Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Innenkämpfe Großbritanniens

England im Notkriege den bewußten Zwang gewisser internationaler, sozialistischer
und quasisozialistischer Ideen unter dem Schutz von Militärgesetzen anwendet.
Jetzt ist der Glaube an den "Zooä will" der "KiZn-3ouIeä, pureminäecZ
nation" recht tüchtig ausgeschaltet. Jetzt überspannt das englische
Kabinett die Autokratie des Staates, weil England seit längerer Zeit schon
eine Disharmonie zwischen Staats- und Jndimdualwillen hat emporwachsen
lassen. Jawohl, das hat die Insel "der idealen Konstitution" fertig gebracht.
Bei uns in Deutschland ist aus der festen Staatsgewalt die tüchtige Bürger¬
freiheit als Blüte erwachsen. In England entsteht jetzt ein furchtbarer Staats¬
zwang als Gegengewicht gegen das Überwuchern eines lässigen Individualismus. Und
interessant ist es zu beobachten, wie viel einschneidender, eingreifender dieser
mechanische, modern-bewußte, von dem internationalen Sozialismus berührte
Staatszwang im Verhältnis zu unserer historisch-wohlgepflegten Staatsgewalt
ist. England überspannt jetzt den Lompulsory Service der Arbeit, weil es
keinen festen Kollektivwillen weder der Arbeit, noch der Arbeitsverteidigung besitzt.

Man lese die letzten englischen Bills: zuerst den Paragraphen, der das
obligatorische, von der Regierung kontrollierte Schiedsgericht bei Lohnstreitigkeiten
vorschreibt. Man lese weiter den Paragraphen, der den Paßzwang für Industrie¬
arbeiter vorschreibt, der einer Kategorie dieser Leute die Freizügigkeit tatsächlich
verbietet. Weiter kann man im Lande der 1>aäe l^nions wohl kaum gehen.
Aber die Iraäe Unions haben freilich derartiges selbst hervorgerufen -- mit ihrem
mangelnden Verständnis für die Erfordernisse des Krieges. Doch sie mußten
ähnliches hervorrufen bei der sozialen Ungerechtigkeit, bei der immer unproduktiveren
Struktur des Jnsular-Kapitalismus. Dieser Kapitalismus. Englands schärfster
Individualismus, hat der Insel die jetzige sozialistisch-berührte, soziale Überspannung,
hat das Wesen des David Lloyd Georges selbst verschuldet. Diese soziale
Überspannung ist ja -- wie schon angedeutet -- Reaktion gegen den Auswuchs
des englischen Egoismus, gegen diesen ausgesprochen insularen Individualismus,
der im zuerst großzügig industrialisierten England des beginnenden neunzehnten
Jahrhunderts und noch in dessen Mitte die starke, produktive Arbeit an sich
stählte, der aber nun pathologisch, faul, Snobismus und Substanz einer
spielerischen, höchstens harter Zams mit Freuden einstreichenden Plutokratis
geworden ist. Auf der einen Seite dehnt sich und gähnt dieser Gentlemen --
Kapitalismus, ohne vollgültigen Wert -- ohne Fortschritt zu schaffen oder zu unter¬
stützen, und auf der anderen Seite verschuldet gerade er zum größten Teil das
furchtbare, englische Elend der falschen Geldverteilung, der unregelmäßigen Arbeits¬
entlohnung mit den törichten Wochenverdienst-Kurven, er verschuldet endlich so
die Schwächung der Arbeitsgelegenheit für viele willige Hände der Nation. Dieser
Individualismus hat verursacht, daß der englische Handarbeiter in nationalen
Spannungszeiten, also auch jetzt im Kriege, die Disharmonie zwischen seinem
armen Leben, seinem ungeregelten Lohnarbeitserfolg und zwischen dem Daseins¬
triumph des oberen und fetten Mittelstandes ganz besonders bitter erkennen


Innenkämpfe Großbritanniens

England im Notkriege den bewußten Zwang gewisser internationaler, sozialistischer
und quasisozialistischer Ideen unter dem Schutz von Militärgesetzen anwendet.
