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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Gobineau über Deutsche und Franzosen

müssen geglaubt, was mit ein paar Axtschlägen umzuwerfen war." Die not¬
wendigen Umwälzungen, die sie herbeigeführt hat, wären, so gut wie in den
übrigen europäischen Staaten, auf gesetzlichem Wege zu bewerkstelligen gewesen.
Sie hat nicht einen neuen ernsten Gedanken zutage gefördert, sondern nur
alles Alte potenziert. Sie hat, wiewohl immerfort Recht und Freiheit im
Munde führend, welche sie übrigens nur auf die schrankenlose Herrschaft der
Majoritäten zu begründen wußte, in Wahrheit vielmehr jene mit Füßen getreten,
alle noch übrigen Freiheiten der Provinzen, der Gemeinden wie der Individuen
unterdrückt und in ihrem Verlauf zu Ausschreitungen der Staatsomnipotenz
geführt, welche alles Frühere weit hinter sich und die vielberufenen "Prinzipien
von 89" als eine reine Illusion, ja als eine Mystifikation erscheinen lassen.

Hand in Hand mit diesem ging ein anderes Übel, das ebenfalls um jene
Zeit besonders stark ausgebildet erscheint und das für die Unglücksfälle von
1870 mit in erster Linie verantwortlich zu machen sein dürfte: die National-
eitelkeit. In früheren Jahrhunderten hatten sich die Franzosen offene Sinne
und Augen für die Vorzüge des Auslandes bewahrt; und dem entsprach ihre
rege Betätigung daselbst. Man fand Franzosen in Hülle und Fülle in ganz
Europa, ja in der ganzen Welt. Erst unter Ludwig dem Vierzehnten begann,
nach dem verhängnisvollen Vorbilde dieses Monarchen, jene Selbstvergötterung,
welche ein entsprechendes Sicherheben über und Sichzurückziehen von den anderen
Völkern im Gefolge hatte. Das übrige Europa hat allerdings nicht wenig
dazu beigetragen, durch seinen Kultus alles Französischen diesen bedenklichen
Zug noch zu steigern.

Und doch hätte gerade im achtzehnten Jahrhundert so manches hiervor
warnen sollen, da es damals so ziemlich auf allen Gebieten mit Frankreich
bergab ging. Statt dessen isolierte man sich nur immer mehr und glaubte sich
vollends durch die Revolution (deren gesunde Keime und Bestrebungen allen
Hauptvölkern Europas gemeinsam waren) zu einem einzigartigen Weltheiland,
zum höchsten Heilbringer der Völker, zum bevorzugten Kulturträger, zum obersten
Hüter von Vernunft, Freiheit und Recht berufen. Der Wahn der Unbesieg-
barkeit, Hand in Hand mit dem einer geistigen Überlegenheit (Zloire -- e8prit).
setzte sich dermaßen in der französischen Volksseele fest, daß selbst die furcht¬
baren Schläge, unter denen das Kaisertum niedergeworfen wurde, ihn kaum
zu erschüttern vermochten. Immerhin brachten Restauration und Julikönigtum
einigen Rückschlag wenigstens insofern, als in der geistigen Welt einzelne
Strömungen, wie vor allem die Romantik, dem Auslande wieder ernstlichere
Beachtung und der Nationaleitelkeit entsprechende Abzüge zuteil werden ließen
und in der politischen die Regierungen jener beiden Epochen sich den übrigen
europäischen gegenüber zur Anerkennung und Voraussetzung einer Gleich¬
berechtigung bequemten. Die Nation freilich ließ sich durch die damit gegebenen
Beispiele in keiner Weise, es sei denn gegnerisch, beeinflussen, so daß sie in
das zweite Kaiserreich vielmehr in einer Verfassung und mit einer Anschauung


Grenzboten II 1816 v
Gobineau über Deutsche und Franzosen

müssen geglaubt, was mit ein paar Axtschlägen umzuwerfen war." Die not¬
wendigen Umwälzungen, die sie herbeigeführt hat, wären, so gut wie in den
übrigen europäischen Staaten, auf gesetzlichem Wege zu bewerkstelligen gewesen.
Sie hat nicht einen neuen ernsten Gedanken zutage gefördert, sondern nur
alles Alte potenziert. Sie hat, wiewohl immerfort Recht und Freiheit im
Munde führend, welche sie übrigens nur auf die schrankenlose Herrschaft der
Majoritäten zu begründen wußte, in Wahrheit vielmehr jene mit Füßen getreten,
alle noch übrigen Freiheiten der Provinzen, der Gemeinden wie der Individuen
unterdrückt und in ihrem Verlauf zu Ausschreitungen der Staatsomnipotenz
geführt, welche alles Frühere weit hinter sich und die vielberufenen „Prinzipien
von 89" als eine reine Illusion, ja als eine Mystifikation erscheinen lassen.

Hand in Hand mit diesem ging ein anderes Übel, das ebenfalls um jene
Zeit besonders stark ausgebildet erscheint und das für die Unglücksfälle von
1870 mit in erster Linie verantwortlich zu machen sein dürfte: die National-
eitelkeit. In früheren Jahrhunderten hatten sich die Franzosen offene Sinne
und Augen für die Vorzüge des Auslandes bewahrt; und dem entsprach ihre
rege Betätigung daselbst. Man fand Franzosen in Hülle und Fülle in ganz
Europa, ja in der ganzen Welt. Erst unter Ludwig dem Vierzehnten begann,
nach dem verhängnisvollen Vorbilde dieses Monarchen, jene Selbstvergötterung,
welche ein entsprechendes Sicherheben über und Sichzurückziehen von den anderen
Völkern im Gefolge hatte. Das übrige Europa hat allerdings nicht wenig
dazu beigetragen, durch seinen Kultus alles Französischen diesen bedenklichen
Zug noch zu steigern.

Und doch hätte gerade im achtzehnten Jahrhundert so manches hiervor
warnen sollen, da es damals so ziemlich auf allen Gebieten mit Frankreich
bergab ging. Statt dessen isolierte man sich nur immer mehr und glaubte sich
vollends durch die Revolution (deren gesunde Keime und Bestrebungen allen
Hauptvölkern Europas gemeinsam waren) zu einem einzigartigen Weltheiland,
zum höchsten Heilbringer der Völker, zum bevorzugten Kulturträger, zum obersten
Hüter von Vernunft, Freiheit und Recht berufen. Der Wahn der Unbesieg-
barkeit, Hand in Hand mit dem einer geistigen Überlegenheit (Zloire — e8prit).
setzte sich dermaßen in der französischen Volksseele fest, daß selbst die furcht¬
baren Schläge, unter denen das Kaisertum niedergeworfen wurde, ihn kaum
zu erschüttern vermochten. Immerhin brachten Restauration und Julikönigtum
einigen Rückschlag wenigstens insofern, als in der geistigen Welt einzelne
Strömungen, wie vor allem die Romantik, dem Auslande wieder ernstlichere
Beachtung und der Nationaleitelkeit entsprechende Abzüge zuteil werden ließen
und in der politischen die Regierungen jener beiden Epochen sich den übrigen
europäischen gegenüber zur Anerkennung und Voraussetzung einer Gleich¬
berechtigung bequemten. Die Nation freilich ließ sich durch die damit gegebenen
Beispiele in keiner Weise, es sei denn gegnerisch, beeinflussen, so daß sie in
das zweite Kaiserreich vielmehr in einer Verfassung und mit einer Anschauung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/93>, abgerufen am 24.08.2024.