Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der deutsche Staatsgedanke

Es ist bekannt, wie Bismarck über die Unerzogenheit der deutschen politischen
Manieren geklagt hat. "Jeder, der heutiger Zeit in politischen Kämpfen gestanden
hat, wird die Wahrnehmung gemacht haben, daß Parteimänner, über deren Wohl¬
erzogenheit und Rechtlichkeit im Privatleben nie Zweifel aufgekommen sind,
sobald sie in politische Kreise hineingeraten, sich von den Regeln des Ehrgefühls
und der Schicklichkeit, deren Autorität sie sonst anerkennen, für entbunden
halten und aus einer karikierender Übertreibung des Satzes: .das öffentliche
Wohl ist das höchste Gesetz' die Rechtfertigung für Gemeinheiten und
Roheiten in Sprache und Handlungen ableiten, durch die sie sich außerhalb
der politischen und religiösen Streitigkeiten selbst angewidert fühlen würden.
Diese Lossagung von allem, was schicklich und ehrlich ist, hängt undeutlich mit
dem Gefühl zusammen, daß mau im Interesse der Partei, das man dem des
Vaterlandes unterschiebt, mit anderem Maß zu messen habe, als im Privat¬
leben, und daß die Gebote der Ehre und Erziehung in Parteikämpfen anders
und loser auszulegen seien als selbst im Kriegsgebrauch gegen ausländische
Feinde." Hier berührt Bismarck die Grundlage des politischen Lebens überhaupt,
ohne freilich sich bewußt zu sein, daß die hier von ihm ausgesprochene Forderung
sehr weitreichende Folgerungen nach sich zieht. Denn man kann ebensogut
darüber klagen, daß man im Interesse des eigenen Staates, das man dem
der Menschheit unterschiebt, sich noch weit größerer Roheiten schuldig macht,
nach eben jenem Grundsatz: "das öffentliche Wohl ist das höchste Gesetz."
Kann man aber eigentlich davon sprechen, daß dieser Schaden auf internationalem
Gebiete größer ist, als jener unseres innerpolitischen Lebens? Sie sind doch
wohl beide derselben Wurzel entsprossen. Es ist deshalb nicht halbherzige
Anpassungspolitik noch verkappter nationaler Egoismus, wenn man sich
den Glauben an den Staat durch den Glauben an die Menschheit nicht nehmen
läßt, sondern es ist der Ausdruck unseres Glaubens, der überzeugt ist, daß alle
wahren Lebenswege von innen nach außen gehen. Es hat uns Mühe gekostet
einzusehen, daß man ein guter, braver Familienvater und prächtiger Charakter
-- und doch ethisch wertlos sein kann, wenn man kein soziales Gewissen für
seine Volksgenossen hat. Wirklich gelernt haben wir das noch lange nicht.
Dürfen wir uns wundern, wenn wir auf der höheren Stufe noch schlechtere
Schüler sind, wo wir lernen sollen, daß Korpsgeist eines Standes (neuerdings
behaupten einige, die es besser wissen sollten, das und nichts anderes sei
Sozialismus), oder eines Volkes, daß aller Patriotismus wertlos sein kann,
wenn er nicht unter der Bedingung der Menschheitlichkeit überhaupt steht I Man
kann ein staatssozialistischer Professor sein und braucht doch von der höchsten Spitze
des Gedankens, dem man selber dient, noch nichts geahnt zu haben. Es gibt
keinen sozialen, keinen patriotischen Gedanken, er stünde denn unter der Bedingung
der Humanität. Aber das ist erst Ahnung, Verheißung, Menschheitshoffnung.

