Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.Zur Rechtfertigung der Sozialpolitik einem "Weil" heraus für Sozialpolitik einsetzen. Mag der Verfasser die psycho¬ So entpuppt sich diese Rechtfertigung als das, was sie ist: als eine Theorie In früheren Ausführungen**) nahmen wir bereits Gelegenheit, auf die *) Vergleiche aus jüngster Zeit Reinach, Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts. Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. I, 6Sö ff. Halle 1813. **) Vergleiche meine Studie, Die Grenzen des Versicherungsgedankens. Ein Beitrag zur Philosophie der Zivilisation. Grenzboten 1916, Heft 1. 5*
Zur Rechtfertigung der Sozialpolitik einem „Weil" heraus für Sozialpolitik einsetzen. Mag der Verfasser die psycho¬ So entpuppt sich diese Rechtfertigung als das, was sie ist: als eine Theorie In früheren Ausführungen**) nahmen wir bereits Gelegenheit, auf die *) Vergleiche aus jüngster Zeit Reinach, Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts. Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. I, 6Sö ff. Halle 1813. **) Vergleiche meine Studie, Die Grenzen des Versicherungsgedankens. Ein Beitrag zur Philosophie der Zivilisation. Grenzboten 1916, Heft 1. 5*
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0079" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324052"/> <fw type="header" place="top"> Zur Rechtfertigung der Sozialpolitik</fw><lb/> <p xml:id="ID_220" prev="#ID_219"> einem „Weil" heraus für Sozialpolitik einsetzen. Mag der Verfasser die psycho¬<lb/> logische Struktur politischer Maßnahmen und Zwecksetzungen damit richtig<lb/> charakterisieren, da aber steht dann auch keinerlei „Rechtfertigung" irgend in<lb/> Frage, um die es hier doch nun einmal geht.</p><lb/> <p xml:id="ID_221"> So entpuppt sich diese Rechtfertigung als das, was sie ist: als eine Theorie<lb/> absoluter Verzweiflung. Wenn wir im Negativen mit Salz einig waren, im<lb/> Positiven können wir ihm ganz und gar nicht folgen und suchen nun, ein<lb/> festeres Fundament unter die Positionen der Sozialpolitik zu setzen. Die land¬<lb/> läufigen, von ihm angezogenen lehnen auch wir ab. Immerhin greifen wir<lb/> aber oft geäußerte Motive auf, wenn wir glauben, das Pathos der Sozial¬<lb/> politik nicht im Ethischen, sondern im Rechtsbewußtsein verankern zu sollen.<lb/> Wir machen dabei die Voraussetzung, die seit den Zeiten des alten Naturrechts<lb/> nie ganz verschwunden*), obschon hart angefochten worden ist, daß das Rechts¬<lb/> bewußtsein nicht als einfache Funktion freischwebender positiver Rechtssatzungen<lb/> eines Souveränen verstanden werden kann, sondern daß diese nur die<lb/> Besonderung, die Ausgestaltung unmittelbar einsichtiger Rechtsnormen, juridischer<lb/> „Sätze an sich" sind. Diese juridischen Aprioritäten umschreiben einen Umkreis<lb/> möglicher Rechtsforderungen. Sie begrenzen das Reich des rechtlich Erheblichen.<lb/> In dies aber gehört alles hinein, was die Sozialpolitik zu wirken imstande ist.<lb/> Ihre Leistung ist es recht eigentlich, das in früheren Zeiten vielfach bloß von<lb/> der privaten Initiative persönlicher Liebe Erhoffte in einen rechtlichen Anspruch<lb/> zu verwandeln.</p><lb/> <p xml:id="ID_222" next="#ID_223"> In früheren Ausführungen**) nahmen wir bereits Gelegenheit, auf die<lb/> aus dieser Umwandlung entspringenden Täuschungsquellen einige Streiflichter<lb/> zu werfen. Sie ergibt einen Rest, der nicht als unerheblich gelten darf, weil<lb/> er gerade das der christlichen Liebe Wesentliche zurückbehält, die sich eben durch¬<lb/> aus nicht verrechtlichen läßt. Wir können auch hier nur andeuten, daß diese<lb/> ganze Entwicklung zur modernen Sozialpolitik nur durch ein Erschlaffen der<lb/> spontanen persönlichen Liebesenergien möglich und nötig war. Mit dem Faktum<lb/> der in der Neuzeit vollzogenen Auflockerung der christlichen Liebesgemeinschaft<lb/> muß man sich aber wohl oder übel abfinden, wenn man auch ebensowenig<lb/> ihre religiöse Bedenklichkeit beschönigen sollte. Ebensowenig aber wie das<lb/> religiöse Moment der christlichen Liebe darf man im sozialen Gedanken von<lb/> Haus aus ein personal-ethisches Motto zugrunde legen. Diese canthafte Schön¬<lb/> färberei wollen wir nicht begehen. Die Hilfe von Personen, deren Mitleid dem<lb/> individuellen Stolz zu nahe treten könnte, soll ja gerade ausgeschaltet werden.<lb/> Auf die Wärme der Hilfe wird freiwillig verzichtet zugunsten ihrer rechtlichen<lb/> Erzwingbarkeit, ihrer voraussichtigen Promptheit. Wohl aber können wir also</p><lb/> <note xml:id="FID_5" place="foot"> *) Vergleiche aus jüngster Zeit Reinach, Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen<lb/> Rechts. Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. I, 6Sö ff. Halle 1813.</note><lb/> <note xml:id="FID_6" place="foot"> **) Vergleiche meine Studie, Die Grenzen des Versicherungsgedankens. Ein Beitrag<lb/> zur Philosophie der Zivilisation. Grenzboten 1916, Heft 1.</note><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 5*</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0079]
Zur Rechtfertigung der Sozialpolitik
einem „Weil" heraus für Sozialpolitik einsetzen. Mag der Verfasser die psycho¬
logische Struktur politischer Maßnahmen und Zwecksetzungen damit richtig
charakterisieren, da aber steht dann auch keinerlei „Rechtfertigung" irgend in
Frage, um die es hier doch nun einmal geht.
