Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Ostfront des Weltkrieges

Das eigentliche russische Volk bilden die Moskowiter, die bei der letzten
Volkszählung im Jahre 1897 ganze 55,6 Millionen ausmachten und jetzt wohl
ungefähr 70 Millionen betragen dürften. Bei diesem an Moskau als Mittel¬
punkt geschichtlich geknüpften Flußvolke innerhalb des gewaltigen Stromgebietes
der Wolga gibt es kein naturbestimmtes Verlangen nach dem Atlantischen
Ozeane oder nach dem Mittelmeere, sondern die russische Meerespolitik wird
durch den von Welterobererträumen beseelten russischen Imperialismus vor¬
geschoben. Das offizielle Rußland hat dabei eingesehen, daß es niemals an das
Mittelmeer, da heißt an den Bosporus und die Dardanellen, gelangen kann, ohne
das deutsche Schwert zu beseitigen, das nicht nur zum direkten Schutze Deutsch--
lands geschliffen ist, sondern auch zu seinem indirekten im Abwehren des Hiebes,
welchen Rußland gegen Österreich, den nächsten hinabgelassenen Schlagbaum,
der die russische Mittelmeerpolitik hindert, richten will. Deutschland bedarf
Österreichs als handelspolitischer Abrundung nach dem Balkan und dem Mittel¬
meere hin. In seiner beim Kriegsausbruch herausgegebenen Broschüre "Sein
oder Nichtsein" sagt der Geschichtsprofessor der Berliner Universität Dr. Dietrich
Schäfer: "Heute darf nur eine Erwägung, eine Überzeugung wirksam sein: unseres
Reiches Bestand hängt an dem der österreichisch-ungarischen Monarchie". Dieses
Faktum bindet Rußland an Frankreich, dessen Verlangen nach Rache für die 1870/71
erlittene Niederlage die einzig begreifliche Ursache des Bündnisses zwischen der roten
Republik um Paris herum und dem sibirischdunklen Zarenreiche gewesen ist.

Seit 1398 hat im russischen Reiche keine Volkszählung stattgefunden, aber
vermittelst Berechnung des Prozentzuwachses der verschiedenen Völker in Rußland
ist es Dr. Szerer gelungen, im ersten Jahrgange (1915) der Zeitschrift Polen
aus verschiedenen Quellen einen interessanten Bericht darüber vorzulegen.
Rußland hat im Kriege seine größte Kraft eingesetzt, um Österreich-Ungarn
durch Eroberung Galizien zu nehmen und dadurch näher an das Mittelmeer heran¬
zukommen. Doch welche Völker bewohnen nun Galizien? Dort wohnen mehr
als vier Millionen Polen, mehr als drei Millionen Ruthenen (Ukrainer) und
90 000 Deutsche, also hauptsächlich Polen (meistens in Westgaltzien) und
Ruthenen (besonders in Ostgalizien), aber so gut wie gar keine Russen. Der
Krieg ist demnach ein neuer Ausbruch der russischen Gewaltpolitik: vorwärts
über die Leichen anderer Völker.

Nach Szerers genauer Untersuchung wohnen im russischen Polen

(im Jahre 1907)(im Jahre 1910)
Polen73.4Prozent8 908 900 Einwohner
Juden13.71 660 490 "
Deutsche5.1/?618 590
Ruderer3,5"426 950
Litauer2.8"337 190
Russen1.1134 630
Weißrussen0,25v30 320

Die Ostfront des Weltkrieges

Das eigentliche russische Volk bilden die Moskowiter, die bei der letzten
Volkszählung im Jahre 1897 ganze 55,6 Millionen ausmachten und jetzt wohl
ungefähr 70 Millionen betragen dürften. Bei diesem an Moskau als Mittel¬
punkt geschichtlich geknüpften Flußvolke innerhalb des gewaltigen Stromgebietes
der Wolga gibt es kein naturbestimmtes Verlangen nach dem Atlantischen
Ozeane oder nach dem Mittelmeere, sondern die russische Meerespolitik wird
durch den von Welterobererträumen beseelten russischen Imperialismus vor¬
geschoben. Das offizielle Rußland hat dabei eingesehen, daß es niemals an das
Mittelmeer, da heißt an den Bosporus und die Dardanellen, gelangen kann, ohne
das deutsche Schwert zu beseitigen, das nicht nur zum direkten Schutze Deutsch--
lands geschliffen ist, sondern auch zu seinem indirekten im Abwehren des Hiebes,
welchen Rußland gegen Österreich, den nächsten hinabgelassenen Schlagbaum,
der die russische Mittelmeerpolitik hindert, richten will. Deutschland bedarf
Österreichs als handelspolitischer Abrundung nach dem Balkan und dem Mittel¬
meere hin. In seiner beim Kriegsausbruch herausgegebenen Broschüre „Sein
oder Nichtsein" sagt der Geschichtsprofessor der Berliner Universität Dr. Dietrich
Schäfer: „Heute darf nur eine Erwägung, eine Überzeugung wirksam sein: unseres
Reiches Bestand hängt an dem der österreichisch-ungarischen Monarchie". Dieses
Faktum bindet Rußland an Frankreich, dessen Verlangen nach Rache für die 1870/71
erlittene Niederlage die einzig begreifliche Ursache des Bündnisses zwischen der roten
Republik um Paris herum und dem sibirischdunklen Zarenreiche gewesen ist.

