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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Italienische Stimmungen vor der Kriegserklärung an die Türkei

greifen alle insgesamt dem Sieg um einen Schritt nähergebracht habe.
Besonders England, das vom Kriege die wenigsten Übelstände verspüre und
über die größte Kapitalkraft gebiete, möge seinem Bundesgenossen zur
Seite stehen.

Man windet sich also in folgendem Dilemma. Von Englands Schlagkraft
und Finanzmacht ist es abhängig, daß der Weltkrieg zu einem für die Entente
günstigen Ausgang geführt wird. Da das eigene Schicksal damit verknüpft ist,
so zittert man dafür, daß die militärische Ausdauer Englands nicht leidet, und
mahnt unaufhörlich, das alte, nicht mehr zeitgemäße liberale Prinzip aufzugeben
und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht durchzusetzen. Auf die englische
finanzielle Unterstützung sieht man sich durchaus angewiesen. Es soll dabei
aber vermieden werden, während man durch den Krieg glaubt, das Joch der
Zentralmächte von sich abschütteln zu können, ein neues Joch auf sich zu laden.
Durch dieses Labyrinth soll die Diplomatie ihren Faden ziehen. Dafür muß
sie auch noch das Glücksspiel eines türkischen Feldzuges auf sich nehmen. Eine
aktive Beteiligung daran erschien als das sicherste und einzige Mittel, sich bei
der endgültigen Abrechnung gegen eine Übervorteilung durch England und
Frankreich zu wahren.

Nicht nur große politische, sondern auch neue wirtschaftliche Probleme
ergeben sich für das italienische Volk nach seiner Eingliederung in den Vier¬
verband, und vielfache Diskussionen zeigen, daß man damit ins Reine zu
kommen wünscht. Die Frage, wie man sich zu verhalten habe, wenn der von
den Zentralmächten beabsichtigte mitteleuropäische Wirtschastsverband zustande
käme, wird von verschiedenen Seiten aufgeworfen. Der alte Maggiorino
Ferraris, der bekannte Wirtschaftspolitiker, wünscht, daß eine Gegenaktion ins
Leben trete, durch die eine in sich geschlossene wirtschaftliche und finanzielle
Organisation der Entente-Staaten mit gemeinsamer Zollpolitik geschaffen werden
solle; wie sehr würde diese dann ihrer Ausdehnung und ihren finanziellen Hilfs¬
kräften nach Mitteleuropa überlegen seinl Dieser utopistische Zukunftstraum und
diese Verknechtung Italiens an das Ausland wird von anderer Seite schroff
bekämpft. In der Sehnsucht nach einem gänzlich unabhängigen "größeren
Italien" wollen die echten Patrioten nichts von irgendeiner Einbuße wirtschaft¬
licher und finanzieller Selbständigkeit wissen; nur auf der Grundlage völliger
Autonomie ließe sich an ein Zusammengehen mit anderen Staaten denken. Die
Stärkung und Befreiung der nationalen Wirtschaft von jeder Einschränkung und
Hemmung müsse als ein wesentliches Kriegsziel im Auge behalten werden. Der
Avanti hat einmal geradezu gesagt, dieser Krieg bezwecke weiter nichts als
eine Loslösung des italienischen Kapitalismus von fremder Bevormundung.

Seit Ende Juli trat die internationale Lage in eine Phase, die Italien
zwang, sich über sein weiteres Verhalten schlüssig zu machen, deren Entwicklung
im Lande mit höchster Spannung und mit gel eilten Empfindungen verfolgt
wurde. Von den Kollektivnoten, die der Vierverband an die Regierungen der


Italienische Stimmungen vor der Kriegserklärung an die Türkei

greifen alle insgesamt dem Sieg um einen Schritt nähergebracht habe.
Besonders England, das vom Kriege die wenigsten Übelstände verspüre und
über die größte Kapitalkraft gebiete, möge seinem Bundesgenossen zur
Seite stehen.

Man windet sich also in folgendem Dilemma. Von Englands Schlagkraft
und Finanzmacht ist es abhängig, daß der Weltkrieg zu einem für die Entente
günstigen Ausgang geführt wird. Da das eigene Schicksal damit verknüpft ist,
so zittert man dafür, daß die militärische Ausdauer Englands nicht leidet, und
mahnt unaufhörlich, das alte, nicht mehr zeitgemäße liberale Prinzip aufzugeben
und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht durchzusetzen. Auf die englische
finanzielle Unterstützung sieht man sich durchaus angewiesen. Es soll dabei
aber vermieden werden, während man durch den Krieg glaubt, das Joch der
Zentralmächte von sich abschütteln zu können, ein neues Joch auf sich zu laden.
Durch dieses Labyrinth soll die Diplomatie ihren Faden ziehen. Dafür muß
sie auch noch das Glücksspiel eines türkischen Feldzuges auf sich nehmen. Eine
aktive Beteiligung daran erschien als das sicherste und einzige Mittel, sich bei
der endgültigen Abrechnung gegen eine Übervorteilung durch England und
Frankreich zu wahren.

Nicht nur große politische, sondern auch neue wirtschaftliche Probleme
ergeben sich für das italienische Volk nach seiner Eingliederung in den Vier¬
verband, und vielfache Diskussionen zeigen, daß man damit ins Reine zu
kommen wünscht. Die Frage, wie man sich zu verhalten habe, wenn der von
den Zentralmächten beabsichtigte mitteleuropäische Wirtschastsverband zustande
käme, wird von verschiedenen Seiten aufgeworfen. Der alte Maggiorino
Ferraris, der bekannte Wirtschaftspolitiker, wünscht, daß eine Gegenaktion ins
Leben trete, durch die eine in sich geschlossene wirtschaftliche und finanzielle
Organisation der Entente-Staaten mit gemeinsamer Zollpolitik geschaffen werden
solle; wie sehr würde diese dann ihrer Ausdehnung und ihren finanziellen Hilfs¬
kräften nach Mitteleuropa überlegen seinl Dieser utopistische Zukunftstraum und
diese Verknechtung Italiens an das Ausland wird von anderer Seite schroff
bekämpft. In der Sehnsucht nach einem gänzlich unabhängigen „größeren
Italien" wollen die echten Patrioten nichts von irgendeiner Einbuße wirtschaft¬
licher und finanzieller Selbständigkeit wissen; nur auf der Grundlage völliger
Autonomie ließe sich an ein Zusammengehen mit anderen Staaten denken. Die
Stärkung und Befreiung der nationalen Wirtschaft von jeder Einschränkung und
Hemmung müsse als ein wesentliches Kriegsziel im Auge behalten werden. Der
Avanti hat einmal geradezu gesagt, dieser Krieg bezwecke weiter nichts als
eine Loslösung des italienischen Kapitalismus von fremder Bevormundung.

Seit Ende Juli trat die internationale Lage in eine Phase, die Italien
zwang, sich über sein weiteres Verhalten schlüssig zu machen, deren Entwicklung
im Lande mit höchster Spannung und mit gel eilten Empfindungen verfolgt
wurde. Von den Kollektivnoten, die der Vierverband an die Regierungen der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/322>, abgerufen am 25.08.2024.