So entpuppt sich diese Rechtfertigung als das, was sie ist: als eine Theorie
absoluter Verzweiflung. Wenn wir im Negativen mit Salz einig waren, im
Positiven können wir ihm ganz und gar nicht folgen und suchen nun, ein
festeres Fundament unter die Positionen der Sozialpolitik zu setzen. Die land¬
läufigen, von ihm angezogenen lehnen auch wir ab. Immerhin greifen wir
aber oft geäußerte Motive auf, wenn wir glauben, das Pathos der Sozial¬
politik nicht im Ethischen, sondern im Rechtsbewußtsein verankern zu sollen.
Wir machen dabei die Voraussetzung, die seit den Zeiten des alten Naturrechts
nie ganz verschwunden*), obschon hart angefochten worden ist, daß das Rechts¬
bewußtsein nicht als einfache Funktion freischwebender positiver Rechtssatzungen
eines Souveränen verstanden werden kann, sondern daß diese nur die
Besonderung, die Ausgestaltung unmittelbar einsichtiger Rechtsnormen, juridischer
„Sätze an sich" sind. Diese juridischen Aprioritäten umschreiben einen Umkreis
möglicher Rechtsforderungen. Sie begrenzen das Reich des rechtlich Erheblichen.
In dies aber gehört alles hinein, was die Sozialpolitik zu wirken imstande ist.
Ihre Leistung ist es recht eigentlich, das in früheren Zeiten vielfach bloß von
der privaten Initiative persönlicher Liebe Erhoffte in einen rechtlichen Anspruch
zu verwandeln.
In früheren Ausführungen**) nahmen wir bereits Gelegenheit, auf die
aus dieser Umwandlung entspringenden Täuschungsquellen einige Streiflichter
zu werfen. Sie ergibt einen Rest, der nicht als unerheblich gelten darf, weil
er gerade das der christlichen Liebe Wesentliche zurückbehält, die sich eben durch¬
aus nicht verrechtlichen läßt. Wir können auch hier nur andeuten, daß diese
ganze Entwicklung zur modernen Sozialpolitik nur durch ein Erschlaffen der
spontanen persönlichen Liebesenergien möglich und nötig war. Mit dem Faktum
der in der Neuzeit vollzogenen Auflockerung der christlichen Liebesgemeinschaft
muß man sich aber wohl oder übel abfinden, wenn man auch ebensowenig
ihre religiöse Bedenklichkeit beschönigen sollte. Ebensowenig aber wie das
religiöse Moment der christlichen Liebe darf man im sozialen Gedanken von
Haus aus ein personal-ethisches Motto zugrunde legen. Diese canthafte Schön¬
färberei wollen wir nicht begehen. Die Hilfe von Personen, deren Mitleid dem
individuellen Stolz zu nahe treten könnte, soll ja gerade ausgeschaltet werden.
Auf die Wärme der Hilfe wird freiwillig verzichtet zugunsten ihrer rechtlichen
Erzwingbarkeit, ihrer voraussichtigen Promptheit. Wohl aber können wir also
*) Vergleiche aus jüngster Zeit Reinach, Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen
Rechts. Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. I, 6Sö ff. Halle 1813.
**) Vergleiche meine Studie, Die Grenzen des Versicherungsgedankens. Ein Beitrag
zur Philosophie der Zivilisation. Grenzboten 1916, Heft 1.
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