Jetzt ist der Glaube an den „Zooä will" der „KiZn-3ouIeä, pureminäecZ
nation" recht tüchtig ausgeschaltet. Jetzt überspannt das englische
Kabinett die Autokratie des Staates, weil England seit längerer Zeit schon
eine Disharmonie zwischen Staats- und Jndimdualwillen hat emporwachsen
lassen. Jawohl, das hat die Insel „der idealen Konstitution" fertig gebracht.
Bei uns in Deutschland ist aus der festen Staatsgewalt die tüchtige Bürger¬
freiheit als Blüte erwachsen. In England entsteht jetzt ein furchtbarer Staats¬
zwang als Gegengewicht gegen das Überwuchern eines lässigen Individualismus. Und
interessant ist es zu beobachten, wie viel einschneidender, eingreifender dieser
mechanische, modern-bewußte, von dem internationalen Sozialismus berührte
Staatszwang im Verhältnis zu unserer historisch-wohlgepflegten Staatsgewalt
ist. England überspannt jetzt den Lompulsory Service der Arbeit, weil es
keinen festen Kollektivwillen weder der Arbeit, noch der Arbeitsverteidigung besitzt.

Man lese die letzten englischen Bills: zuerst den Paragraphen, der das
obligatorische, von der Regierung kontrollierte Schiedsgericht bei Lohnstreitigkeiten
vorschreibt. Man lese weiter den Paragraphen, der den Paßzwang für Industrie¬
arbeiter vorschreibt, der einer Kategorie dieser Leute die Freizügigkeit tatsächlich
verbietet. Weiter kann man im Lande der 1>aäe l^nions wohl kaum gehen.
Aber die Iraäe Unions haben freilich derartiges selbst hervorgerufen — mit ihrem
mangelnden Verständnis für die Erfordernisse des Krieges. Doch sie mußten
ähnliches hervorrufen bei der sozialen Ungerechtigkeit, bei der immer unproduktiveren
Struktur des Jnsular-Kapitalismus. Dieser Kapitalismus. Englands schärfster
Individualismus, hat der Insel die jetzige sozialistisch-berührte, soziale Überspannung,
hat das Wesen des David Lloyd Georges selbst verschuldet. Diese soziale
Überspannung ist ja — wie schon angedeutet — Reaktion gegen den Auswuchs
des englischen Egoismus, gegen diesen ausgesprochen insularen Individualismus,
der im zuerst großzügig industrialisierten England des beginnenden neunzehnten
Jahrhunderts und noch in dessen Mitte die starke, produktive Arbeit an sich
stählte, der aber nun pathologisch, faul, Snobismus und Substanz einer
spielerischen, höchstens harter Zams mit Freuden einstreichenden Plutokratis
geworden ist. Auf der einen Seite dehnt sich und gähnt dieser Gentlemen —
Kapitalismus, ohne vollgültigen Wert — ohne Fortschritt zu schaffen oder zu unter¬
stützen, und auf der anderen Seite verschuldet gerade er zum größten Teil das
furchtbare, englische Elend der falschen Geldverteilung, der unregelmäßigen Arbeits¬
entlohnung mit den törichten Wochenverdienst-Kurven, er verschuldet endlich so
die Schwächung der Arbeitsgelegenheit für viele willige Hände der Nation. Dieser
Individualismus hat verursacht, daß der englische Handarbeiter in nationalen
Spannungszeiten, also auch jetzt im Kriege, die Disharmonie zwischen seinem
armen Leben, seinem ungeregelten Lohnarbeitserfolg und zwischen dem Daseins¬
triumph des oberen und fetten Mittelstandes ganz besonders bitter erkennen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0286" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324259"/>
          <fw type="header" place="top"> Innenkämpfe Großbritanniens</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_881" prev="#ID_880"> England im Notkriege den bewußten Zwang gewisser internationaler, sozialistischer<lb/>
