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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Skandinavien und der Krieg

seine Idealität trotz alledem Macht über die Wirklichkeit besitzt und den Fort¬
schritt verbürgt. Zu diesen ewigen Ideen gehört der Nationalitätsgedanke.
Rühret daran, und ihr rührt an etwas Heiligem. Vergreift euch daran, und
ihr versündigt euch an dem heiligen Geiste der Menschheit, was die Nemesis
der Geschichte nie verzeiht. Die Weltreiche, die auf Verletzung der Rechte unter¬
drückter Völker errichtet worden find, werden dereinst, vom himmlischen Blitze
getroffen, zusammenstürzen. Alle formalen Staatsverbande ohne realen Samm¬
lungstrieb tragen den Keim der Auflösung in sich. So weit, wie die Gro߬
mächte ganz und gar sie selbst sind, haben sie die Zukunft für sich, aber auf
den Gebieten, wo ihre Reiche durch die Freiheitssehnsucht unterdrückter Völker
untergraben werden, muß früher oder später eine nationalbestimmte Aufteilung
von Staat und Boden stattfinden, damit dem Wesen des Lebens sein Recht
werde. Der Krankheiten der Menschheit sind viele, und die Geschichte ist der
Arzt, der manchmal ohne Zaudern ganze Völker wegoperiert, wenn ihnen das
lebendige Nationalgefühl -- die einzige Daseinsberechtigung eines Volkes --
fehlt; ist dieses aber vorhanden, dann ist es auf die Dauer unwiderstehlich.
Bei jeder Rechtsverletzung durch das russische Zarenreich denkt der schweigende
Finne sein ewiges "Noch wird es wieder Tag, noch ist nicht alles aus", und
dann mag sein Leiden Jahrhunderte hindurch währen -- einst wird die Stunde
der Befreiung schlagen. Die Wahrheitshoffnung dieses Traumes ist dem
finnischen Volke die realste aller Wirklichkeiten.

Doch die Geschichte ist nicht nur Traumdeuter, sondern auch ein strenger
Volkserzieher. Es ist eine wohlfeile Weisheit, wenn man ohne weiteres zu
wissen glaubt, daß alles, was durch die strenge Herrschaft einer Großmacht
einem unterdrücktem Volke wehend, ungerecht ist. Wir jammern nicht mit den
sentimentalen Tanten eines stöhnenden jungen Strolches, wenn der Direktor der
Besserungsanstalt den Burschen kraft höherer Autorität streng hält, weil er böse
Streiche gemacht hat. Ein Volk, das erwiesenermaßen als eigener Staat nicht hat
bestehen können, muß sich darein finden, unter die Zuchtrute anderer zu
kommen. Wenn die Heiligkeit der Staatsmacht einen Strahl ihres Hoheits-
heiligcnscheins nach dem anderen verliert und ein Reichstag, gleich den alten
polnischen Reichstagen, mit der Oberhoheit persönlicher Selbstsucht innerhalb
des Staatslebens endet, dann ist es an der Zeit, daß ein großpolitischer
Korrektionshausdirektor die Zügel der Regierung des Landes in seine Hände
nimmt. So weit geben wir dem Imperialismus recht. Aber weiter nicht.
Denn, wenn der Zuchtmeister seine Aufgabe darin sieht, anstatt eines Erziehers
ein Unterdrücker zu sein, dann gehen unsere Sympathien auf den Unterdrückten
über, was er auch getan haben möge. So sind wir Skandinavier in unseren
Gefühlen. Wenn wir uns nun darin von den meisten anderen Völkern, größeren
sowohl wie kleineren, unterscheiden, so sehen wir darin wahrhaftig keine Ver¬
anlassung, an uns selber irre zu werden, sondern erblicken darin, umgekehrt,
einen der Wege, den unsere skandinavische Mission in der Welt zu gehen hat.


Skandinavien und der Krieg

seine Idealität trotz alledem Macht über die Wirklichkeit besitzt und den Fort¬
schritt verbürgt. Zu diesen ewigen Ideen gehört der Nationalitätsgedanke.
Rühret daran, und ihr rührt an etwas Heiligem. Vergreift euch daran, und
ihr versündigt euch an dem heiligen Geiste der Menschheit, was die Nemesis
der Geschichte nie verzeiht. Die Weltreiche, die auf Verletzung der Rechte unter¬
drückter Völker errichtet worden find, werden dereinst, vom himmlischen Blitze
getroffen, zusammenstürzen. Alle formalen Staatsverbande ohne realen Samm¬
lungstrieb tragen den Keim der Auflösung in sich. So weit, wie die Gro߬
mächte ganz und gar sie selbst sind, haben sie die Zukunft für sich, aber auf
den Gebieten, wo ihre Reiche durch die Freiheitssehnsucht unterdrückter Völker
untergraben werden, muß früher oder später eine nationalbestimmte Aufteilung
von Staat und Boden stattfinden, damit dem Wesen des Lebens sein Recht
werde. Der Krankheiten der Menschheit sind viele, und die Geschichte ist der
Arzt, der manchmal ohne Zaudern ganze Völker wegoperiert, wenn ihnen das
lebendige Nationalgefühl — die einzige Daseinsberechtigung eines Volkes —
fehlt; ist dieses aber vorhanden, dann ist es auf die Dauer unwiderstehlich.
Bei jeder Rechtsverletzung durch das russische Zarenreich denkt der schweigende
Finne sein ewiges „Noch wird es wieder Tag, noch ist nicht alles aus", und
dann mag sein Leiden Jahrhunderte hindurch währen — einst wird die Stunde
der Befreiung schlagen. Die Wahrheitshoffnung dieses Traumes ist dem
finnischen Volke die realste aller Wirklichkeiten.

