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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Ostfront des Weltkrieges

im Osten des Dniepr. Der Schlagbaum müßte aus vier selbständigen Staaten
vom Eismeere bis an das Schwarze Meer bestehen, nämlich aus Finnland, den
Ostseeprovinzen, Polen und der Ukraina im Anschlusse an einen mitteleuropäischen
Staatenbund. Damit wäre Rußland wieder zu sich selbst mit Moskau als Mittel¬
punkt zurückgeführt, den Welteroberertendenzen ein Ende gemacht und die unter¬
drückten Völker, auf deren Kosten das Zarenreich seinen unnatürlichen Vormarsch
in Mitteleuropa hat machen können, befreit.

Das Seensystem des Peipus und die vielen kleinen Seen um Dünaburg
herum markieren die Volks-, Sprach- und Naturgrenze zwischen Rußland und
den drei Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland. Bei der Volkszählung
1397 hatte Estland 412000 Einwohner, unter denen es nur 20000 Russen
gab, während 22000 Deutsche und 6000 Schweden waren. Die Volksmehrheit
besteht aus Ehlen, einem Zweige des finnischen Volksstammes. Die Hauptsprache
ist das Estnische, während die gebildete Klasse Deutsch spricht und in einigen
Gegenden der Westküste sowie auf den meisten Inseln schwedisch gesprochen wird.
Die Russifizierungsarbeit mit Einführung der russischen Sprache in den Schulen
und Einsetzung russischer Beamten allerorten ist mit rücksichtsloser Strenge be¬
trieben worden, und nach dem Aufruhr der Ehlen im Jahre 1905 hat die
Regierung Strafexpeditionen unter dem Befehl adliger Offiziere dorthingesandt,
welche die Bauern knuten und auch erschießen ließen. Die Aufruhrbewegung
war auch gegen die deutschen Gutsherren gerichtet, weil es zur Russifikation
gehört, die Ehlen gegen die Deutschen aufzuhetzen, aber die Nemesis wollte,
daß der russische Autokratismus 1905 selber einen blutigen Kopf davontrug.

Livland wird hauptsächlich von Ehlen und Letten, einem der Sprache
nach indoeuropäischen Volksstamme, bewohnt, während die Russen bei der
letzten Volkszählung im Jahre 1897 nur fünf Prozent der 1295000 Köpfe
zählenden Bevölkerung betrugen, und die Deutschen sieben Prozent. Kurland
besaß 1910, nach Dr. Szerers schon erwähnter Studie in der Zeitschrift Polen,
741000 Einwohner, darunter 75 Prozent Letten und nur fünf Prozent Russen,
während die Deutschen auch hier sieben Prozent ausmachten.

Praktisch gesehen, existiert das russische Volk also in den Ostseeprovinzen,
in Polen und in der Ukraina nicht. Die von der Natur gegebene Grenze
zwischen Rußland und Mitteleuropa liegt im Osten dieser Länder. Aber die
russische Gewaltpolitik hat sich nicht um die Ordnung der Natur gekümmert,
sondern durch brutale Machtentwicklung seine Grenzvölker niedergetreten, um
die Ufer der Meere, welche die Natur nie für die Russen bestimmt hatte, zu
erreichen. Die Folge davon ist eine Mißregierung ohnegleichen innerhalb
ihres Anteiles in Europa gewesen, wo der russische Koloß ohne andere Aufgabe
als die, eine höhere Kultur zu beseitigen, vorgerückt ist.

Diesem Heereszuge der Unkultur in das Zentrum Europas hinein haben
nun Deutschland und Österreich-Ungarn ihre Armeen entgegengestellt. Es kann
uns nicht anders als ein Abfall von den Verpflichtungen der Zivilisation


Die Ostfront des Weltkrieges

im Osten des Dniepr. Der Schlagbaum müßte aus vier selbständigen Staaten
vom Eismeere bis an das Schwarze Meer bestehen, nämlich aus Finnland, den
Ostseeprovinzen, Polen und der Ukraina im Anschlusse an einen mitteleuropäischen
Staatenbund. Damit wäre Rußland wieder zu sich selbst mit Moskau als Mittel¬
punkt zurückgeführt, den Welteroberertendenzen ein Ende gemacht und die unter¬
drückten Völker, auf deren Kosten das Zarenreich seinen unnatürlichen Vormarsch
in Mitteleuropa hat machen können, befreit.

Das Seensystem des Peipus und die vielen kleinen Seen um Dünaburg
herum markieren die Volks-, Sprach- und Naturgrenze zwischen Rußland und
den drei Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland. Bei der Volkszählung
1397 hatte Estland 412000 Einwohner, unter denen es nur 20000 Russen
gab, während 22000 Deutsche und 6000 Schweden waren. Die Volksmehrheit
besteht aus Ehlen, einem Zweige des finnischen Volksstammes. Die Hauptsprache
ist das Estnische, während die gebildete Klasse Deutsch spricht und in einigen
Gegenden der Westküste sowie auf den meisten Inseln schwedisch gesprochen wird.
Die Russifizierungsarbeit mit Einführung der russischen Sprache in den Schulen
und Einsetzung russischer Beamten allerorten ist mit rücksichtsloser Strenge be¬
trieben worden, und nach dem Aufruhr der Ehlen im Jahre 1905 hat die
Regierung Strafexpeditionen unter dem Befehl adliger Offiziere dorthingesandt,
welche die Bauern knuten und auch erschießen ließen. Die Aufruhrbewegung
war auch gegen die deutschen Gutsherren gerichtet, weil es zur Russifikation
gehört, die Ehlen gegen die Deutschen aufzuhetzen, aber die Nemesis wollte,
daß der russische Autokratismus 1905 selber einen blutigen Kopf davontrug.

