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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Staatsgedanke

Reich und darüber hinaus zu einem geeinten Mitteleuropa. Das gibt uns
aber auch zugleich die Pflicht, den Gedanken zu bejahen, der das alte Preußen
trug. Es hat seit den Steinschen Reformen keine bewußte und lebendige
Weiterentwicklung erlebt. Sie hervorzurufen ist die Aufgabe der deutschen
Zukunft. Und hier werden wir uns an das Friderizianische Programm erinnern
müssen: für diese Zukunft sind die materiell oder geistig Bevorzugten verant"
wörtlich. Die Bismarcksche politische Kraft muß sich im neuen Deutschland mit
Steinschen Ethos auf das innigste vermählen, wenn die Kraft nicht zur rohen
Gewalt werden soll. Und jeder nachdenkliche Deutsche muß in diesem Kriege
das wahre Verhältnis zwischen äußerer Macht und innerer Stärke eines Staates
begriffen haben: daß nämlich auch im Staatsleben der Geist den Körper baut
und nicht umgekehrt. Hüten wir uns davor, unsere Lage so zu betrachten, als
sei das Leben des deutschen Geistes abhängig oder etwa gar hervorgebracht
von seinem eigenen Kinde, dem deutschen Militärsystem.

Damit stecken wir die Ziele unserer Politik über uns selbst, über die deutschen
Fragen und Bedürfnisse hinaus. Auch über die von "Mitteleuropa" hinaus.
Die ethischen Grundlagen des Staates, von dem wir sprechen, sind ja offenbar
an keiner besonderen Nationalität orientiert oder an eine solche gebunden, sie
sind allgemein menschlich gedacht und müssen anerkannt werden, wo immer ein
Volk vor allem menschheitliche Forderungen an sich stellt. Das Volk, welches
den sittlichen Staatsgedanken innerhalb seines eigenen Staatsgebiets zur
Vollendung bringt, leistet gleichzeitig der Menschheit einen Dienst. Die Arbeit
an der eigenen Vervollkommnung ist der beste Dienst, den man anderen --
Menschen oder Nationen -- leisten kann. Nicht das ist damit gemeint, daß
u>ir uns von der Arbeit der Ethisterung der äußeren Politik zurückziehen sollen,
bis es in unserer eigenen Volksstube sauber geworden ist, ganz und gar nicht.
Im Gegenteil, je mehr wir die Nöte der heimischen Politik kennen lernen, desto
klarer werden uns die tiefsten Gründe der Fragen der äußeren Politik werden.
Aber das werden wir dabei auch immer deutlicher erkennen, daß die Heilung
auch hier nur von innen nach außen vor sich gehen kann. Der Glaube an die
Begründung eines europäischen Staatenbundes und darüber hinaus eines Welt-
sriedensreiches ist auch unser Glaube. Aber man Schelte und klage nicht darüber,
daß dieser Glaube noch nicht wahr geworden ist. solange es diesseits und
jenseits aller Staatsgrenzen noch Standesegoismus, Klassenhaß, soziales Elend
und geistige Dumpfheit gibt. Hier heißt es für jeden: du Heuchler,
siehe zuerst den Balken aus deinem Auge. Die Verinnerlichung des
Völkerverkehrs kann, das sagt uns dieser Glaube, nur in dem Maße
wachsen, als unser Volksleben verinnerlicht worden ist. Mit der blanken
Parole: "kein Krieg mehr" wäre, selbst wenn sie sich auf der Stelle durch¬
setzte, noch gar nichts wirkliches erreicht. Genau so wenig, wie durch ein
überlegenes Heer und unüberrennbare Grenzsicherungen etwas wirkliches
erreicht wäre.


Der deutsche Staatsgedanke

Reich und darüber hinaus zu einem geeinten Mitteleuropa. Das gibt uns
aber auch zugleich die Pflicht, den Gedanken zu bejahen, der das alte Preußen
trug. Es hat seit den Steinschen Reformen keine bewußte und lebendige
Weiterentwicklung erlebt. Sie hervorzurufen ist die Aufgabe der deutschen
Zukunft. Und hier werden wir uns an das Friderizianische Programm erinnern
müssen: für diese Zukunft sind die materiell oder geistig Bevorzugten verant«
wörtlich. Die Bismarcksche politische Kraft muß sich im neuen Deutschland mit
Steinschen Ethos auf das innigste vermählen, wenn die Kraft nicht zur rohen
Gewalt werden soll. Und jeder nachdenkliche Deutsche muß in diesem Kriege
das wahre Verhältnis zwischen äußerer Macht und innerer Stärke eines Staates
begriffen haben: daß nämlich auch im Staatsleben der Geist den Körper baut
und nicht umgekehrt. Hüten wir uns davor, unsere Lage so zu betrachten, als
sei das Leben des deutschen Geistes abhängig oder etwa gar hervorgebracht
von seinem eigenen Kinde, dem deutschen Militärsystem.

