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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Krieg und Religion

Der Freireligiöse N. Penzig sucht die Knegserlebnisse zu seinem Nutzen
umzudeuten ("Deutsche Religion." Verlag der Ethischen Kultur in Berlin). Der
Krieg lehrt, daß jeder "passive Glaube, der auf Gnade, Wunder und Erlösung
wartet," keinen Wert hat. Nur der "aktive Glaube, der zur Arbeit, zum
Kampf, zur Selbsterlösung anfeuert", hat Bestand. Von dem Walten ewiger
Kräfte in der Geschichte hat R. Penzig auch jetzt noch nichts gemerkt. Es
hören auch immer noch nicht die Versuche auf, durch Reflexion neue Religion
zu schaffen. So legt Ludwig Nenner einen "Leitfaden für eine deutsche Religion
auf naturwissenschaftlicher Grundlage" vor (Selbstverlag, München 1. Brief¬
fach 23). Man muß derartige Schriften lesen, um wirklich zu empfinden, daß
das religiöse Empfinden in den Kirchen trotz all ihrer Gebrechen am stärksten
pulsiert.

Ein Vergleich deutscher Frömmigkeit mit der unserer Gegner in den
Kriegszeiten läßt sich noch nicht ziehen. Es sei aufmerksam gemacht auf die
Vierteljahrszeitschrift "Die Eiche" (Verlag von Fr. Zillessen in Berlin), die
früher das Organ der kirchlichen Annäherungsversuche zwischen Deutschland
und England war und jetzt dieses Problem ins Auge faßt. In den beiden
ersten Heften des Jahres 1915 wird manche interessante religiöse Urkunde und
Äußerung der Intellektuellen abgedruckt.

Die Religion hat neue Erfahrungen gesammelt. Sie ist zu neuer Kraft
erhoben. Auch das religiöse-sittliche Denken ist nicht unberührt geblieben. Der
einseitige ökonomische Individualismus, der möglichst große Bewegungsfreiheit
auch auf wirtschaftlichem Gebiet verlangt, wird zurückgedrängt. Ludwig Heyde
("Der Krieg und der Individualismus". Verlag von G. Fischer in Jena) wirft
das Problem auf, ob die Übermacht des Staatsgedankens die Persönlichkeits-
kultur, der wir auf allen Gebieten des Lebens in Friedenstagen Ausdruck zu
geben suchten, unterdrücken kann. Er verneint die Befürchtung. Denn der
ökonomische Individualismus hat niemals zu innerlicher und harmonischer
Persönlichkeitskultur geführt. Diese ist unabhängig davon entstanden. Ich hätte
den positiven Nachweis noch hinzugefügt, daß der Mensch erst durch Teil¬
nahme an den großen Gemeinschaftsformen (Ehe, Staat) zur Vollendung
der eigenen Persönlichkeit kommen kann. Und so kann gerade der Krieg,
der den Staatsgedanken uns näher bringt, zur Vollendung der inneren Kultur
beitragen.

Das Thema "Krieg und Religion" wird vielfach von neuem behandelt,
zum Beispiel in den Heften der "Religionsgeschichtlichen Volksbücher" (Verlag Mohr
in Tübingen) von A. Titius und O. Eißfeldt. A. Titius ("Unser Krieg".
Ethische Betrachtungen) findet keine harmonische Lösung. Er stellt den Gegen¬
satz in seiner ganzen Schärfe uns vor Augen und gibt angesichts der Unver¬
einbarkeit des christlichen Liebesgebotes mit dem Kriegszustand die Erklärung,
daß eben die Welt nicht sittlich begreiflich ist. "Wie Natur und Gewalt, so
ist auch das Recht in weitem Umfang für die sittliche Betrachtung unzugänglich."


Krieg und Religion

Der Freireligiöse N. Penzig sucht die Knegserlebnisse zu seinem Nutzen
umzudeuten („Deutsche Religion." Verlag der Ethischen Kultur in Berlin). Der
Krieg lehrt, daß jeder „passive Glaube, der auf Gnade, Wunder und Erlösung
wartet," keinen Wert hat. Nur der „aktive Glaube, der zur Arbeit, zum
Kampf, zur Selbsterlösung anfeuert", hat Bestand. Von dem Walten ewiger
Kräfte in der Geschichte hat R. Penzig auch jetzt noch nichts gemerkt. Es
hören auch immer noch nicht die Versuche auf, durch Reflexion neue Religion
zu schaffen. So legt Ludwig Nenner einen „Leitfaden für eine deutsche Religion
auf naturwissenschaftlicher Grundlage" vor (Selbstverlag, München 1. Brief¬
fach 23). Man muß derartige Schriften lesen, um wirklich zu empfinden, daß
das religiöse Empfinden in den Kirchen trotz all ihrer Gebrechen am stärksten
pulsiert.

Ein Vergleich deutscher Frömmigkeit mit der unserer Gegner in den
Kriegszeiten läßt sich noch nicht ziehen. Es sei aufmerksam gemacht auf die
Vierteljahrszeitschrift „Die Eiche" (Verlag von Fr. Zillessen in Berlin), die
früher das Organ der kirchlichen Annäherungsversuche zwischen Deutschland
und England war und jetzt dieses Problem ins Auge faßt. In den beiden
ersten Heften des Jahres 1915 wird manche interessante religiöse Urkunde und
Äußerung der Intellektuellen abgedruckt.

