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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Staatsgedant'c

Wir wissen, was im preußischen Sinne ein Staat bedeutet: es ist ein Staat,
in dem die Regierenden und Leitenden -- und diese Begriffe wären aus dem
rein politischen auf das geistige Leben ganz allgemein zu übertragen -- nicht
die Genießenden, sondern die Verantwortlicher und Dienenden sind. Ein
Lehrer, irgendein Gebildeter mag danach erst der tausendste Diener des Staates
sein, ein Diener ist er gewiß.

Mit diesem Gedanken begründete Preußen sein Daseinsrecht vor der
Ewigkeit sicherer als durch die schlesischen Kriege. Oder richtiger gesprochen:
dieser Gedanke als Leben und Tat machte die unerhörten Anstrengungen jener
Kämpfe überhaupt erst möglich. Hier war eine Idee lebendig, die den Staat
wahrhaft zum Staat macht.

Aber so groß diese Idee war, so ärmlich und unzulänglich war ihre
Durchführung. Die Seele, die Friedrich der Große seinem Staate gab, lebte
nicht in allen Gliedern des Staatskörpers, sondern nur in seinem Haupt. Der
König stand mit seiner Idee allein, turmhoch über dem politischen Denken
seiner Untertanen, die nichts anderes kannten und von denen er nichts anderes
verlangte und wünschte als die erste Bürgerpflicht der Ruhe. "Seine Untertanen
waren zu tief unter ihm", das war nicht nur Herders Urteil. Das Wort
Ludwigs des Vierzehnten galt, wenn auch in einem unendlich edleren Sinne, auch
für Friedrich: der Staat, das war und blieb er selber. Die überpersönliche
Person des Staates blieb zugleich individuelle Person. Der Abstand zwischen
Idee und Wirklichkeit führte zur Katastrophe: 1806. Damals unterlag nicht
nnr das "morsche, auf den Lorbeeren Friedrichs ausruhende" Preußen, sondern
es unterlag ein gutes Stück des allerechtesten Friderizianischen Staats¬
gedankens. Es konnte nur eins aus dem Zusammenbruch retten: daß man
den alten Staatsgedanken zu Ende oder richtiger, über sein Ende hinaus
dachte. Stein war es, der es unternahm, die Staatsidee Friedrichs zum
Gesamtbesitze des ganzen Volkes zu machen. Der Untertan wurde Staats¬
bürger. So wie durch Friedrich die oberen Schichten grundsätzlich aufgehört
hatten, auf Herrschen und Vorrechte Anspruch zu haben, so hörte durch
Stein die große Masse grundsätzlich auf, nur Geleitete und Bevormundete
zu sein. Jedermann ward zum Staatsmann erklärt, und damit hatte der
Staat einen großen Schritt vorwärts getan auf sein Ideal zu, das nichts
anderes bedeutet, als den zur Einheitlichkeit erzogenen Gesamtwillen des Volkes.
Was dieser neue Staatsgedanke bedeutete, wird am deutlichsten, wenn wir an
die beiden großen Ideen denken, die er in jener Zeit hervorgebracht hat: die
allgemeine Wehrpflicht und das allgemeine Bildungsrecht. Ward doch in jener
Zeit Pestalozzis Geist in Preußen heimisch und widmete sich doch Stein selbst
den Gedanken der allgemeinen Volksbildung. Die Nonumsnta (Zermanias
sind sein Werk.

Dieser Staatsgedanke steht im denkbar schärfsten Gegensatz zu dem, der zu
derselben Zeit in den angelsächsischen Ländern immer mehr erstarkte: der Gedanke


Der deutsche Staatsgedant'c

Wir wissen, was im preußischen Sinne ein Staat bedeutet: es ist ein Staat,
in dem die Regierenden und Leitenden — und diese Begriffe wären aus dem
rein politischen auf das geistige Leben ganz allgemein zu übertragen — nicht
die Genießenden, sondern die Verantwortlicher und Dienenden sind. Ein
Lehrer, irgendein Gebildeter mag danach erst der tausendste Diener des Staates
sein, ein Diener ist er gewiß.

Mit diesem Gedanken begründete Preußen sein Daseinsrecht vor der
Ewigkeit sicherer als durch die schlesischen Kriege. Oder richtiger gesprochen:
dieser Gedanke als Leben und Tat machte die unerhörten Anstrengungen jener
Kämpfe überhaupt erst möglich. Hier war eine Idee lebendig, die den Staat
wahrhaft zum Staat macht.