Livland wird hauptsächlich von Ehlen und Letten, einem der Sprache
nach indoeuropäischen Volksstamme, bewohnt, während die Russen bei der
letzten Volkszählung im Jahre 1897 nur fünf Prozent der 1295000 Köpfe
zählenden Bevölkerung betrugen, und die Deutschen sieben Prozent. Kurland
besaß 1910, nach Dr. Szerers schon erwähnter Studie in der Zeitschrift Polen,
741000 Einwohner, darunter 75 Prozent Letten und nur fünf Prozent Russen,
während die Deutschen auch hier sieben Prozent ausmachten.

Praktisch gesehen, existiert das russische Volk also in den Ostseeprovinzen,
in Polen und in der Ukraina nicht. Die von der Natur gegebene Grenze
zwischen Rußland und Mitteleuropa liegt im Osten dieser Länder. Aber die
russische Gewaltpolitik hat sich nicht um die Ordnung der Natur gekümmert,
sondern durch brutale Machtentwicklung seine Grenzvölker niedergetreten, um
die Ufer der Meere, welche die Natur nie für die Russen bestimmt hatte, zu
erreichen. Die Folge davon ist eine Mißregierung ohnegleichen innerhalb
ihres Anteiles in Europa gewesen, wo der russische Koloß ohne andere Aufgabe
als die, eine höhere Kultur zu beseitigen, vorgerückt ist.

Diesem Heereszuge der Unkultur in das Zentrum Europas hinein haben
nun Deutschland und Österreich-Ungarn ihre Armeen entgegengestellt. Es kann
uns nicht anders als ein Abfall von den Verpflichtungen der Zivilisation


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[0256] Die Ostfront des Weltkrieges im Osten des Dniepr. Der Schlagbaum müßte aus vier selbständigen Staaten vom Eismeere bis an das Schwarze Meer bestehen, nämlich aus Finnland, den Ostseeprovinzen, Polen und der Ukraina im Anschlusse an einen mitteleuropäischen Staatenbund. Damit wäre Rußland wieder zu sich selbst mit Moskau als Mittel¬ punkt zurückgeführt, den Welteroberertendenzen ein Ende gemacht und die unter¬ drückten Völker, auf deren Kosten das Zarenreich seinen unnatürlichen Vormarsch in Mitteleuropa hat machen können, befreit. Das Seensystem des Peipus und die vielen kleinen Seen um Dünaburg herum markieren die Volks-, Sprach- und Naturgrenze zwischen Rußland und den drei Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland. Bei der Volkszählung 1397 hatte Estland 412000 Einwohner, unter denen es nur 20000 Russen gab, während 22000 Deutsche und 6000 Schweden waren. Die Volksmehrheit besteht aus Ehlen, einem Zweige des finnischen Volksstammes. Die Hauptsprache ist das Estnische, während die gebildete Klasse Deutsch spricht und in einigen Gegenden der Westküste sowie auf den meisten Inseln schwedisch gesprochen wird. Die Russifizierungsarbeit mit Einführung der russischen Sprache in den Schulen und Einsetzung russischer Beamten allerorten ist mit rücksichtsloser Strenge be¬ trieben worden, und nach dem Aufruhr der Ehlen im Jahre 1905 hat die Regierung Strafexpeditionen unter dem Befehl adliger Offiziere dorthingesandt, welche die Bauern knuten und auch erschießen ließen. Die Aufruhrbewegung war auch gegen die deutschen Gutsherren gerichtet, weil es zur Russifikation gehört, die Ehlen gegen die Deutschen aufzuhetzen, aber die Nemesis wollte, daß der russische Autokratismus 1905 selber einen blutigen Kopf davontrug. Livland wird hauptsächlich von Ehlen und Letten, einem der Sprache nach indoeuropäischen Volksstamme, bewohnt, während die Russen bei der letzten Volkszählung im Jahre 1897 nur fünf Prozent der 1295000 Köpfe zählenden Bevölkerung betrugen, und die Deutschen sieben Prozent. Kurland besaß 1910, nach Dr. Szerers schon erwähnter Studie in der Zeitschrift Polen, 741000 Einwohner, darunter 75 Prozent Letten und nur fünf Prozent Russen, während die Deutschen auch hier sieben Prozent ausmachten. Praktisch gesehen, existiert das russische Volk also in den Ostseeprovinzen, in Polen und in der Ukraina nicht. Die von der Natur gegebene Grenze zwischen Rußland und Mitteleuropa liegt im Osten dieser Länder. Aber die russische Gewaltpolitik hat sich nicht um die Ordnung der Natur gekümmert, sondern durch brutale Machtentwicklung seine Grenzvölker niedergetreten, um die Ufer der Meere, welche die Natur nie für die Russen bestimmt hatte, zu erreichen. Die Folge davon ist eine Mißregierung ohnegleichen innerhalb ihres Anteiles in Europa gewesen, wo der russische Koloß ohne andere Aufgabe als die, eine höhere Kultur zu beseitigen, vorgerückt ist. Diesem Heereszuge der Unkultur in das Zentrum Europas hinein haben nun Deutschland und Österreich-Ungarn ihre Armeen entgegengestellt. Es kann uns nicht anders als ein Abfall von den Verpflichtungen der Zivilisation

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/256>, abgerufen am 03.07.2024.