Die Religion hat neue Erfahrungen gesammelt. Sie ist zu neuer Kraft
erhoben. Auch das religiöse-sittliche Denken ist nicht unberührt geblieben. Der
einseitige ökonomische Individualismus, der möglichst große Bewegungsfreiheit
auch auf wirtschaftlichem Gebiet verlangt, wird zurückgedrängt. Ludwig Heyde
(„Der Krieg und der Individualismus". Verlag von G. Fischer in Jena) wirft
das Problem auf, ob die Übermacht des Staatsgedankens die Persönlichkeits-
kultur, der wir auf allen Gebieten des Lebens in Friedenstagen Ausdruck zu
geben suchten, unterdrücken kann. Er verneint die Befürchtung. Denn der
ökonomische Individualismus hat niemals zu innerlicher und harmonischer
Persönlichkeitskultur geführt. Diese ist unabhängig davon entstanden. Ich hätte
den positiven Nachweis noch hinzugefügt, daß der Mensch erst durch Teil¬
nahme an den großen Gemeinschaftsformen (Ehe, Staat) zur Vollendung
der eigenen Persönlichkeit kommen kann. Und so kann gerade der Krieg,
der den Staatsgedanken uns näher bringt, zur Vollendung der inneren Kultur
beitragen.

Das Thema „Krieg und Religion" wird vielfach von neuem behandelt,
zum Beispiel in den Heften der „Religionsgeschichtlichen Volksbücher" (Verlag Mohr
in Tübingen) von A. Titius und O. Eißfeldt. A. Titius („Unser Krieg".
Ethische Betrachtungen) findet keine harmonische Lösung. Er stellt den Gegen¬
satz in seiner ganzen Schärfe uns vor Augen und gibt angesichts der Unver¬
einbarkeit des christlichen Liebesgebotes mit dem Kriegszustand die Erklärung,
daß eben die Welt nicht sittlich begreiflich ist. „Wie Natur und Gewalt, so
ist auch das Recht in weitem Umfang für die sittliche Betrachtung unzugänglich."


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[0228] Krieg und Religion Der Freireligiöse N. Penzig sucht die Knegserlebnisse zu seinem Nutzen umzudeuten („Deutsche Religion." Verlag der Ethischen Kultur in Berlin). Der Krieg lehrt, daß jeder „passive Glaube, der auf Gnade, Wunder und Erlösung wartet," keinen Wert hat. Nur der „aktive Glaube, der zur Arbeit, zum Kampf, zur Selbsterlösung anfeuert", hat Bestand. Von dem Walten ewiger Kräfte in der Geschichte hat R. Penzig auch jetzt noch nichts gemerkt. Es hören auch immer noch nicht die Versuche auf, durch Reflexion neue Religion zu schaffen. So legt Ludwig Nenner einen „Leitfaden für eine deutsche Religion auf naturwissenschaftlicher Grundlage" vor (Selbstverlag, München 1. Brief¬ fach 23). Man muß derartige Schriften lesen, um wirklich zu empfinden, daß das religiöse Empfinden in den Kirchen trotz all ihrer Gebrechen am stärksten pulsiert. Ein Vergleich deutscher Frömmigkeit mit der unserer Gegner in den Kriegszeiten läßt sich noch nicht ziehen. Es sei aufmerksam gemacht auf die Vierteljahrszeitschrift „Die Eiche" (Verlag von Fr. Zillessen in Berlin), die früher das Organ der kirchlichen Annäherungsversuche zwischen Deutschland und England war und jetzt dieses Problem ins Auge faßt. In den beiden ersten Heften des Jahres 1915 wird manche interessante religiöse Urkunde und Äußerung der Intellektuellen abgedruckt. Die Religion hat neue Erfahrungen gesammelt. Sie ist zu neuer Kraft erhoben. Auch das religiöse-sittliche Denken ist nicht unberührt geblieben. Der einseitige ökonomische Individualismus, der möglichst große Bewegungsfreiheit auch auf wirtschaftlichem Gebiet verlangt, wird zurückgedrängt. Ludwig Heyde („Der Krieg und der Individualismus". Verlag von G. Fischer in Jena) wirft das Problem auf, ob die Übermacht des Staatsgedankens die Persönlichkeits- kultur, der wir auf allen Gebieten des Lebens in Friedenstagen Ausdruck zu geben suchten, unterdrücken kann. Er verneint die Befürchtung. Denn der ökonomische Individualismus hat niemals zu innerlicher und harmonischer Persönlichkeitskultur geführt. Diese ist unabhängig davon entstanden. Ich hätte den positiven Nachweis noch hinzugefügt, daß der Mensch erst durch Teil¬ nahme an den großen Gemeinschaftsformen (Ehe, Staat) zur Vollendung der eigenen Persönlichkeit kommen kann. Und so kann gerade der Krieg, der den Staatsgedanken uns näher bringt, zur Vollendung der inneren Kultur beitragen. Das Thema „Krieg und Religion" wird vielfach von neuem behandelt, zum Beispiel in den Heften der „Religionsgeschichtlichen Volksbücher" (Verlag Mohr in Tübingen) von A. Titius und O. Eißfeldt. A. Titius („Unser Krieg". Ethische Betrachtungen) findet keine harmonische Lösung. Er stellt den Gegen¬ satz in seiner ganzen Schärfe uns vor Augen und gibt angesichts der Unver¬ einbarkeit des christlichen Liebesgebotes mit dem Kriegszustand die Erklärung, daß eben die Welt nicht sittlich begreiflich ist. „Wie Natur und Gewalt, so ist auch das Recht in weitem Umfang für die sittliche Betrachtung unzugänglich."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/228>, abgerufen am 25.08.2024.