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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Ostfront des Weltkrieges

In Polen bilden also die Nüssen eine außerordentlich geringe Anzahl der
Bevölkerung, nur ein Prozent nach mehr als hundertjährigem Besitze des Landes.
Jetzt tobt der Krieg in seiner vielleicht verheerendsten Gestalt in dem armen
Polen und Galizien. Dort haben die freiwilligen Legionen, die aus der Blüte
der polnischen Jugend bestehen, sich vor dem Zeitpunkte, da sie sich als Wehr¬
pflichtige zu den verschiedenen russischen Regimentern begeben mußten, schnell
der österreichischen Armee angeschlossen, überzeugt, daß in der Bedeutung des
Weltkrieges auch, und vor allem, Polens nationale Freiheit im Anschlusse an
die Zentralmächte enthalten sein muß. Also ein Staatsverband, denn sonst
könnte Polen für Deutschland und Österreich ein neues Serbien werden.

Das russische Polen, offiziell Weichselgouvernement genannt, wird im Osten
von den Flüssen Njemen, Bohr und Bug begrenzt. Dort müßte also das
eigentliche Rußland beginnen, aber die Bevölkerungsstatistik gibt andere Auf¬
klärungen. Längs der Ostgrenze Polens schließen sich im Norden und Osten
jener Flüsse die russischen Gouvernements Kowno, Wilna, Grodno und
Wolhynien an. Dort wohnen unter Polen. Nuthenen. Deutschen und anderen nur
wenige Russen; nach Prozenten der ganzen Bevölkerung berechnet folgende Anzahl:

Kowno . . 4,7 Prozent Grodno . . 4,6 Prozent
Wilna . . 4.9 Prozent Wolhynien . 3,5 Prozent

Gehen wir nun mit Hilfe der Bevölkerungsstatistik, wie sie in Szerers
interessanter Studie vorliegt, weiter ostwärts und südostwärt". Zu Litauen
und Weißrußland rechnet man die sechs Gouvernements Kowno, Wilna. Grodno,
Minsk, Witebsk und Mohylew. das heißt das russische Reich bis an die Dwina und
den Soz, einen Nebenfluß des Dniestr. In diesen Gouvernements wohnen
Zusammen nur 700000 Russen, während die Weißrussen gegen sieben Millionen,
die Ukrainer 460000 und die Polen beinahe anderthalb Million ausmachen. Zu
Kleinrußland werden die Gouvernements Wolhynien, Podolien und Kiew gezählt,
wo die Anzahl der Russen nur 532 000 beträgt, während die Ukrainer, die ja
~- wie wiederholt werden muß -- ein ganz anderes, wenn auch den Russen
der Rasse nach verwandtes Volk sind und trotz des bis 1905 bestehenden
russischen Verbotes ukrainischer Druckschriften noch immer eine eigene Sprache
sprechen, neuneinhalb Millionen und die Polen 817000 ausmachen. Nun
sind wir an den Dniepr gelangt und damit in die ukrainische Frage hinein¬
gekommen.

In Galizien leben der polnische Volksstamm und der ukrainische (die
Nuthenen) zusammen unter der humanen Herrschaft Österreich-Ungarns. Von
dort aus breiten sich die Polen nach Norden hin im russischen Polen aus und
die Nuthenen ostwärts, nordostwärts und südostwärts in Weißrußland und
Kleinrußland (der Ukraina). Unter dem Deckmantel des Panslawismus trachtet
nun Rußland danach, durch seinen Angriff auf Österreich-Ungarn die Nuthenen
in Galizien zu "befreien", eine freundliche Absicht, welche diese damit beantwortet
haben, daß sofort "der Bund zur Befreiung der Ukraina" gegen Rußland


Grenzboten III 1915 16
Die Ostfront des Weltkrieges

In Polen bilden also die Nüssen eine außerordentlich geringe Anzahl der
Bevölkerung, nur ein Prozent nach mehr als hundertjährigem Besitze des Landes.
Jetzt tobt der Krieg in seiner vielleicht verheerendsten Gestalt in dem armen
Polen und Galizien. Dort haben die freiwilligen Legionen, die aus der Blüte
der polnischen Jugend bestehen, sich vor dem Zeitpunkte, da sie sich als Wehr¬
pflichtige zu den verschiedenen russischen Regimentern begeben mußten, schnell
der österreichischen Armee angeschlossen, überzeugt, daß in der Bedeutung des
Weltkrieges auch, und vor allem, Polens nationale Freiheit im Anschlusse an
die Zentralmächte enthalten sein muß. Also ein Staatsverband, denn sonst
könnte Polen für Deutschland und Österreich ein neues Serbien werden.

Das russische Polen, offiziell Weichselgouvernement genannt, wird im Osten
von den Flüssen Njemen, Bohr und Bug begrenzt. Dort müßte also das
eigentliche Rußland beginnen, aber die Bevölkerungsstatistik gibt andere Auf¬
klärungen. Längs der Ostgrenze Polens schließen sich im Norden und Osten
jener Flüsse die russischen Gouvernements Kowno, Wilna, Grodno und
Wolhynien an. Dort wohnen unter Polen. Nuthenen. Deutschen und anderen nur
wenige Russen; nach Prozenten der ganzen Bevölkerung berechnet folgende Anzahl:

Kowno . . 4,7 Prozent Grodno . . 4,6 Prozent
Wilna . . 4.9 Prozent Wolhynien . 3,5 Prozent

