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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Kriegsliteratur

Bei weitem das beste Buch, das bisher während des Krieges über England
geschrieben worden ist, und das nicht genug allen denen empfohlen werden
kann, die sich über die Entwicklung Englands und seiner Politik orientieren
wollen, ist das Werk des bekannten Berliner Uinversitütsprofessors Eduard
Meyer: "England, Seine staatliche und politische Entwicklung und der Krieg
gegen Deutschland" (Verlag von I. G. Cotta in Stuttgart). Es ist eine aus¬
gezeichnete, rein wissenschaftliche Arbeit von großem historischen Werte, die "sine
ira et stuäio" der historischen Entwicklung auf den Grund geht, unbeeinflußt
von den subjektiven Gefühlen, die in der heutigen ernsten Zeit ja allzu leicht
den objektiven Blick des Schreibers trüben und Tatsachen, die sich bei kühler
Betrachtung gleichsam von selbst aus der geschichtlichen Entwicklung ergeben,
in seinen Augen als Verrat. Perfidie, Heuchelei und dergleichen mehr erscheinen
lassen. Das interessanteste Kapitel des Buches ist zweifellos die Schilderung
Eduards des Siebenten und seiner Lebensaufgabe, die ihren Gipfel findet in
der leider allzu gelungenen Einkreisungspolitik dem jüngsten Rivalen Englands
auf dem Kontinente gegenüber, dem Deutschen Reiche, das man -- wie in ver¬
gangenen Jahrhunderten Spanien, Holland, Frankreich und Rußland -- nieder¬
kämpfen zu müssen glaubte, um das "europäische Gleichgewicht" aufrecht zu erhalten.

Dieser von England stets vorgeschobene Kampf um Erhaltung des euro¬
päischen Gleichgewichts hat jedoch in der Wirkung stets eine Störung desselben
und europäischen Krieg bedeutet, unter dessen Kanonendonner England es
meisterhaft verstanden hat, sein Schäfchen ins Trockene zu bringen und sein
Weltreich über alle Erdteile auszudehnen. Die bedeutendsten Phasen dieser
englischen Expansionspolitik schildert uns Ferdinand Tönnies in seinem Buche:
"Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung" (Verlag von Julius Springer,
Berlin). An der Hand von Schriften der hervorragendsten englischen Historiker
wie Seelen, Leckn, Holland Rose und anderen läßt der Verfasser in knapper,
aber außerordentlich anschaulicher Weise die Hauptepochen der englischen
Geschichte in den letzten beiden Jahrhunderten an uns vorüberziehen, die zur
Genüge zeigen, wie England stets nur Realpolitik getrieben hat, eine Politik,
die sich auch niemals gescheut hat, wenn es nötig wurde, zu Mitteln zu greifen,
deren Anwendung man mit Recht als barbarisch bezeichnen kann, so zum
Beispiel gelegentlich der Eroberung des ostindischen Reiches. Trotz dieser
"egoistischen Rücksichtslosigkeit", die mau in recht zahlreichen Fällen in der
Geschichte der englischen Politik findet, darf oder sollte sich jedoch der Geschichts¬
schreiber nicht durch den augenblicklichen Haß zu einer subjektiv gefärbten
Geschichtsschreibung hinreißen lassen. Dies ist leider an vielen Stellen des
im übrigen ausgezeichnet geschriebenen und lesenswerten Buches des Grafen
Ernst zu Reventlow: "Der Vampir des Festlandes" (Verlag von Mittler
und Sohn) der Fall. Reventlow zeigt in einem Rückblick auf die Geschichte
der englischen Politik vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart, wie
Diplomatie und Presse Englands es stets meisterhaft verstanden haben, sich


Kriegsliteratur

Bei weitem das beste Buch, das bisher während des Krieges über England
geschrieben worden ist, und das nicht genug allen denen empfohlen werden
kann, die sich über die Entwicklung Englands und seiner Politik orientieren
wollen, ist das Werk des bekannten Berliner Uinversitütsprofessors Eduard
Meyer: „England, Seine staatliche und politische Entwicklung und der Krieg
gegen Deutschland" (Verlag von I. G. Cotta in Stuttgart). Es ist eine aus¬
gezeichnete, rein wissenschaftliche Arbeit von großem historischen Werte, die „sine
ira et stuäio" der historischen Entwicklung auf den Grund geht, unbeeinflußt
von den subjektiven Gefühlen, die in der heutigen ernsten Zeit ja allzu leicht
den objektiven Blick des Schreibers trüben und Tatsachen, die sich bei kühler
Betrachtung gleichsam von selbst aus der geschichtlichen Entwicklung ergeben,
in seinen Augen als Verrat. Perfidie, Heuchelei und dergleichen mehr erscheinen
lassen. Das interessanteste Kapitel des Buches ist zweifellos die Schilderung
Eduards des Siebenten und seiner Lebensaufgabe, die ihren Gipfel findet in
der leider allzu gelungenen Einkreisungspolitik dem jüngsten Rivalen Englands
auf dem Kontinente gegenüber, dem Deutschen Reiche, das man — wie in ver¬
gangenen Jahrhunderten Spanien, Holland, Frankreich und Rußland — nieder¬
kämpfen zu müssen glaubte, um das „europäische Gleichgewicht" aufrecht zu erhalten.