Ob wir Deutsche dazu berufen sind, solchen letzten Endes die Menschheit
meinenden Staatsgedanken heraufzuführen? Ein Angelsachse soll im Verlauf


Der deutsche Staatsgedanke

Es ist bekannt, wie Bismarck über die Unerzogenheit der deutschen politischen
Manieren geklagt hat. „Jeder, der heutiger Zeit in politischen Kämpfen gestanden
hat, wird die Wahrnehmung gemacht haben, daß Parteimänner, über deren Wohl¬
erzogenheit und Rechtlichkeit im Privatleben nie Zweifel aufgekommen sind,
sobald sie in politische Kreise hineingeraten, sich von den Regeln des Ehrgefühls
und der Schicklichkeit, deren Autorität sie sonst anerkennen, für entbunden
halten und aus einer karikierender Übertreibung des Satzes: .das öffentliche
Wohl ist das höchste Gesetz' die Rechtfertigung für Gemeinheiten und
Roheiten in Sprache und Handlungen ableiten, durch die sie sich außerhalb
der politischen und religiösen Streitigkeiten selbst angewidert fühlen würden.
Diese Lossagung von allem, was schicklich und ehrlich ist, hängt undeutlich mit
dem Gefühl zusammen, daß mau im Interesse der Partei, das man dem des
Vaterlandes unterschiebt, mit anderem Maß zu messen habe, als im Privat¬
leben, und daß die Gebote der Ehre und Erziehung in Parteikämpfen anders
und loser auszulegen seien als selbst im Kriegsgebrauch gegen ausländische
Feinde." Hier berührt Bismarck die Grundlage des politischen Lebens überhaupt,
ohne freilich sich bewußt zu sein, daß die hier von ihm ausgesprochene Forderung
sehr weitreichende Folgerungen nach sich zieht. Denn man kann ebensogut
darüber klagen, daß man im Interesse des eigenen Staates, das man dem
der Menschheit unterschiebt, sich noch weit größerer Roheiten schuldig macht,
nach eben jenem Grundsatz: „das öffentliche Wohl ist das höchste Gesetz."
Kann man aber eigentlich davon sprechen, daß dieser Schaden auf internationalem
Gebiete größer ist, als jener unseres innerpolitischen Lebens? Sie sind doch
wohl beide derselben Wurzel entsprossen. Es ist deshalb nicht halbherzige
Anpassungspolitik noch verkappter nationaler Egoismus, wenn man sich
den Glauben an den Staat durch den Glauben an die Menschheit nicht nehmen
läßt, sondern es ist der Ausdruck unseres Glaubens, der überzeugt ist, daß alle
wahren Lebenswege von innen nach außen gehen. Es hat uns Mühe gekostet
einzusehen, daß man ein guter, braver Familienvater und prächtiger Charakter
— und doch ethisch wertlos sein kann, wenn man kein soziales Gewissen für
seine Volksgenossen hat. Wirklich gelernt haben wir das noch lange nicht.
Dürfen wir uns wundern, wenn wir auf der höheren Stufe noch schlechtere
Schüler sind, wo wir lernen sollen, daß Korpsgeist eines Standes (neuerdings
behaupten einige, die es besser wissen sollten, das und nichts anderes sei
Sozialismus), oder eines Volkes, daß aller Patriotismus wertlos sein kann,
wenn er nicht unter der Bedingung der Menschheitlichkeit überhaupt steht I Man
kann ein staatssozialistischer Professor sein und braucht doch von der höchsten Spitze
des Gedankens, dem man selber dient, noch nichts geahnt zu haben. Es gibt
keinen sozialen, keinen patriotischen Gedanken, er stünde denn unter der Bedingung
der Humanität. Aber das ist erst Ahnung, Verheißung, Menschheitshoffnung.