Gehen wir nun mit Hilfe der Bevölkerungsstatistik, wie sie in Szerers
interessanter Studie vorliegt, weiter ostwärts und südostwärt«. Zu Litauen
und Weißrußland rechnet man die sechs Gouvernements Kowno, Wilna. Grodno,
Minsk, Witebsk und Mohylew. das heißt das russische Reich bis an die Dwina und
den Soz, einen Nebenfluß des Dniestr. In diesen Gouvernements wohnen
Zusammen nur 700000 Russen, während die Weißrussen gegen sieben Millionen,
die Ukrainer 460000 und die Polen beinahe anderthalb Million ausmachen. Zu
Kleinrußland werden die Gouvernements Wolhynien, Podolien und Kiew gezählt,
wo die Anzahl der Russen nur 532 000 beträgt, während die Ukrainer, die ja
~- wie wiederholt werden muß — ein ganz anderes, wenn auch den Russen
der Rasse nach verwandtes Volk sind und trotz des bis 1905 bestehenden
russischen Verbotes ukrainischer Druckschriften noch immer eine eigene Sprache
sprechen, neuneinhalb Millionen und die Polen 817000 ausmachen. Nun
sind wir an den Dniepr gelangt und damit in die ukrainische Frage hinein¬
gekommen.

In Galizien leben der polnische Volksstamm und der ukrainische (die
Nuthenen) zusammen unter der humanen Herrschaft Österreich-Ungarns. Von
dort aus breiten sich die Polen nach Norden hin im russischen Polen aus und
die Nuthenen ostwärts, nordostwärts und südostwärts in Weißrußland und
Kleinrußland (der Ukraina). Unter dem Deckmantel des Panslawismus trachtet
nun Rußland danach, durch seinen Angriff auf Österreich-Ungarn die Nuthenen
in Galizien zu „befreien", eine freundliche Absicht, welche diese damit beantwortet
haben, daß sofort „der Bund zur Befreiung der Ukraina" gegen Rußland


Grenzboten III 1915 16
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[0253] Die Ostfront des Weltkrieges In Polen bilden also die Nüssen eine außerordentlich geringe Anzahl der Bevölkerung, nur ein Prozent nach mehr als hundertjährigem Besitze des Landes. Jetzt tobt der Krieg in seiner vielleicht verheerendsten Gestalt in dem armen Polen und Galizien. Dort haben die freiwilligen Legionen, die aus der Blüte der polnischen Jugend bestehen, sich vor dem Zeitpunkte, da sie sich als Wehr¬ pflichtige zu den verschiedenen russischen Regimentern begeben mußten, schnell der österreichischen Armee angeschlossen, überzeugt, daß in der Bedeutung des Weltkrieges auch, und vor allem, Polens nationale Freiheit im Anschlusse an die Zentralmächte enthalten sein muß. Also ein Staatsverband, denn sonst könnte Polen für Deutschland und Österreich ein neues Serbien werden. Das russische Polen, offiziell Weichselgouvernement genannt, wird im Osten von den Flüssen Njemen, Bohr und Bug begrenzt. Dort müßte also das eigentliche Rußland beginnen, aber die Bevölkerungsstatistik gibt andere Auf¬ klärungen. Längs der Ostgrenze Polens schließen sich im Norden und Osten jener Flüsse die russischen Gouvernements Kowno, Wilna, Grodno und Wolhynien an. Dort wohnen unter Polen. Nuthenen. Deutschen und anderen nur wenige Russen; nach Prozenten der ganzen Bevölkerung berechnet folgende Anzahl: Kowno . . 4,7 Prozent Grodno . . 4,6 Prozent Wilna . . 4.9 Prozent Wolhynien . 3,5 Prozent Gehen wir nun mit Hilfe der Bevölkerungsstatistik, wie sie in Szerers interessanter Studie vorliegt, weiter ostwärts und südostwärt«. Zu Litauen und Weißrußland rechnet man die sechs Gouvernements Kowno, Wilna. Grodno, Minsk, Witebsk und Mohylew. das heißt das russische Reich bis an die Dwina und den Soz, einen Nebenfluß des Dniestr. In diesen Gouvernements wohnen Zusammen nur 700000 Russen, während die Weißrussen gegen sieben Millionen, die Ukrainer 460000 und die Polen beinahe anderthalb Million ausmachen. Zu Kleinrußland werden die Gouvernements Wolhynien, Podolien und Kiew gezählt, wo die Anzahl der Russen nur 532 000 beträgt, während die Ukrainer, die ja ~- wie wiederholt werden muß — ein ganz anderes, wenn auch den Russen der Rasse nach verwandtes Volk sind und trotz des bis 1905 bestehenden russischen Verbotes ukrainischer Druckschriften noch immer eine eigene Sprache sprechen, neuneinhalb Millionen und die Polen 817000 ausmachen. Nun sind wir an den Dniepr gelangt und damit in die ukrainische Frage hinein¬ gekommen. In Galizien leben der polnische Volksstamm und der ukrainische (die Nuthenen) zusammen unter der humanen Herrschaft Österreich-Ungarns. Von dort aus breiten sich die Polen nach Norden hin im russischen Polen aus und die Nuthenen ostwärts, nordostwärts und südostwärts in Weißrußland und Kleinrußland (der Ukraina). Unter dem Deckmantel des Panslawismus trachtet nun Rußland danach, durch seinen Angriff auf Österreich-Ungarn die Nuthenen in Galizien zu „befreien", eine freundliche Absicht, welche diese damit beantwortet haben, daß sofort „der Bund zur Befreiung der Ukraina" gegen Rußland Grenzboten III 1915 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/253>, abgerufen am 25.08.2024.