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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Gobineau über Deutsche und Franzosen

wie nach außen gewesen find. Alle diese Menschen, denen die höchsten Interessen
des Landes anvertraut waren, haben sich tänzelnd, ein graziöses Lächeln auf
den Lippen, dem Untergange zubewegt und leider Frankreich hinter sich herge¬
zogen. Denn mit den Hebeln ihres Emporkommens, Unwissenheit und geringer
Moralität, haben sie nur zu sehr Schule gemacht; ja, sie find im Grunde nur
ein Ausschnitt aus einer Gesellschaft, in der die drei genannten Eigenschaften
sich seit langem krebsartig festgesetzt haben.

Von unten nach oben aufsteigend, unterzieht Gobineau darauf die einzelnen
Schichten dieser Gesellschaft einer tiefernsten Prüfung. An die Stelle des
Bauern von ehedem, der noch religiösen Sinn kannte und seinem Geistlichen
mannigfache Unterweisung dankte, ist der moderne "Ökonom" (cultivateur)
getreten, der seinem Vorgänger an Unwissenheit weit voraus, an seelischer und
körperlicher Gesundheit weit nachstehend erscheint. Das dunkle Kapitel des
Alkoholismus, des gesundheitlichen Niederganges und des Geburtenrückgangs
erfährt schon hier eine schonungslose Beleuchtung. Seine politische Weisheit
bezieht der Bauer von heute mit wachsender Vorliebe von dem Arbeiter, mit
dem er in der Schenke zusammentrifft; und da sie in der Hauptsache auf die
bekannten Schlagworte von der Gleichheit und auf die Lehre hinausläuft, daß
das Volk (worunter ein jeder vor allem sich selbst versteht) alles und das
übrige nichts sei, so ist das Ergebnis einer solchen Belehrung, daß der früher
schon stark entwickelte Egoismus des Bauern in die vollkommenste Gleichgültigkeit
gegenüber den Geschicken des Vaterlandes ausartet. Er kennt für gewöhnlich
nur noch das eine Sinnen und Sorgen, sich den Pflichten gegen letzteres auf
jede Weise zu entziehen, er ist "ein Lasttier, das von seiner wahren Bestimmung
abgelenkt ist", und kann der elenden Gesellschaft, die ihn nicht mehr an seinem
Platze festzuhalten weiß, nur noch zum Schaden gereichen.

Immerhin kann man sagen, daß er nur nichts Gutes mehr zu stiften
vermag; der Arbeiter aber vermag geradezu Böses zu stiften. Die mancherlei
Bildungsversuche, die man mit den Arbeitern angestellt hat, haben für die
Masse derselben nur dahin geführt, daß sie sich mit Phrasen vollgesogen haben.
Sie handhaben diese mit einer selbstbewußten Sicherheit, als wären es sibyllinische
Orakel, und in den Tagen der Unruhen können sie daher im Munde kalter
Fanatiker zu den verhängnisvollsten Losungsworten werden. Die Regierung
hat die Arbeiterschaft seit langem mit berechtigtem Mißtrauen betrachtet, sie
hätte es gerne gesehen, wenn die Kirche ihre Bemühungen, diesen Stand in
unschädlichen Bahnen zu erhalten, gefördert hätte. Aber der Arbeiter will von
Religion nichts wissen, er wirft sich lieber den Genüssen, den Ausschweifungen
in die Arme.

Das zweite Kaiserreich, das sein Emporkommen der wahlloser Benutzung
der allerverschiedensten Elemente verdankte und sich genötigt sah. sie sich alle
warmzuhalten, verfiel der Arbeiterklasse gegenüber auf den Gedanken, ihr durch
eine Unternehmung allergrößten Maßstabes zugleich Arbeit und Verdienst- und


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Gobineau über Deutsche und Franzosen

wie nach außen gewesen find. Alle diese Menschen, denen die höchsten Interessen
des Landes anvertraut waren, haben sich tänzelnd, ein graziöses Lächeln auf
den Lippen, dem Untergange zubewegt und leider Frankreich hinter sich herge¬
zogen. Denn mit den Hebeln ihres Emporkommens, Unwissenheit und geringer
Moralität, haben sie nur zu sehr Schule gemacht; ja, sie find im Grunde nur
ein Ausschnitt aus einer Gesellschaft, in der die drei genannten Eigenschaften
sich seit langem krebsartig festgesetzt haben.

Von unten nach oben aufsteigend, unterzieht Gobineau darauf die einzelnen
Schichten dieser Gesellschaft einer tiefernsten Prüfung. An die Stelle des
Bauern von ehedem, der noch religiösen Sinn kannte und seinem Geistlichen
mannigfache Unterweisung dankte, ist der moderne „Ökonom" (cultivateur)
getreten, der seinem Vorgänger an Unwissenheit weit voraus, an seelischer und
körperlicher Gesundheit weit nachstehend erscheint. Das dunkle Kapitel des
Alkoholismus, des gesundheitlichen Niederganges und des Geburtenrückgangs
erfährt schon hier eine schonungslose Beleuchtung. Seine politische Weisheit
bezieht der Bauer von heute mit wachsender Vorliebe von dem Arbeiter, mit
dem er in der Schenke zusammentrifft; und da sie in der Hauptsache auf die
bekannten Schlagworte von der Gleichheit und auf die Lehre hinausläuft, daß
das Volk (worunter ein jeder vor allem sich selbst versteht) alles und das
übrige nichts sei, so ist das Ergebnis einer solchen Belehrung, daß der früher
schon stark entwickelte Egoismus des Bauern in die vollkommenste Gleichgültigkeit
gegenüber den Geschicken des Vaterlandes ausartet. Er kennt für gewöhnlich
nur noch das eine Sinnen und Sorgen, sich den Pflichten gegen letzteres auf
jede Weise zu entziehen, er ist „ein Lasttier, das von seiner wahren Bestimmung
abgelenkt ist", und kann der elenden Gesellschaft, die ihn nicht mehr an seinem
Platze festzuhalten weiß, nur noch zum Schaden gereichen.

Immerhin kann man sagen, daß er nur nichts Gutes mehr zu stiften
vermag; der Arbeiter aber vermag geradezu Böses zu stiften. Die mancherlei
Bildungsversuche, die man mit den Arbeitern angestellt hat, haben für die
Masse derselben nur dahin geführt, daß sie sich mit Phrasen vollgesogen haben.
Sie handhaben diese mit einer selbstbewußten Sicherheit, als wären es sibyllinische
Orakel, und in den Tagen der Unruhen können sie daher im Munde kalter
Fanatiker zu den verhängnisvollsten Losungsworten werden. Die Regierung
hat die Arbeiterschaft seit langem mit berechtigtem Mißtrauen betrachtet, sie
hätte es gerne gesehen, wenn die Kirche ihre Bemühungen, diesen Stand in
unschädlichen Bahnen zu erhalten, gefördert hätte. Aber der Arbeiter will von
Religion nichts wissen, er wirft sich lieber den Genüssen, den Ausschweifungen
in die Arme.

Das zweite Kaiserreich, das sein Emporkommen der wahlloser Benutzung
der allerverschiedensten Elemente verdankte und sich genötigt sah. sie sich alle
warmzuhalten, verfiel der Arbeiterklasse gegenüber auf den Gedanken, ihr durch
eine Unternehmung allergrößten Maßstabes zugleich Arbeit und Verdienst- und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/95>, abgerufen am 22.07.2024.