Ob wir Deutsche dazu berufen sind, solchen letzten Endes die Menschheit
meinenden Staatsgedanken heraufzuführen? Ein Angelsachse soll im Verlauf


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0246" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324219"/>
          <fw type="header" place="top"> Der deutsche Staatsgedanke</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_737"> Es ist bekannt, wie Bismarck über die Unerzogenheit der deutschen politischen<lb/>
Manieren geklagt hat. &#x201E;Jeder, der heutiger Zeit in politischen Kämpfen gestanden<lb/>
hat, wird die Wahrnehmung gemacht haben, daß Parteimänner, über deren Wohl¬<lb/>
erzogenheit und Rechtlichkeit im Privatleben nie Zweifel aufgekommen sind,<lb/>
sobald sie in politische Kreise hineingeraten, sich von den Regeln des Ehrgefühls<lb/>
und der Schicklichkeit, deren Autorität sie sonst anerkennen, für entbunden<lb/>
halten und aus einer karikierender Übertreibung des Satzes: .das öffentliche<lb/>
Wohl ist das höchste Gesetz' die Rechtfertigung für Gemeinheiten und<lb/>
Roheiten in Sprache und Handlungen ableiten, durch die sie sich außerhalb<lb/>
der politischen und religiösen Streitigkeiten selbst angewidert fühlen würden.<lb/>
Diese Lossagung von allem, was schicklich und ehrlich ist, hängt undeutlich mit<lb/>
dem Gefühl zusammen, daß mau im Interesse der Partei, das man dem des<lb/>
Vaterlandes unterschiebt, mit anderem Maß zu messen habe, als im Privat¬<lb/>
leben, und daß die Gebote der Ehre und Erziehung in Parteikämpfen anders<lb/>
und loser auszulegen seien als selbst im Kriegsgebrauch gegen ausländische<lb/>
Feinde." Hier berührt Bismarck die Grundlage des politischen Lebens überhaupt,<lb/>
ohne freilich sich bewußt zu sein, daß die hier von ihm ausgesprochene Forderung<lb/>
sehr weitreichende Folgerungen nach sich zieht. Denn man kann ebensogut<lb/>
darüber klagen, daß man im Interesse des eigenen Staates, das man dem<lb/>
der Menschheit unterschiebt, sich noch weit größerer Roheiten schuldig macht,<lb/>
nach eben jenem Grundsatz: &#x201E;das öffentliche Wohl ist das höchste Gesetz."<lb/>
Kann man aber eigentlich davon sprechen, daß dieser Schaden auf internationalem<lb/>
Gebiete größer ist, als jener unseres innerpolitischen Lebens? Sie sind doch<lb/>
wohl beide derselben Wurzel entsprossen. Es ist deshalb nicht halbherzige<lb/>
Anpassungspolitik noch verkappter nationaler Egoismus, wenn man sich<lb/>
den Glauben an den Staat durch den Glauben an die Menschheit nicht nehmen<lb/>
läßt, sondern es ist der Ausdruck unseres Glaubens, der überzeugt ist, daß alle<lb/>
wahren Lebenswege von innen nach außen gehen. Es hat uns Mühe gekostet<lb/>
einzusehen, daß man ein guter, braver Familienvater und prächtiger Charakter<lb/>
&#x2014; und doch ethisch wertlos sein kann, wenn man kein soziales Gewissen für<lb/>
seine Volksgenossen hat. Wirklich gelernt haben wir das noch lange nicht.<lb/>
Dürfen wir uns wundern, wenn wir auf der höheren Stufe noch schlechtere<lb/>
Schüler sind, wo wir lernen sollen, daß Korpsgeist eines Standes (neuerdings<lb/>
behaupten einige, die es besser wissen sollten, das und nichts anderes sei<lb/>
Sozialismus), oder eines Volkes, daß aller Patriotismus wertlos sein kann,<lb/>
wenn er nicht unter der Bedingung der Menschheitlichkeit überhaupt steht I Man<lb/>
kann ein staatssozialistischer Professor sein und braucht doch von der höchsten Spitze<lb/>
des Gedankens, dem man selber dient, noch nichts geahnt zu haben. Es gibt<lb/>
keinen sozialen, keinen patriotischen Gedanken, er stünde denn unter der Bedingung<lb/>
