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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Die Friedensziele von 535s

Elend verzehren, mögen alle die Rheinlande zu beiden Seiten des Stromes
am Rande der Verzweiflung stehen -- gegen diesen Naubstaat ist keine Ge¬
rechtigkeit, denn ihnen gilt kein Recht als der Besitzstand und obgleich wir ihn
durch ihre Schuld verloren und durch eigene Anstrengung ihn wieder verdient,
so wird er uns dennoch nicht zugesprochen. Österreich hat sich nicht gescheut,
dem verarmten Kirchenstaat sechs Millionen abzufordern, aber diese Räuber¬
bande muß mit zartester Schonung behandelt werden; denn sie hat sich furchtbar
zu machen gewußt, und was man der Gerechtigkeit nie gestatten will, gibt man
willig den Ängsten hin."

Den Vertretern der deutschen Mächte in Paris konnte diese Stimmung
des Volkes unmöglich verborgen bleiben. Sie dachten auch nicht daran, diese
mächtige Strömung zu unterdrücken. Denn was hier an nationalen Plänen
und Wünschen geäußert wurde, floß wunderbar zusammen mit den eigenen
Interessen der Fürsten und den nationalen Plänen und Wünschen ihrer Staats¬
männer. Es waren die Mittelstaaten, besonders aber Preußen, die sich zu den
eifrigsten Wortführern des deutschen Volkes aufwarfen, und die nun, in kühner,
entschlossener Sprache, von den verbündeten Mächten zur Sicherung Deutsch¬
lands und der Niederlande eine Reihe von Festungen im französischen Süd¬
osten, in Artois, Flandern und Luxemburg, vor allem aber das Elsaß und
Lothringen forderten. Mit Recht weist Bernhardt darauf hin, daß Preußen
rein uneigennützig ohne jede Absicht diese Forderungen stellte. Welchen Ge¬
winn hätte es auch selbst von diesem Länderzuwachs haben können? Was
konnte ihm auch daran liegen, wenn die Festungen Flanderns und des
Hennegau, die einst Ludwig der Vierzehnte erobert hatte, wieder den Niederländern
zurückerstattet wurden? Oder wenn das Elsaß in den Besitz eines österreichischen
Erzherzogs oder des Kronprinzen von Württemberg kam? Im Gegenteil, eine
Steigerung der österreichischen Macht konnte ihm höchstens unbequem werden.
Wenn es allenfalls Luxemburg erhalten konnte, so war dieser Gewinn doch
recht zweifelhaft.

Wenn es dennoch so warm für die deutschen Interessen eintrat, so war
es sein starkes Gefühl für die große, nationale Aufgabe, die in scharfen Um¬
rissen schon damals von seinen weitblickenden Staatsmännern erkannt worden war.

Schon auf dem Marsche von Belle-Alliance nach Paris hatte Gneisenau
mit Hardenberg über die Rückgabe des Elsaß verhandelt. In Paris halte
dann Wilhelm von Humboldt eine klare und erschöpfende Denkschrift entworfen,
in welcher er eine feste Bürgschaft von Frankreich verlangte, daß es nicht von
neuem die Ruhe Europas störe und dadurch die Mächte wiederum zwinge, zu
den Waffen zu greifen. Die sicherste Bürgschaft aber scheint ihm die Schwächung
Frankreichs und die Stärkung seiner Nachbarn zu sein. Diesen Nachbarn müsse
man eine gesicherte Grenze verschaffen, indem man ihnen als Verteidigungs¬
mittel die Festungen gebe, deren sich Frankreich, solange es sie besaß, als
Angriffspunkte bedient habe.


Die Friedensziele von 535s

Elend verzehren, mögen alle die Rheinlande zu beiden Seiten des Stromes
am Rande der Verzweiflung stehen — gegen diesen Naubstaat ist keine Ge¬
rechtigkeit, denn ihnen gilt kein Recht als der Besitzstand und obgleich wir ihn
durch ihre Schuld verloren und durch eigene Anstrengung ihn wieder verdient,
so wird er uns dennoch nicht zugesprochen. Österreich hat sich nicht gescheut,
dem verarmten Kirchenstaat sechs Millionen abzufordern, aber diese Räuber¬
bande muß mit zartester Schonung behandelt werden; denn sie hat sich furchtbar
zu machen gewußt, und was man der Gerechtigkeit nie gestatten will, gibt man
willig den Ängsten hin."

Den Vertretern der deutschen Mächte in Paris konnte diese Stimmung
des Volkes unmöglich verborgen bleiben. Sie dachten auch nicht daran, diese
mächtige Strömung zu unterdrücken. Denn was hier an nationalen Plänen
und Wünschen geäußert wurde, floß wunderbar zusammen mit den eigenen
Interessen der Fürsten und den nationalen Plänen und Wünschen ihrer Staats¬
männer. Es waren die Mittelstaaten, besonders aber Preußen, die sich zu den
eifrigsten Wortführern des deutschen Volkes aufwarfen, und die nun, in kühner,
entschlossener Sprache, von den verbündeten Mächten zur Sicherung Deutsch¬
lands und der Niederlande eine Reihe von Festungen im französischen Süd¬
osten, in Artois, Flandern und Luxemburg, vor allem aber das Elsaß und
Lothringen forderten. Mit Recht weist Bernhardt darauf hin, daß Preußen
rein uneigennützig ohne jede Absicht diese Forderungen stellte. Welchen Ge¬
winn hätte es auch selbst von diesem Länderzuwachs haben können? Was
konnte ihm auch daran liegen, wenn die Festungen Flanderns und des
Hennegau, die einst Ludwig der Vierzehnte erobert hatte, wieder den Niederländern
zurückerstattet wurden? Oder wenn das Elsaß in den Besitz eines österreichischen
Erzherzogs oder des Kronprinzen von Württemberg kam? Im Gegenteil, eine
Steigerung der österreichischen Macht konnte ihm höchstens unbequem werden.
Wenn es allenfalls Luxemburg erhalten konnte, so war dieser Gewinn doch
recht zweifelhaft.

Wenn es dennoch so warm für die deutschen Interessen eintrat, so war
es sein starkes Gefühl für die große, nationale Aufgabe, die in scharfen Um¬
rissen schon damals von seinen weitblickenden Staatsmännern erkannt worden war.

Schon auf dem Marsche von Belle-Alliance nach Paris hatte Gneisenau
mit Hardenberg über die Rückgabe des Elsaß verhandelt. In Paris halte
dann Wilhelm von Humboldt eine klare und erschöpfende Denkschrift entworfen,
in welcher er eine feste Bürgschaft von Frankreich verlangte, daß es nicht von
neuem die Ruhe Europas störe und dadurch die Mächte wiederum zwinge, zu
den Waffen zu greifen. Die sicherste Bürgschaft aber scheint ihm die Schwächung
Frankreichs und die Stärkung seiner Nachbarn zu sein. Diesen Nachbarn müsse
man eine gesicherte Grenze verschaffen, indem man ihnen als Verteidigungs¬
mittel die Festungen gebe, deren sich Frankreich, solange es sie besaß, als
Angriffspunkte bedient habe.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/121>, abgerufen am 23.07.2024.