Seit 1398 hat im russischen Reiche keine Volkszählung stattgefunden, aber
vermittelst Berechnung des Prozentzuwachses der verschiedenen Völker in Rußland
ist es Dr. Szerer gelungen, im ersten Jahrgange (1915) der Zeitschrift Polen
aus verschiedenen Quellen einen interessanten Bericht darüber vorzulegen.
Rußland hat im Kriege seine größte Kraft eingesetzt, um Österreich-Ungarn
durch Eroberung Galizien zu nehmen und dadurch näher an das Mittelmeer heran¬
zukommen. Doch welche Völker bewohnen nun Galizien? Dort wohnen mehr
als vier Millionen Polen, mehr als drei Millionen Ruthenen (Ukrainer) und
90 000 Deutsche, also hauptsächlich Polen (meistens in Westgaltzien) und
Ruthenen (besonders in Ostgalizien), aber so gut wie gar keine Russen. Der
Krieg ist demnach ein neuer Ausbruch der russischen Gewaltpolitik: vorwärts
über die Leichen anderer Völker.

Nach Szerers genauer Untersuchung wohnen im russischen Polen

(im Jahre 1907)(im Jahre 1910)
Polen73.4Prozent8 908 900 Einwohner
Juden13.71 660 490 „
Deutsche5.1/?618 590
Ruderer3,5»426 950
Litauer2.8»337 190
Russen1.1134 630
Weißrussen0,25v30 320