Aber so groß diese Idee war, so ärmlich und unzulänglich war ihre
Durchführung. Die Seele, die Friedrich der Große seinem Staate gab, lebte
nicht in allen Gliedern des Staatskörpers, sondern nur in seinem Haupt. Der
König stand mit seiner Idee allein, turmhoch über dem politischen Denken
seiner Untertanen, die nichts anderes kannten und von denen er nichts anderes
verlangte und wünschte als die erste Bürgerpflicht der Ruhe. „Seine Untertanen
waren zu tief unter ihm", das war nicht nur Herders Urteil. Das Wort
Ludwigs des Vierzehnten galt, wenn auch in einem unendlich edleren Sinne, auch
für Friedrich: der Staat, das war und blieb er selber. Die überpersönliche
Person des Staates blieb zugleich individuelle Person. Der Abstand zwischen
Idee und Wirklichkeit führte zur Katastrophe: 1806. Damals unterlag nicht
nnr das „morsche, auf den Lorbeeren Friedrichs ausruhende" Preußen, sondern
es unterlag ein gutes Stück des allerechtesten Friderizianischen Staats¬
gedankens. Es konnte nur eins aus dem Zusammenbruch retten: daß man
den alten Staatsgedanken zu Ende oder richtiger, über sein Ende hinaus
dachte. Stein war es, der es unternahm, die Staatsidee Friedrichs zum
Gesamtbesitze des ganzen Volkes zu machen. Der Untertan wurde Staats¬
bürger. So wie durch Friedrich die oberen Schichten grundsätzlich aufgehört
hatten, auf Herrschen und Vorrechte Anspruch zu haben, so hörte durch
Stein die große Masse grundsätzlich auf, nur Geleitete und Bevormundete
zu sein. Jedermann ward zum Staatsmann erklärt, und damit hatte der
Staat einen großen Schritt vorwärts getan auf sein Ideal zu, das nichts
anderes bedeutet, als den zur Einheitlichkeit erzogenen Gesamtwillen des Volkes.
Was dieser neue Staatsgedanke bedeutete, wird am deutlichsten, wenn wir an
die beiden großen Ideen denken, die er in jener Zeit hervorgebracht hat: die
allgemeine Wehrpflicht und das allgemeine Bildungsrecht. Ward doch in jener
Zeit Pestalozzis Geist in Preußen heimisch und widmete sich doch Stein selbst
den Gedanken der allgemeinen Volksbildung. Die Nonumsnta (Zermanias
sind sein Werk.

Dieser Staatsgedanke steht im denkbar schärfsten Gegensatz zu dem, der zu
derselben Zeit in den angelsächsischen Ländern immer mehr erstarkte: der Gedanke


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[0240] Der deutsche Staatsgedant'c Wir wissen, was im preußischen Sinne ein Staat bedeutet: es ist ein Staat, in dem die Regierenden und Leitenden — und diese Begriffe wären aus dem rein politischen auf das geistige Leben ganz allgemein zu übertragen — nicht die Genießenden, sondern die Verantwortlicher und Dienenden sind. Ein Lehrer, irgendein Gebildeter mag danach erst der tausendste Diener des Staates sein, ein Diener ist er gewiß. Mit diesem Gedanken begründete Preußen sein Daseinsrecht vor der Ewigkeit sicherer als durch die schlesischen Kriege. Oder richtiger gesprochen: dieser Gedanke als Leben und Tat machte die unerhörten Anstrengungen jener Kämpfe überhaupt erst möglich. Hier war eine Idee lebendig, die den Staat wahrhaft zum Staat macht. Aber so groß diese Idee war, so ärmlich und unzulänglich war ihre Durchführung. Die Seele, die Friedrich der Große seinem Staate gab, lebte nicht in allen Gliedern des Staatskörpers, sondern nur in seinem Haupt. Der König stand mit seiner Idee allein, turmhoch über dem politischen Denken seiner Untertanen, die nichts anderes kannten und von denen er nichts anderes verlangte und wünschte als die erste Bürgerpflicht der Ruhe. „Seine Untertanen waren zu tief unter ihm", das war nicht nur Herders Urteil. Das Wort Ludwigs des Vierzehnten galt, wenn auch in einem unendlich edleren Sinne, auch für Friedrich: der Staat, das war und blieb er selber. Die überpersönliche Person des Staates blieb zugleich individuelle Person. Der Abstand zwischen Idee und Wirklichkeit führte zur Katastrophe: 1806. Damals unterlag nicht nnr das „morsche, auf den Lorbeeren Friedrichs ausruhende" Preußen, sondern es unterlag ein gutes Stück des allerechtesten Friderizianischen Staats¬ gedankens. Es konnte nur eins aus dem Zusammenbruch retten: daß man den alten Staatsgedanken zu Ende oder richtiger, über sein Ende hinaus dachte. Stein war es, der es unternahm, die Staatsidee Friedrichs zum Gesamtbesitze des ganzen Volkes zu machen. Der Untertan wurde Staats¬ bürger. So wie durch Friedrich die oberen Schichten grundsätzlich aufgehört hatten, auf Herrschen und Vorrechte Anspruch zu haben, so hörte durch Stein die große Masse grundsätzlich auf, nur Geleitete und Bevormundete zu sein. Jedermann ward zum Staatsmann erklärt, und damit hatte der Staat einen großen Schritt vorwärts getan auf sein Ideal zu, das nichts anderes bedeutet, als den zur Einheitlichkeit erzogenen Gesamtwillen des Volkes. Was dieser neue Staatsgedanke bedeutete, wird am deutlichsten, wenn wir an die beiden großen Ideen denken, die er in jener Zeit hervorgebracht hat: die allgemeine Wehrpflicht und das allgemeine Bildungsrecht. Ward doch in jener Zeit Pestalozzis Geist in Preußen heimisch und widmete sich doch Stein selbst den Gedanken der allgemeinen Volksbildung. Die Nonumsnta (Zermanias sind sein Werk. Dieser Staatsgedanke steht im denkbar schärfsten Gegensatz zu dem, der zu derselben Zeit in den angelsächsischen Ländern immer mehr erstarkte: der Gedanke

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/240>, abgerufen am 23.07.2024.