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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Ostfront des Weltkrieges

Das starke Deutsche Reich ist eine wirklich organische Einheit, ein Staat voll
reicher, vielversprechender Harmonie, Der religiöse Gegensatz zwischen den süd¬
deutschen Katholiken und den norddeutschen Lutheranern kann wohl Dissonanzen
hervorbringen, aber der Reichsgedanke beherrscht sie doch ohne Schwierigkeit
und läßt beinahe alle Deutschen sich als innerhalb der Sphäre des großen
deutschen Sprachgebietes vereinigte Deutsche fühlen. Die wirklich schrillen
Dissonanzen innerhalb des Deutschen Reiches sind, nach skandinavischer Auf¬
fassung, die Kränkungen, die dem Rechte der dänischen und polnischen Volks¬
elemente auf nationales Leben innerhalb des Rahmens des deutschen Reichs¬
gedankens widerfahren sind. Es muß der deutschen Staatskunst nach dem Kriege
Ehrensache sein, dies zu ändern. In den skandinavischen Ländern, wo das
Nationalitätsprinzip zu den Heiligtümern, die jedes Kulturvolk ehren sollte,
gehört, ist die deutsche Politik gegen Dänen und Polen absolut unverständlich
gewesen, da ja die Deutschen gleich den Skandinaviern zu den ethisch am
besten gebildeten Völkern zu rechnen sind.

Gegen das einheitlich miteinander verwachsene, starke, auf den verschiedenen
Kulturgebieten reichbegabte, männlich offene, einfache, arbeitsame und gottes-
fürchtige deutsche Volk steht nun Rußland mit eineni Chaos verschiedener, durch
halbbarbarische Staatskunst regierter Völker im Felde. Kein Land ist außer
Finnland und Polen so bemitleidenswert wie das große Rußland, dessen leidende
Bevölkerung den Eindruck einer gewaltigen Herde ohne Hirten macht. Das
russische Staatsproblem ist so, wie russische Staatskunst es bisher formuliert
hat, unlöslich oder nur durch Auflösung lösbar. Rußland ist eine Welt im
Werden, eine politische Nebulose, die ihren Kern noch nicht kennt und noch keine
Ringe hat absondern können, welche ihrerseits, wenn der Mutterkörper sie
abgestoßen hat, sich je zu einer neuen Welt zusammenziehen werden. Man
kann, wenn von Rußlands Zukunft die Rede ist, wirklich nicht umhin, die Kant-
Laplacesche Theorie der Weltschöpfung anzuwenden. Ein politisches Sonnen¬
system, das mehreren Welten Leben gibt und sie zusammenhält, kann sich nicht
bilden, wenn die Welten selbst sich nicht bilden dürfen. Ein Zusammenschließen
zwischen verschiedenen Völkern wird solange unorganisch und naturwidrig sein,
wie es ihnen nicht gelungen ist, zunächst sich selbst zu gestalten. Erst dann,
wenn ein Volk, gleich Ibsens Brand, "ganz es selbst" geworden ist. gilt es,
nicht "sich selbst genug" zu sein wie Peer Gurt. Doch das Umkehren der
Reihenfolge und das Bekämpfen der Karrikatur, bevor man das richtige Bild
fixiert hat, ist verkehrte Staatskunst. Und daß sie dies nicht einsieht, ist einer
der Beweise der verhängnisvollen Halbbildung der russischen Politik. Dazu
gehört auch, daß diese Politik die Grenzen des künftigen russischen "Sonnen¬
systems" nicht kennt und nicht kennen will.

Nichtrussische Völker wohnen an den Meeren, wohin die großrussische Ex¬
pansionspolitik in Europa gelangt ist. Der wirkliche Russe bedarf ebensowenig
eines Hafens am Atlantischen Ozeane oder am Miitelmeere wie der Lappe einer


Die Ostfront des Weltkrieges

Das starke Deutsche Reich ist eine wirklich organische Einheit, ein Staat voll
reicher, vielversprechender Harmonie, Der religiöse Gegensatz zwischen den süd¬
deutschen Katholiken und den norddeutschen Lutheranern kann wohl Dissonanzen
hervorbringen, aber der Reichsgedanke beherrscht sie doch ohne Schwierigkeit
und läßt beinahe alle Deutschen sich als innerhalb der Sphäre des großen
deutschen Sprachgebietes vereinigte Deutsche fühlen. Die wirklich schrillen
Dissonanzen innerhalb des Deutschen Reiches sind, nach skandinavischer Auf¬
fassung, die Kränkungen, die dem Rechte der dänischen und polnischen Volks¬
elemente auf nationales Leben innerhalb des Rahmens des deutschen Reichs¬
gedankens widerfahren sind. Es muß der deutschen Staatskunst nach dem Kriege
Ehrensache sein, dies zu ändern. In den skandinavischen Ländern, wo das
Nationalitätsprinzip zu den Heiligtümern, die jedes Kulturvolk ehren sollte,
gehört, ist die deutsche Politik gegen Dänen und Polen absolut unverständlich
gewesen, da ja die Deutschen gleich den Skandinaviern zu den ethisch am
besten gebildeten Völkern zu rechnen sind.