der Humanität. Aber das ist erst Ahnung, Verheißung, Menschheitshoffnung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_738" next="#ID_739"> Ob wir Deutsche dazu berufen sind, solchen letzten Endes die Menschheit<lb/>
meinenden Staatsgedanken heraufzuführen? Ein Angelsachse soll im Verlauf</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0246] Der deutsche Staatsgedanke Es ist bekannt, wie Bismarck über die Unerzogenheit der deutschen politischen Manieren geklagt hat. „Jeder, der heutiger Zeit in politischen Kämpfen gestanden hat, wird die Wahrnehmung gemacht haben, daß Parteimänner, über deren Wohl¬ erzogenheit und Rechtlichkeit im Privatleben nie Zweifel aufgekommen sind, sobald sie in politische Kreise hineingeraten, sich von den Regeln des Ehrgefühls und der Schicklichkeit, deren Autorität sie sonst anerkennen, für entbunden halten und aus einer karikierender Übertreibung des Satzes: .das öffentliche Wohl ist das höchste Gesetz' die Rechtfertigung für Gemeinheiten und Roheiten in Sprache und Handlungen ableiten, durch die sie sich außerhalb der politischen und religiösen Streitigkeiten selbst angewidert fühlen würden. Diese Lossagung von allem, was schicklich und ehrlich ist, hängt undeutlich mit dem Gefühl zusammen, daß mau im Interesse der Partei, das man dem des Vaterlandes unterschiebt, mit anderem Maß zu messen habe, als im Privat¬ leben, und daß die Gebote der Ehre und Erziehung in Parteikämpfen anders und loser auszulegen seien als selbst im Kriegsgebrauch gegen ausländische Feinde." Hier berührt Bismarck die Grundlage des politischen Lebens überhaupt, ohne freilich sich bewußt zu sein, daß die hier von ihm ausgesprochene Forderung sehr weitreichende Folgerungen nach sich zieht. Denn man kann ebensogut darüber klagen, daß man im Interesse des eigenen Staates, das man dem der Menschheit unterschiebt, sich noch weit größerer Roheiten schuldig macht, nach eben jenem Grundsatz: „das öffentliche Wohl ist das höchste Gesetz." Kann man aber eigentlich davon sprechen, daß dieser Schaden auf internationalem Gebiete größer ist, als jener unseres innerpolitischen Lebens? Sie sind doch wohl beide derselben Wurzel entsprossen. Es ist deshalb nicht halbherzige Anpassungspolitik noch verkappter nationaler Egoismus, wenn man sich den Glauben an den Staat durch den Glauben an die Menschheit nicht nehmen läßt, sondern es ist der Ausdruck unseres Glaubens, der überzeugt ist, daß alle wahren Lebenswege von innen nach außen gehen. Es hat uns Mühe gekostet einzusehen, daß man ein guter, braver Familienvater und prächtiger Charakter — und doch ethisch wertlos sein kann, wenn man kein soziales Gewissen für seine Volksgenossen hat. Wirklich gelernt haben wir das noch lange nicht. Dürfen wir uns wundern, wenn wir auf der höheren Stufe noch schlechtere Schüler sind, wo wir lernen sollen, daß Korpsgeist eines Standes (neuerdings behaupten einige, die es besser wissen sollten, das und nichts anderes sei Sozialismus), oder eines Volkes, daß aller Patriotismus wertlos sein kann, wenn er nicht unter der Bedingung der Menschheitlichkeit überhaupt steht I Man kann ein staatssozialistischer Professor sein und braucht doch von der höchsten Spitze des Gedankens, dem man selber dient, noch nichts geahnt zu haben. Es gibt keinen sozialen, keinen patriotischen Gedanken, er stünde denn unter der Bedingung der Humanität. Aber das ist erst Ahnung, Verheißung, Menschheitshoffnung. Ob wir Deutsche dazu berufen sind, solchen letzten Endes die Menschheit meinenden Staatsgedanken heraufzuführen? Ein Angelsachse soll im Verlauf

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/246
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/246>, abgerufen am 01.10.2024.