Doch die Geschichte ist nicht nur Traumdeuter, sondern auch ein strenger
Volkserzieher. Es ist eine wohlfeile Weisheit, wenn man ohne weiteres zu
wissen glaubt, daß alles, was durch die strenge Herrschaft einer Großmacht
einem unterdrücktem Volke wehend, ungerecht ist. Wir jammern nicht mit den
sentimentalen Tanten eines stöhnenden jungen Strolches, wenn der Direktor der
Besserungsanstalt den Burschen kraft höherer Autorität streng hält, weil er böse
Streiche gemacht hat. Ein Volk, das erwiesenermaßen als eigener Staat nicht hat
bestehen können, muß sich darein finden, unter die Zuchtrute anderer zu
kommen. Wenn die Heiligkeit der Staatsmacht einen Strahl ihres Hoheits-
heiligcnscheins nach dem anderen verliert und ein Reichstag, gleich den alten
polnischen Reichstagen, mit der Oberhoheit persönlicher Selbstsucht innerhalb
des Staatslebens endet, dann ist es an der Zeit, daß ein großpolitischer
Korrektionshausdirektor die Zügel der Regierung des Landes in seine Hände
nimmt. So weit geben wir dem Imperialismus recht. Aber weiter nicht.
Denn, wenn der Zuchtmeister seine Aufgabe darin sieht, anstatt eines Erziehers
ein Unterdrücker zu sein, dann gehen unsere Sympathien auf den Unterdrückten
über, was er auch getan haben möge. So sind wir Skandinavier in unseren
Gefühlen. Wenn wir uns nun darin von den meisten anderen Völkern, größeren
sowohl wie kleineren, unterscheiden, so sehen wir darin wahrhaftig keine Ver¬
anlassung, an uns selber irre zu werden, sondern erblicken darin, umgekehrt,
einen der Wege, den unsere skandinavische Mission in der Welt zu gehen hat.


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[0304] Skandinavien und der Krieg seine Idealität trotz alledem Macht über die Wirklichkeit besitzt und den Fort¬ schritt verbürgt. Zu diesen ewigen Ideen gehört der Nationalitätsgedanke. Rühret daran, und ihr rührt an etwas Heiligem. Vergreift euch daran, und ihr versündigt euch an dem heiligen Geiste der Menschheit, was die Nemesis der Geschichte nie verzeiht. Die Weltreiche, die auf Verletzung der Rechte unter¬ drückter Völker errichtet worden find, werden dereinst, vom himmlischen Blitze getroffen, zusammenstürzen. Alle formalen Staatsverbande ohne realen Samm¬ lungstrieb tragen den Keim der Auflösung in sich. So weit, wie die Gro߬ mächte ganz und gar sie selbst sind, haben sie die Zukunft für sich, aber auf den Gebieten, wo ihre Reiche durch die Freiheitssehnsucht unterdrückter Völker untergraben werden, muß früher oder später eine nationalbestimmte Aufteilung von Staat und Boden stattfinden, damit dem Wesen des Lebens sein Recht werde. Der Krankheiten der Menschheit sind viele, und die Geschichte ist der Arzt, der manchmal ohne Zaudern ganze Völker wegoperiert, wenn ihnen das lebendige Nationalgefühl — die einzige Daseinsberechtigung eines Volkes — fehlt; ist dieses aber vorhanden, dann ist es auf die Dauer unwiderstehlich. Bei jeder Rechtsverletzung durch das russische Zarenreich denkt der schweigende Finne sein ewiges „Noch wird es wieder Tag, noch ist nicht alles aus", und dann mag sein Leiden Jahrhunderte hindurch währen — einst wird die Stunde der Befreiung schlagen. Die Wahrheitshoffnung dieses Traumes ist dem finnischen Volke die realste aller Wirklichkeiten. Doch die Geschichte ist nicht nur Traumdeuter, sondern auch ein strenger Volkserzieher. Es ist eine wohlfeile Weisheit, wenn man ohne weiteres zu wissen glaubt, daß alles, was durch die strenge Herrschaft einer Großmacht einem unterdrücktem Volke wehend, ungerecht ist. Wir jammern nicht mit den sentimentalen Tanten eines stöhnenden jungen Strolches, wenn der Direktor der Besserungsanstalt den Burschen kraft höherer Autorität streng hält, weil er böse Streiche gemacht hat. Ein Volk, das erwiesenermaßen als eigener Staat nicht hat bestehen können, muß sich darein finden, unter die Zuchtrute anderer zu kommen. Wenn die Heiligkeit der Staatsmacht einen Strahl ihres Hoheits- heiligcnscheins nach dem anderen verliert und ein Reichstag, gleich den alten polnischen Reichstagen, mit der Oberhoheit persönlicher Selbstsucht innerhalb des Staatslebens endet, dann ist es an der Zeit, daß ein großpolitischer Korrektionshausdirektor die Zügel der Regierung des Landes in seine Hände nimmt. So weit geben wir dem Imperialismus recht. Aber weiter nicht. Denn, wenn der Zuchtmeister seine Aufgabe darin sieht, anstatt eines Erziehers ein Unterdrücker zu sein, dann gehen unsere Sympathien auf den Unterdrückten über, was er auch getan haben möge. So sind wir Skandinavier in unseren Gefühlen. Wenn wir uns nun darin von den meisten anderen Völkern, größeren sowohl wie kleineren, unterscheiden, so sehen wir darin wahrhaftig keine Ver¬ anlassung, an uns selber irre zu werden, sondern erblicken darin, umgekehrt, einen der Wege, den unsere skandinavische Mission in der Welt zu gehen hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/304>, abgerufen am 25.08.2024.