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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Der katholische Priester unter russischer Herrschaft

"Der Priester Ch. hat am 21. April 1891, am Tage der Hundertjahrfeier
der polnischen Konstitution von 1791, in der Kirche von O. nach Abendmahl
und Beichte zur Gemeinde von der Konstitution folgendermaßen gesprochen:
.Wir müssen heute den hundertsten Jahrestag des Falles unseres Polens
begehen, denn heute ist der 3. Mai.' Hierfür wurde der Priester Ch. auf
Verfügung des Ministers des Innern für drei Jahre unter Polizeiaufsicht in das
Gouvernement Smolensk verschickt."

Ähnliche Beispiele lassen sich auch aus neuerer Zeit beibringen. Über¬
haupt ist die Regierung bemüht, auch dem Katholizismus gegenüber die Zu¬
geständnisse von 1905/6 möglichst einzuschränken. So zum Beispiel wird nach
einer geheimen Verordnung des Warschauer Generalgouverneurs von 1909
die Verjährungsfrist für Übergriffe in Rechte der orthodoxen Geistlichkeit dadurch
illusorisch gemacht, daß nach Ablauf dieser Frist gegen Priester, die sich solcher
Übergriffe schuldig gemacht haben, im administrativen Verfahren vorgegangen
werden soll. Aus den Konduitenlisten ist aus Art und Zahl der Eintragungen
deutlich zu erkennen, daß die Kontrolle etwa bis 1908 lockerer gehandhabt
wurde. Dann aber wird das alte System bald wiederhergestellt, ja es er¬
folgen sogar 1909 eine Anzahl Maßregelungen für mißliebiges politisches Ver¬
halten von Priestern im Jahre 1905, wofür wir bei der Behandlung der
politischen Vergehen im einzelnen Beispiele beibringen werden.

Interessant und lehrreich sind die Konduitenlisten auch da, wo sie sich auf
nichtpolitische Dinge beziehen. Hierhergehörige Notizen lassen sich etwa in die
drei Gruppen bringen: Formelle Verstöße -- unangemessener Lebenswandel
-- Intoleranz.

"Im Jahre 1893 mit zwölf Rubeln bestraft, weil er sich ohne Paß in
die Gemeinde W. begab" oder "der Priester M. wurde für eine ohne Erlaubnis
vorgenommene Sammlung von Spenden für den Bau eines Gemeindehauses,
die Erneuerung des Altars in der Kirche von Negardow und die Beschaffung
eines Ciboriums für diese Kirche mit einer Geldstrafe von fünfzig Rubeln, im
Fall der Uneinbringlichkeit mit vierzehntägiger Arreststrafe belegt" (aus dem
Jahre 1912) sind typische Eintragungen über formelle Verstöße und deren
Ahndung. Mehrere Verordnungen des Ministeriums des Innern aus den
Jahren 1910 und 1911 befassen sich übrigens damit, wie eine eventuelle
Arreststrafe katholischer Geistlicher abzubüßen sei, und weisen die Zivilbehörden
darauf hin, daß geistliche Seminare oder solche Klöster, die den Arrestanten
nicht in seiner Bewegungsfreiheit und seinem Umgang beschränken, keine geeigneten
Arrestlokale seien. Sache der verantwortlichen Zivilbehörden sei es, "geeignete"
Klöster für diesen Zweck -- nötigenfalls in anderen Eparchien -- ausfindig zu
machen.

Eintragungen über nicht einwandfreien Lebenswandel von Priestern sind
zahlreich vorhanden, liegen aber durchweg zeitlich weiter zurück. Vielleicht ist
dies kein Zufall. Die Regierung zeigte ja von jeher für das politische Ver-


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Der katholische Priester unter russischer Herrschaft

„Der Priester Ch. hat am 21. April 1891, am Tage der Hundertjahrfeier
der polnischen Konstitution von 1791, in der Kirche von O. nach Abendmahl
und Beichte zur Gemeinde von der Konstitution folgendermaßen gesprochen:
.Wir müssen heute den hundertsten Jahrestag des Falles unseres Polens
begehen, denn heute ist der 3. Mai.' Hierfür wurde der Priester Ch. auf
Verfügung des Ministers des Innern für drei Jahre unter Polizeiaufsicht in das
Gouvernement Smolensk verschickt."

Ähnliche Beispiele lassen sich auch aus neuerer Zeit beibringen. Über¬
haupt ist die Regierung bemüht, auch dem Katholizismus gegenüber die Zu¬
geständnisse von 1905/6 möglichst einzuschränken. So zum Beispiel wird nach
einer geheimen Verordnung des Warschauer Generalgouverneurs von 1909
die Verjährungsfrist für Übergriffe in Rechte der orthodoxen Geistlichkeit dadurch
illusorisch gemacht, daß nach Ablauf dieser Frist gegen Priester, die sich solcher
Übergriffe schuldig gemacht haben, im administrativen Verfahren vorgegangen
werden soll. Aus den Konduitenlisten ist aus Art und Zahl der Eintragungen
deutlich zu erkennen, daß die Kontrolle etwa bis 1908 lockerer gehandhabt
wurde. Dann aber wird das alte System bald wiederhergestellt, ja es er¬
folgen sogar 1909 eine Anzahl Maßregelungen für mißliebiges politisches Ver¬
halten von Priestern im Jahre 1905, wofür wir bei der Behandlung der
politischen Vergehen im einzelnen Beispiele beibringen werden.