Dieser von England stets vorgeschobene Kampf um Erhaltung des euro¬
päischen Gleichgewichts hat jedoch in der Wirkung stets eine Störung desselben
und europäischen Krieg bedeutet, unter dessen Kanonendonner England es
meisterhaft verstanden hat, sein Schäfchen ins Trockene zu bringen und sein
Weltreich über alle Erdteile auszudehnen. Die bedeutendsten Phasen dieser
englischen Expansionspolitik schildert uns Ferdinand Tönnies in seinem Buche:
„Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung" (Verlag von Julius Springer,
Berlin). An der Hand von Schriften der hervorragendsten englischen Historiker
wie Seelen, Leckn, Holland Rose und anderen läßt der Verfasser in knapper,
aber außerordentlich anschaulicher Weise die Hauptepochen der englischen
Geschichte in den letzten beiden Jahrhunderten an uns vorüberziehen, die zur
Genüge zeigen, wie England stets nur Realpolitik getrieben hat, eine Politik,
die sich auch niemals gescheut hat, wenn es nötig wurde, zu Mitteln zu greifen,
deren Anwendung man mit Recht als barbarisch bezeichnen kann, so zum
Beispiel gelegentlich der Eroberung des ostindischen Reiches. Trotz dieser
„egoistischen Rücksichtslosigkeit", die mau in recht zahlreichen Fällen in der
Geschichte der englischen Politik findet, darf oder sollte sich jedoch der Geschichts¬
schreiber nicht durch den augenblicklichen Haß zu einer subjektiv gefärbten
Geschichtsschreibung hinreißen lassen. Dies ist leider an vielen Stellen des
im übrigen ausgezeichnet geschriebenen und lesenswerten Buches des Grafen
Ernst zu Reventlow: „Der Vampir des Festlandes" (Verlag von Mittler
und Sohn) der Fall. Reventlow zeigt in einem Rückblick auf die Geschichte
der englischen Politik vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart, wie
Diplomatie und Presse Englands es stets meisterhaft verstanden haben, sich


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[0100] Kriegsliteratur Bei weitem das beste Buch, das bisher während des Krieges über England geschrieben worden ist, und das nicht genug allen denen empfohlen werden kann, die sich über die Entwicklung Englands und seiner Politik orientieren wollen, ist das Werk des bekannten Berliner Uinversitütsprofessors Eduard Meyer: „England, Seine staatliche und politische Entwicklung und der Krieg gegen Deutschland" (Verlag von I. G. Cotta in Stuttgart). Es ist eine aus¬ gezeichnete, rein wissenschaftliche Arbeit von großem historischen Werte, die „sine ira et stuäio" der historischen Entwicklung auf den Grund geht, unbeeinflußt von den subjektiven Gefühlen, die in der heutigen ernsten Zeit ja allzu leicht den objektiven Blick des Schreibers trüben und Tatsachen, die sich bei kühler Betrachtung gleichsam von selbst aus der geschichtlichen Entwicklung ergeben, in seinen Augen als Verrat. Perfidie, Heuchelei und dergleichen mehr erscheinen lassen. Das interessanteste Kapitel des Buches ist zweifellos die Schilderung Eduards des Siebenten und seiner Lebensaufgabe, die ihren Gipfel findet in der leider allzu gelungenen Einkreisungspolitik dem jüngsten Rivalen Englands auf dem Kontinente gegenüber, dem Deutschen Reiche, das man — wie in ver¬ gangenen Jahrhunderten Spanien, Holland, Frankreich und Rußland — nieder¬ kämpfen zu müssen glaubte, um das „europäische Gleichgewicht" aufrecht zu erhalten. Dieser von England stets vorgeschobene Kampf um Erhaltung des euro¬ päischen Gleichgewichts hat jedoch in der Wirkung stets eine Störung desselben und europäischen Krieg bedeutet, unter dessen Kanonendonner England es meisterhaft verstanden hat, sein Schäfchen ins Trockene zu bringen und sein Weltreich über alle Erdteile auszudehnen. Die bedeutendsten Phasen dieser englischen Expansionspolitik schildert uns Ferdinand Tönnies in seinem Buche: „Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung" (Verlag von Julius Springer, Berlin). An der Hand von Schriften der hervorragendsten englischen Historiker wie Seelen, Leckn, Holland Rose und anderen läßt der Verfasser in knapper, aber außerordentlich anschaulicher Weise die Hauptepochen der englischen Geschichte in den letzten beiden Jahrhunderten an uns vorüberziehen, die zur Genüge zeigen, wie England stets nur Realpolitik getrieben hat, eine Politik, die sich auch niemals gescheut hat, wenn es nötig wurde, zu Mitteln zu greifen, deren Anwendung man mit Recht als barbarisch bezeichnen kann, so zum Beispiel gelegentlich der Eroberung des ostindischen Reiches. Trotz dieser „egoistischen Rücksichtslosigkeit", die mau in recht zahlreichen Fällen in der Geschichte der englischen Politik findet, darf oder sollte sich jedoch der Geschichts¬ schreiber nicht durch den augenblicklichen Haß zu einer subjektiv gefärbten Geschichtsschreibung hinreißen lassen. Dies ist leider an vielen Stellen des im übrigen ausgezeichnet geschriebenen und lesenswerten Buches des Grafen Ernst zu Reventlow: „Der Vampir des Festlandes" (Verlag von Mittler und Sohn) der Fall. Reventlow zeigt in einem Rückblick auf die Geschichte der englischen Politik vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart, wie Diplomatie und Presse Englands es stets meisterhaft verstanden haben, sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/100>, abgerufen am 01.10.2024.