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0252" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324225"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Ostfront des Weltkrieges</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_753"> Das eigentliche russische Volk bilden die Moskowiter, die bei der letzten<lb/>
Volkszählung im Jahre 1897 ganze 55,6 Millionen ausmachten und jetzt wohl<lb/>
ungefähr 70 Millionen betragen dürften. Bei diesem an Moskau als Mittel¬<lb/>
punkt geschichtlich geknüpften Flußvolke innerhalb des gewaltigen Stromgebietes<lb/>
der Wolga gibt es kein naturbestimmtes Verlangen nach dem Atlantischen<lb/>
Ozeane oder nach dem Mittelmeere, sondern die russische Meerespolitik wird<lb/>
durch den von Welterobererträumen beseelten russischen Imperialismus vor¬<lb/>
geschoben. Das offizielle Rußland hat dabei eingesehen, daß es niemals an das<lb/>
Mittelmeer, da heißt an den Bosporus und die Dardanellen, gelangen kann, ohne<lb/>
das deutsche Schwert zu beseitigen, das nicht nur zum direkten Schutze Deutsch--<lb/>
lands geschliffen ist, sondern auch zu seinem indirekten im Abwehren des Hiebes,<lb/>
welchen Rußland gegen Österreich, den nächsten hinabgelassenen Schlagbaum,<lb/>
der die russische Mittelmeerpolitik hindert, richten will. Deutschland bedarf<lb/>
Österreichs als handelspolitischer Abrundung nach dem Balkan und dem Mittel¬<lb/>
meere hin. In seiner beim Kriegsausbruch herausgegebenen Broschüre &#x201E;Sein<lb/>
oder Nichtsein" sagt der Geschichtsprofessor der Berliner Universität Dr. Dietrich<lb/>
Schäfer: &#x201E;Heute darf nur eine Erwägung, eine Überzeugung wirksam sein: unseres<lb/>
Reiches Bestand hängt an dem der österreichisch-ungarischen Monarchie". Dieses<lb/>
Faktum bindet Rußland an Frankreich, dessen Verlangen nach Rache für die 1870/71<lb/>
erlittene Niederlage die einzig begreifliche Ursache des Bündnisses zwischen der roten<lb/>
Republik um Paris herum und dem sibirischdunklen Zarenreiche gewesen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_754"> Seit 1398 hat im russischen Reiche keine Volkszählung stattgefunden, aber<lb/>
vermittelst Berechnung des Prozentzuwachses der verschiedenen Völker in Rußland<lb/>
ist es Dr. Szerer gelungen, im ersten Jahrgange (1915) der Zeitschrift Polen<lb/>
aus verschiedenen Quellen einen interessanten Bericht darüber vorzulegen.<lb/>
Rußland hat im Kriege seine größte Kraft eingesetzt, um Österreich-Ungarn<lb/>
durch Eroberung Galizien zu nehmen und dadurch näher an das Mittelmeer heran¬<lb/>
zukommen. Doch welche Völker bewohnen nun Galizien? Dort wohnen mehr<lb/>
als vier Millionen Polen, mehr als drei Millionen Ruthenen (Ukrainer) und<lb/>
90 000 Deutsche, also hauptsächlich Polen (meistens in Westgaltzien) und<lb/>
Ruthenen (besonders in Ostgalizien), aber so gut wie gar keine Russen. Der<lb/>
Krieg ist demnach ein neuer Ausbruch der russischen Gewaltpolitik: vorwärts<lb/>
über die Leichen anderer Völker.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_755"> Nach Szerers genauer Untersuchung wohnen im russischen Polen</p><lb/>
          <list>
            <item> (im Jahre 1907)(im Jahre 1910)</item>
            <item> Polen73.4Prozent8 908 900 Einwohner</item>
            <item> Juden13.71 660 490 &#x201E;</item>
            <item> Deutsche5.1/?618 590</item>
            <item> Ruderer3,5»426 950</item>
            <item> Litauer2.8»337 190</item>
            <item> Russen1.1134 630</item>
            <item> Weißrussen0,25v30 320</item>
          </list><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0252] Die Ostfront des Weltkrieges Das eigentliche russische Volk bilden die Moskowiter, die bei der letzten Volkszählung im Jahre 1897 ganze 55,6 Millionen ausmachten und jetzt wohl ungefähr 70 Millionen betragen dürften. Bei diesem an Moskau als Mittel¬ punkt geschichtlich geknüpften Flußvolke innerhalb des gewaltigen Stromgebietes der Wolga gibt es kein naturbestimmtes Verlangen nach dem Atlantischen Ozeane oder nach dem Mittelmeere, sondern die russische Meerespolitik wird durch den von Welterobererträumen beseelten russischen Imperialismus vor¬ geschoben. Das offizielle Rußland hat dabei eingesehen, daß es niemals an das Mittelmeer, da heißt an den Bosporus und die Dardanellen, gelangen kann, ohne das deutsche Schwert zu beseitigen, das nicht nur zum direkten Schutze Deutsch-- lands geschliffen ist, sondern auch zu seinem indirekten im Abwehren des Hiebes, welchen Rußland gegen Österreich, den nächsten hinabgelassenen Schlagbaum, der die russische Mittelmeerpolitik hindert, richten will. Deutschland bedarf Österreichs als handelspolitischer Abrundung nach dem Balkan und dem Mittel¬ meere hin. In seiner beim Kriegsausbruch herausgegebenen Broschüre „Sein oder Nichtsein" sagt der Geschichtsprofessor der Berliner Universität Dr. Dietrich Schäfer: „Heute darf nur eine Erwägung, eine Überzeugung wirksam sein: unseres Reiches Bestand hängt an dem der österreichisch-ungarischen Monarchie". Dieses Faktum bindet Rußland an Frankreich, dessen Verlangen nach Rache für die 1870/71 erlittene Niederlage die einzig begreifliche Ursache des Bündnisses zwischen der roten Republik um Paris herum und dem sibirischdunklen Zarenreiche gewesen ist. Seit 1398 hat im russischen Reiche keine Volkszählung stattgefunden, aber vermittelst Berechnung des Prozentzuwachses der verschiedenen Völker in Rußland ist es Dr. Szerer gelungen, im ersten Jahrgange (1915) der Zeitschrift Polen aus verschiedenen Quellen einen interessanten Bericht darüber vorzulegen. Rußland hat im Kriege seine größte Kraft eingesetzt, um Österreich-Ungarn durch Eroberung Galizien zu nehmen und dadurch näher an das Mittelmeer heran¬ zukommen. Doch welche Völker bewohnen nun Galizien? Dort wohnen mehr als vier Millionen Polen, mehr als drei Millionen Ruthenen (Ukrainer) und 90 000 Deutsche, also hauptsächlich Polen (meistens in Westgaltzien) und Ruthenen (besonders in Ostgalizien), aber so gut wie gar keine Russen. Der Krieg ist demnach ein neuer Ausbruch der russischen Gewaltpolitik: vorwärts über die Leichen anderer Völker. Nach Szerers genauer Untersuchung wohnen im russischen Polen (im Jahre 1907)(im Jahre 1910) Polen73.4Prozent8 908 900 Einwohner Juden13.71 660 490 „ Deutsche5.1/?618 590 Ruderer3,5»426 950 Litauer2.8»337 190 Russen1.1134 630 Weißrussen0,25v30 320

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/252
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/252>, abgerufen am 25.08.2024.