Damit stecken wir die Ziele unserer Politik über uns selbst, über die deutschen
Fragen und Bedürfnisse hinaus. Auch über die von „Mitteleuropa" hinaus.
Die ethischen Grundlagen des Staates, von dem wir sprechen, sind ja offenbar
an keiner besonderen Nationalität orientiert oder an eine solche gebunden, sie
sind allgemein menschlich gedacht und müssen anerkannt werden, wo immer ein
Volk vor allem menschheitliche Forderungen an sich stellt. Das Volk, welches
den sittlichen Staatsgedanken innerhalb seines eigenen Staatsgebiets zur
Vollendung bringt, leistet gleichzeitig der Menschheit einen Dienst. Die Arbeit
an der eigenen Vervollkommnung ist der beste Dienst, den man anderen —
Menschen oder Nationen — leisten kann. Nicht das ist damit gemeint, daß
u>ir uns von der Arbeit der Ethisterung der äußeren Politik zurückziehen sollen,
bis es in unserer eigenen Volksstube sauber geworden ist, ganz und gar nicht.
Im Gegenteil, je mehr wir die Nöte der heimischen Politik kennen lernen, desto
klarer werden uns die tiefsten Gründe der Fragen der äußeren Politik werden.
Aber das werden wir dabei auch immer deutlicher erkennen, daß die Heilung
auch hier nur von innen nach außen vor sich gehen kann. Der Glaube an die
Begründung eines europäischen Staatenbundes und darüber hinaus eines Welt-
sriedensreiches ist auch unser Glaube. Aber man Schelte und klage nicht darüber,
daß dieser Glaube noch nicht wahr geworden ist. solange es diesseits und
jenseits aller Staatsgrenzen noch Standesegoismus, Klassenhaß, soziales Elend
und geistige Dumpfheit gibt. Hier heißt es für jeden: du Heuchler,
siehe zuerst den Balken aus deinem Auge. Die Verinnerlichung des
Völkerverkehrs kann, das sagt uns dieser Glaube, nur in dem Maße
wachsen, als unser Volksleben verinnerlicht worden ist. Mit der blanken
Parole: „kein Krieg mehr" wäre, selbst wenn sie sich auf der Stelle durch¬
setzte, noch gar nichts wirkliches erreicht. Genau so wenig, wie durch ein
überlegenes Heer und unüberrennbare Grenzsicherungen etwas wirkliches
erreicht wäre.


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[0245] Der deutsche Staatsgedanke Reich und darüber hinaus zu einem geeinten Mitteleuropa. Das gibt uns aber auch zugleich die Pflicht, den Gedanken zu bejahen, der das alte Preußen trug. Es hat seit den Steinschen Reformen keine bewußte und lebendige Weiterentwicklung erlebt. Sie hervorzurufen ist die Aufgabe der deutschen Zukunft. Und hier werden wir uns an das Friderizianische Programm erinnern müssen: für diese Zukunft sind die materiell oder geistig Bevorzugten verant« wörtlich. Die Bismarcksche politische Kraft muß sich im neuen Deutschland mit Steinschen Ethos auf das innigste vermählen, wenn die Kraft nicht zur rohen Gewalt werden soll. Und jeder nachdenkliche Deutsche muß in diesem Kriege das wahre Verhältnis zwischen äußerer Macht und innerer Stärke eines Staates begriffen haben: daß nämlich auch im Staatsleben der Geist den Körper baut und nicht umgekehrt. Hüten wir uns davor, unsere Lage so zu betrachten, als sei das Leben des deutschen Geistes abhängig oder etwa gar hervorgebracht von seinem eigenen Kinde, dem deutschen Militärsystem. Damit stecken wir die Ziele unserer Politik über uns selbst, über die deutschen Fragen und Bedürfnisse hinaus. Auch über die von „Mitteleuropa" hinaus. Die ethischen Grundlagen des Staates, von dem wir sprechen, sind ja offenbar an keiner besonderen Nationalität orientiert oder an eine solche gebunden, sie sind allgemein menschlich gedacht und müssen anerkannt werden, wo immer ein Volk vor allem menschheitliche Forderungen an sich stellt. Das Volk, welches den sittlichen Staatsgedanken innerhalb seines eigenen Staatsgebiets zur Vollendung bringt, leistet gleichzeitig der Menschheit einen Dienst. Die Arbeit an der eigenen Vervollkommnung ist der beste Dienst, den man anderen — Menschen oder Nationen — leisten kann. Nicht das ist damit gemeint, daß u>ir uns von der Arbeit der Ethisterung der äußeren Politik zurückziehen sollen, bis es in unserer eigenen Volksstube sauber geworden ist, ganz und gar nicht. Im Gegenteil, je mehr wir die Nöte der heimischen Politik kennen lernen, desto klarer werden uns die tiefsten Gründe der Fragen der äußeren Politik werden. Aber das werden wir dabei auch immer deutlicher erkennen, daß die Heilung auch hier nur von innen nach außen vor sich gehen kann. Der Glaube an die Begründung eines europäischen Staatenbundes und darüber hinaus eines Welt- sriedensreiches ist auch unser Glaube. Aber man Schelte und klage nicht darüber, daß dieser Glaube noch nicht wahr geworden ist. solange es diesseits und jenseits aller Staatsgrenzen noch Standesegoismus, Klassenhaß, soziales Elend und geistige Dumpfheit gibt. Hier heißt es für jeden: du Heuchler, siehe zuerst den Balken aus deinem Auge. Die Verinnerlichung des Völkerverkehrs kann, das sagt uns dieser Glaube, nur in dem Maße wachsen, als unser Volksleben verinnerlicht worden ist. Mit der blanken Parole: „kein Krieg mehr" wäre, selbst wenn sie sich auf der Stelle durch¬ setzte, noch gar nichts wirkliches erreicht. Genau so wenig, wie durch ein überlegenes Heer und unüberrennbare Grenzsicherungen etwas wirkliches erreicht wäre.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/245>, abgerufen am 23.07.2024.