Gegen das einheitlich miteinander verwachsene, starke, auf den verschiedenen
Kulturgebieten reichbegabte, männlich offene, einfache, arbeitsame und gottes-
fürchtige deutsche Volk steht nun Rußland mit eineni Chaos verschiedener, durch
halbbarbarische Staatskunst regierter Völker im Felde. Kein Land ist außer
Finnland und Polen so bemitleidenswert wie das große Rußland, dessen leidende
Bevölkerung den Eindruck einer gewaltigen Herde ohne Hirten macht. Das
russische Staatsproblem ist so, wie russische Staatskunst es bisher formuliert
hat, unlöslich oder nur durch Auflösung lösbar. Rußland ist eine Welt im
Werden, eine politische Nebulose, die ihren Kern noch nicht kennt und noch keine
Ringe hat absondern können, welche ihrerseits, wenn der Mutterkörper sie
abgestoßen hat, sich je zu einer neuen Welt zusammenziehen werden. Man
kann, wenn von Rußlands Zukunft die Rede ist, wirklich nicht umhin, die Kant-
Laplacesche Theorie der Weltschöpfung anzuwenden. Ein politisches Sonnen¬
system, das mehreren Welten Leben gibt und sie zusammenhält, kann sich nicht
bilden, wenn die Welten selbst sich nicht bilden dürfen. Ein Zusammenschließen
zwischen verschiedenen Völkern wird solange unorganisch und naturwidrig sein,
wie es ihnen nicht gelungen ist, zunächst sich selbst zu gestalten. Erst dann,
wenn ein Volk, gleich Ibsens Brand, „ganz es selbst" geworden ist. gilt es,
nicht „sich selbst genug" zu sein wie Peer Gurt. Doch das Umkehren der
Reihenfolge und das Bekämpfen der Karrikatur, bevor man das richtige Bild
fixiert hat, ist verkehrte Staatskunst. Und daß sie dies nicht einsieht, ist einer
der Beweise der verhängnisvollen Halbbildung der russischen Politik. Dazu
gehört auch, daß diese Politik die Grenzen des künftigen russischen „Sonnen¬
systems" nicht kennt und nicht kennen will.

Nichtrussische Völker wohnen an den Meeren, wohin die großrussische Ex¬
pansionspolitik in Europa gelangt ist. Der wirkliche Russe bedarf ebensowenig
eines Hafens am Atlantischen Ozeane oder am Miitelmeere wie der Lappe einer


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[0250] Die Ostfront des Weltkrieges Das starke Deutsche Reich ist eine wirklich organische Einheit, ein Staat voll reicher, vielversprechender Harmonie, Der religiöse Gegensatz zwischen den süd¬ deutschen Katholiken und den norddeutschen Lutheranern kann wohl Dissonanzen hervorbringen, aber der Reichsgedanke beherrscht sie doch ohne Schwierigkeit und läßt beinahe alle Deutschen sich als innerhalb der Sphäre des großen deutschen Sprachgebietes vereinigte Deutsche fühlen. Die wirklich schrillen Dissonanzen innerhalb des Deutschen Reiches sind, nach skandinavischer Auf¬ fassung, die Kränkungen, die dem Rechte der dänischen und polnischen Volks¬ elemente auf nationales Leben innerhalb des Rahmens des deutschen Reichs¬ gedankens widerfahren sind. Es muß der deutschen Staatskunst nach dem Kriege Ehrensache sein, dies zu ändern. In den skandinavischen Ländern, wo das Nationalitätsprinzip zu den Heiligtümern, die jedes Kulturvolk ehren sollte, gehört, ist die deutsche Politik gegen Dänen und Polen absolut unverständlich gewesen, da ja die Deutschen gleich den Skandinaviern zu den ethisch am besten gebildeten Völkern zu rechnen sind. Gegen das einheitlich miteinander verwachsene, starke, auf den verschiedenen Kulturgebieten reichbegabte, männlich offene, einfache, arbeitsame und gottes- fürchtige deutsche Volk steht nun Rußland mit eineni Chaos verschiedener, durch halbbarbarische Staatskunst regierter Völker im Felde. Kein Land ist außer Finnland und Polen so bemitleidenswert wie das große Rußland, dessen leidende Bevölkerung den Eindruck einer gewaltigen Herde ohne Hirten macht. Das russische Staatsproblem ist so, wie russische Staatskunst es bisher formuliert hat, unlöslich oder nur durch Auflösung lösbar. Rußland ist eine Welt im Werden, eine politische Nebulose, die ihren Kern noch nicht kennt und noch keine Ringe hat absondern können, welche ihrerseits, wenn der Mutterkörper sie abgestoßen hat, sich je zu einer neuen Welt zusammenziehen werden. Man kann, wenn von Rußlands Zukunft die Rede ist, wirklich nicht umhin, die Kant- Laplacesche Theorie der Weltschöpfung anzuwenden. Ein politisches Sonnen¬ system, das mehreren Welten Leben gibt und sie zusammenhält, kann sich nicht bilden, wenn die Welten selbst sich nicht bilden dürfen. Ein Zusammenschließen zwischen verschiedenen Völkern wird solange unorganisch und naturwidrig sein, wie es ihnen nicht gelungen ist, zunächst sich selbst zu gestalten. Erst dann, wenn ein Volk, gleich Ibsens Brand, „ganz es selbst" geworden ist. gilt es, nicht „sich selbst genug" zu sein wie Peer Gurt. Doch das Umkehren der Reihenfolge und das Bekämpfen der Karrikatur, bevor man das richtige Bild fixiert hat, ist verkehrte Staatskunst. Und daß sie dies nicht einsieht, ist einer der Beweise der verhängnisvollen Halbbildung der russischen Politik. Dazu gehört auch, daß diese Politik die Grenzen des künftigen russischen „Sonnen¬ systems" nicht kennt und nicht kennen will. Nichtrussische Völker wohnen an den Meeren, wohin die großrussische Ex¬ pansionspolitik in Europa gelangt ist. Der wirkliche Russe bedarf ebensowenig eines Hafens am Atlantischen Ozeane oder am Miitelmeere wie der Lappe einer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/250>, abgerufen am 01.10.2024.