und quasisozialistischer Ideen unter dem Schutz von Militärgesetzen anwendet.<lb/>
Jetzt ist der Glaube an den &#x201E;Zooä will" der &#x201E;KiZn-3ouIeä, pureminäecZ<lb/>
nation" recht tüchtig ausgeschaltet. Jetzt überspannt das englische<lb/>
Kabinett die Autokratie des Staates, weil England seit längerer Zeit schon<lb/>
eine Disharmonie zwischen Staats- und Jndimdualwillen hat emporwachsen<lb/>
lassen. Jawohl, das hat die Insel &#x201E;der idealen Konstitution" fertig gebracht.<lb/>
Bei uns in Deutschland ist aus der festen Staatsgewalt die tüchtige Bürger¬<lb/>
freiheit als Blüte erwachsen. In England entsteht jetzt ein furchtbarer Staats¬<lb/>
zwang als Gegengewicht gegen das Überwuchern eines lässigen Individualismus. Und<lb/>
interessant ist es zu beobachten, wie viel einschneidender, eingreifender dieser<lb/>
mechanische, modern-bewußte, von dem internationalen Sozialismus berührte<lb/>
Staatszwang im Verhältnis zu unserer historisch-wohlgepflegten Staatsgewalt<lb/>
ist. England überspannt jetzt den Lompulsory Service der Arbeit, weil es<lb/>
keinen festen Kollektivwillen weder der Arbeit, noch der Arbeitsverteidigung besitzt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_882" next="#ID_883"> Man lese die letzten englischen Bills: zuerst den Paragraphen, der das<lb/>
obligatorische, von der Regierung kontrollierte Schiedsgericht bei Lohnstreitigkeiten<lb/>
vorschreibt. Man lese weiter den Paragraphen, der den Paßzwang für Industrie¬<lb/>
arbeiter vorschreibt, der einer Kategorie dieser Leute die Freizügigkeit tatsächlich<lb/>
verbietet. Weiter kann man im Lande der 1&gt;aäe l^nions wohl kaum gehen.<lb/>
Aber die Iraäe Unions haben freilich derartiges selbst hervorgerufen &#x2014; mit ihrem<lb/>
mangelnden Verständnis für die Erfordernisse des Krieges. Doch sie mußten<lb/>
ähnliches hervorrufen bei der sozialen Ungerechtigkeit, bei der immer unproduktiveren<lb/>
Struktur des Jnsular-Kapitalismus. Dieser Kapitalismus. Englands schärfster<lb/>
Individualismus, hat der Insel die jetzige sozialistisch-berührte, soziale Überspannung,<lb/>
hat das Wesen des David Lloyd Georges selbst verschuldet. Diese soziale<lb/>
Überspannung ist ja &#x2014; wie schon angedeutet &#x2014; Reaktion gegen den Auswuchs<lb/>
des englischen Egoismus, gegen diesen ausgesprochen insularen Individualismus,<lb/>
der im zuerst großzügig industrialisierten England des beginnenden neunzehnten<lb/>
Jahrhunderts und noch in dessen Mitte die starke, produktive Arbeit an sich<lb/>
stählte, der aber nun pathologisch, faul, Snobismus und Substanz einer<lb/>
spielerischen, höchstens harter Zams mit Freuden einstreichenden Plutokratis<lb/>
geworden ist. Auf der einen Seite dehnt sich und gähnt dieser Gentlemen &#x2014;<lb/>
Kapitalismus, ohne vollgültigen Wert &#x2014; ohne Fortschritt zu schaffen oder zu unter¬<lb/>
stützen, und auf der anderen Seite verschuldet gerade er zum größten Teil das<lb/>
furchtbare, englische Elend der falschen Geldverteilung, der unregelmäßigen Arbeits¬<lb/>
entlohnung mit den törichten Wochenverdienst-Kurven, er verschuldet endlich so<lb/>
die Schwächung der Arbeitsgelegenheit für viele willige Hände der Nation. Dieser<lb/>
Individualismus hat verursacht, daß der englische Handarbeiter in nationalen<lb/>
Spannungszeiten, also auch jetzt im Kriege, die Disharmonie zwischen seinem<lb/>
armen Leben, seinem ungeregelten Lohnarbeitserfolg und zwischen dem Daseins¬<lb/>
