den Weg zum Himmelreich verbauen. Es kann niemals aus religiösen Gesichts¬
punkten gefordert werden, daß der Weg zu Gott möglichst leicht gemacht werde.

Nicht zu dem Ergebnis kamen wir, daß die Idee der Sozialpolitik
lediglich vor dem heimischen Forum, vor den Prinzipien des Rechtsgedanken
und der zivilisatorischer Zweckmäßigkeit sich zu verantworten habe. Dort hat
sie wohl ihren Ursprung. Ihre Rechtfertigung aber — so könnte man in
einem prägnanten Sinn sagen — findet sie erst da, wo ihr Bedenklichkeiten
einer höheren Ordnung entgegenstehen. Nicht Resignation ihnen gegenüber
schien uns — so gut wir diese Haltung samt der bedenklichen Folge, dem
Kopfsprung in die Unreflektiertheit des Praktischen, verstehen können — in
dieser junggewordenen Zeit die gebotene Haltung. So wagten wir es noch
einmal — trotz allem Kopfschütteln der ganz Starken und der ganz Müden —
mit einer „Ideologie". Wir versuchten zu überzeugen, daß die Sozialpolitik
auch vor Sittlichkeit und Religion solche Prüfung wohl bestehen kann, wennschon
wir uns die Gefahren nicht verbargen, die mit ihrem Wirken verknüpft sind.
Aber wo junge Gefahren find, da wartet heute wieder — so hoffen wir —
vor seinem weiten Felde ein junger Mut.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/82>, abgerufen am 03.07.2024.