Interessant und lehrreich sind die Konduitenlisten auch da, wo sie sich auf
nichtpolitische Dinge beziehen. Hierhergehörige Notizen lassen sich etwa in die
drei Gruppen bringen: Formelle Verstöße — unangemessener Lebenswandel
— Intoleranz.

„Im Jahre 1893 mit zwölf Rubeln bestraft, weil er sich ohne Paß in
die Gemeinde W. begab" oder „der Priester M. wurde für eine ohne Erlaubnis
vorgenommene Sammlung von Spenden für den Bau eines Gemeindehauses,
die Erneuerung des Altars in der Kirche von Negardow und die Beschaffung
eines Ciboriums für diese Kirche mit einer Geldstrafe von fünfzig Rubeln, im
Fall der Uneinbringlichkeit mit vierzehntägiger Arreststrafe belegt" (aus dem
Jahre 1912) sind typische Eintragungen über formelle Verstöße und deren
Ahndung. Mehrere Verordnungen des Ministeriums des Innern aus den
Jahren 1910 und 1911 befassen sich übrigens damit, wie eine eventuelle
Arreststrafe katholischer Geistlicher abzubüßen sei, und weisen die Zivilbehörden
darauf hin, daß geistliche Seminare oder solche Klöster, die den Arrestanten
nicht in seiner Bewegungsfreiheit und seinem Umgang beschränken, keine geeigneten
Arrestlokale seien. Sache der verantwortlichen Zivilbehörden sei es, „geeignete"
Klöster für diesen Zweck — nötigenfalls in anderen Eparchien — ausfindig zu
machen.

Eintragungen über nicht einwandfreien Lebenswandel von Priestern sind
zahlreich vorhanden, liegen aber durchweg zeitlich weiter zurück. Vielleicht ist
dies kein Zufall. Die Regierung zeigte ja von jeher für das politische Ver-


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[0143] Der katholische Priester unter russischer Herrschaft „Der Priester Ch. hat am 21. April 1891, am Tage der Hundertjahrfeier der polnischen Konstitution von 1791, in der Kirche von O. nach Abendmahl und Beichte zur Gemeinde von der Konstitution folgendermaßen gesprochen: .Wir müssen heute den hundertsten Jahrestag des Falles unseres Polens begehen, denn heute ist der 3. Mai.' Hierfür wurde der Priester Ch. auf Verfügung des Ministers des Innern für drei Jahre unter Polizeiaufsicht in das Gouvernement Smolensk verschickt." Ähnliche Beispiele lassen sich auch aus neuerer Zeit beibringen. Über¬ haupt ist die Regierung bemüht, auch dem Katholizismus gegenüber die Zu¬ geständnisse von 1905/6 möglichst einzuschränken. So zum Beispiel wird nach einer geheimen Verordnung des Warschauer Generalgouverneurs von 1909 die Verjährungsfrist für Übergriffe in Rechte der orthodoxen Geistlichkeit dadurch illusorisch gemacht, daß nach Ablauf dieser Frist gegen Priester, die sich solcher Übergriffe schuldig gemacht haben, im administrativen Verfahren vorgegangen werden soll. Aus den Konduitenlisten ist aus Art und Zahl der Eintragungen deutlich zu erkennen, daß die Kontrolle etwa bis 1908 lockerer gehandhabt wurde. Dann aber wird das alte System bald wiederhergestellt, ja es er¬ folgen sogar 1909 eine Anzahl Maßregelungen für mißliebiges politisches Ver¬ halten von Priestern im Jahre 1905, wofür wir bei der Behandlung der politischen Vergehen im einzelnen Beispiele beibringen werden. Interessant und lehrreich sind die Konduitenlisten auch da, wo sie sich auf nichtpolitische Dinge beziehen. Hierhergehörige Notizen lassen sich etwa in die drei Gruppen bringen: Formelle Verstöße — unangemessener Lebenswandel — Intoleranz. „Im Jahre 1893 mit zwölf Rubeln bestraft, weil er sich ohne Paß in die Gemeinde W. begab" oder „der Priester M. wurde für eine ohne Erlaubnis vorgenommene Sammlung von Spenden für den Bau eines Gemeindehauses, die Erneuerung des Altars in der Kirche von Negardow und die Beschaffung eines Ciboriums für diese Kirche mit einer Geldstrafe von fünfzig Rubeln, im Fall der Uneinbringlichkeit mit vierzehntägiger Arreststrafe belegt" (aus dem Jahre 1912) sind typische Eintragungen über formelle Verstöße und deren Ahndung. Mehrere Verordnungen des Ministeriums des Innern aus den Jahren 1910 und 1911 befassen sich übrigens damit, wie eine eventuelle Arreststrafe katholischer Geistlicher abzubüßen sei, und weisen die Zivilbehörden darauf hin, daß geistliche Seminare oder solche Klöster, die den Arrestanten nicht in seiner Bewegungsfreiheit und seinem Umgang beschränken, keine geeigneten Arrestlokale seien. Sache der verantwortlichen Zivilbehörden sei es, „geeignete" Klöster für diesen Zweck — nötigenfalls in anderen Eparchien — ausfindig zu machen. Eintragungen über nicht einwandfreien Lebenswandel von Priestern sind zahlreich vorhanden, liegen aber durchweg zeitlich weiter zurück. Vielleicht ist dies kein Zufall. Die Regierung zeigte ja von jeher für das politische Ver- 9*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/143>, abgerufen am 23.07.2024.