triumph des oberen und fetten Mittelstandes ganz besonders bitter erkennen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0286] Innenkämpfe Großbritanniens England im Notkriege den bewußten Zwang gewisser internationaler, sozialistischer und quasisozialistischer Ideen unter dem Schutz von Militärgesetzen anwendet. Jetzt ist der Glaube an den „Zooä will" der „KiZn-3ouIeä, pureminäecZ nation" recht tüchtig ausgeschaltet. Jetzt überspannt das englische Kabinett die Autokratie des Staates, weil England seit längerer Zeit schon eine Disharmonie zwischen Staats- und Jndimdualwillen hat emporwachsen lassen. Jawohl, das hat die Insel „der idealen Konstitution" fertig gebracht. Bei uns in Deutschland ist aus der festen Staatsgewalt die tüchtige Bürger¬ freiheit als Blüte erwachsen. In England entsteht jetzt ein furchtbarer Staats¬ zwang als Gegengewicht gegen das Überwuchern eines lässigen Individualismus. Und interessant ist es zu beobachten, wie viel einschneidender, eingreifender dieser mechanische, modern-bewußte, von dem internationalen Sozialismus berührte Staatszwang im Verhältnis zu unserer historisch-wohlgepflegten Staatsgewalt ist. England überspannt jetzt den Lompulsory Service der Arbeit, weil es keinen festen Kollektivwillen weder der Arbeit, noch der Arbeitsverteidigung besitzt. Man lese die letzten englischen Bills: zuerst den Paragraphen, der das obligatorische, von der Regierung kontrollierte Schiedsgericht bei Lohnstreitigkeiten vorschreibt. Man lese weiter den Paragraphen, der den Paßzwang für Industrie¬ arbeiter vorschreibt, der einer Kategorie dieser Leute die Freizügigkeit tatsächlich verbietet. Weiter kann man im Lande der 1>aäe l^nions wohl kaum gehen. Aber die Iraäe Unions haben freilich derartiges selbst hervorgerufen — mit ihrem mangelnden Verständnis für die Erfordernisse des Krieges. Doch sie mußten ähnliches hervorrufen bei der sozialen Ungerechtigkeit, bei der immer unproduktiveren Struktur des Jnsular-Kapitalismus. Dieser Kapitalismus. Englands schärfster Individualismus, hat der Insel die jetzige sozialistisch-berührte, soziale Überspannung, hat das Wesen des David Lloyd Georges selbst verschuldet. Diese soziale Überspannung ist ja — wie schon angedeutet — Reaktion gegen den Auswuchs des englischen Egoismus, gegen diesen ausgesprochen insularen Individualismus, der im zuerst großzügig industrialisierten England des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts und noch in dessen Mitte die starke, produktive Arbeit an sich stählte, der aber nun pathologisch, faul, Snobismus und Substanz einer spielerischen, höchstens harter Zams mit Freuden einstreichenden Plutokratis geworden ist. Auf der einen Seite dehnt sich und gähnt dieser Gentlemen — Kapitalismus, ohne vollgültigen Wert — ohne Fortschritt zu schaffen oder zu unter¬ stützen, und auf der anderen Seite verschuldet gerade er zum größten Teil das furchtbare, englische Elend der falschen Geldverteilung, der unregelmäßigen Arbeits¬ entlohnung mit den törichten Wochenverdienst-Kurven, er verschuldet endlich so die Schwächung der Arbeitsgelegenheit für viele willige Hände der Nation. Dieser Individualismus hat verursacht, daß der englische Handarbeiter in nationalen Spannungszeiten, also auch jetzt im Kriege, die Disharmonie zwischen seinem armen Leben, seinem ungeregelten Lohnarbeitserfolg und zwischen dem Daseins¬ triumph des oberen und fetten Mittelstandes ganz besonders bitter erkennen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/286
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/286>, abgerufen am 23.07.2024.