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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Gobineau über Deutsche und Franzosen

Teilnahme an allen ethischen, aber auch sozialen und volkswirtschaftlichen Auf¬
gaben, die uns heute dringender als je am Herzen liegen, das sind die neuen
Wege und Ziele, die sich für die Kirche auftun.

Aus diesem Grunde trete ich auch sür das kirchliche Stimm- und Wahl¬
recht der Frau ein. sowohl für das aktive wie das passive. Denn in dem
Streben, die Kirche ins Volk zu tragen, fällt ohne Zweifel der Frau eine
große Aufgabe zu.

Und erst wenn alle Kraft darauf gerichtet ist, die Staatskirche zur Volks¬
kirche zu gestalten, ihre rein "kirchliche" Sendung zu einer nationalen und
vaterländischen umzuändern, dann kann sie ihre Aufgabe erfüllen: Erzieherin
des Volkes, Teilnehmerin an feinen Erhebungen und Leiden und das religiöse
Gewissen der Gesellschaft zu sein.




Gobineau über Deutsche und Franzosen
Prof. Dr. Ludwig Scheinann von^Schluß)

Gobineau geht von der Tatsache aus, daß eine ähnliche Katastrophe wie
die Frankreichs im Jahre 1870 kein anderes Land in alter und neuer Zeit je
betroffen habe und begründet dies damit, daß es sich bei jener Katastrophe
nicht etwa nur um eine Reihe von Niederlagen, um die Besetzung zahlreicher
Provinzen, die Einnahme der Hauptstadt und die ungeheure Schwächung der
Finanzkraft, sondern um das völlige Versagen der Armee, der militärischen wie
der Zivilverwaltung und um eine weitgehende Entwertung des Volkes, des
ländlichen, noch mehr des städtischen, gehandelt habe, so daß Frankreich am
Ende nur noch das Bild eines moralischen Trümmerhaufens geboten habe.

Eine solche allgemeine Auflösung muß ihre tieferen Gründe haben, ihre
Ursachen müssen weit zurückgehen. Um ihnen auf den Grund zu kommen, hat
man sich vor allem von dem Kardinalwahn der modernen Franzosen frei¬
zumachen, als sei das berühmte Jahr 1789 ein Erneuerungsjahr gewesen, als
habe die Revolution der Welt eine Normalordnung beschert. In Wahrheit
hat diese vielmehr lediglich der Zentralisation und dem Staatsabsolutismus,
welche durch die großen Minister und die großen Monarchen des ancisn r6Zins
schon auf die denkbar höchste Stufe gebracht waren, den letzten Abschluß gegeben.
"Die Revolution hat durch eine ungeheure Mine in die Luft sprengen zu


Gobineau über Deutsche und Franzosen

Teilnahme an allen ethischen, aber auch sozialen und volkswirtschaftlichen Auf¬
gaben, die uns heute dringender als je am Herzen liegen, das sind die neuen
Wege und Ziele, die sich für die Kirche auftun.

Aus diesem Grunde trete ich auch sür das kirchliche Stimm- und Wahl¬
recht der Frau ein. sowohl für das aktive wie das passive. Denn in dem
Streben, die Kirche ins Volk zu tragen, fällt ohne Zweifel der Frau eine
große Aufgabe zu.

Und erst wenn alle Kraft darauf gerichtet ist, die Staatskirche zur Volks¬
kirche zu gestalten, ihre rein „kirchliche" Sendung zu einer nationalen und
vaterländischen umzuändern, dann kann sie ihre Aufgabe erfüllen: Erzieherin
des Volkes, Teilnehmerin an feinen Erhebungen und Leiden und das religiöse
Gewissen der Gesellschaft zu sein.




Gobineau über Deutsche und Franzosen
Prof. Dr. Ludwig Scheinann von^Schluß)

Gobineau geht von der Tatsache aus, daß eine ähnliche Katastrophe wie
die Frankreichs im Jahre 1870 kein anderes Land in alter und neuer Zeit je
betroffen habe und begründet dies damit, daß es sich bei jener Katastrophe
nicht etwa nur um eine Reihe von Niederlagen, um die Besetzung zahlreicher
Provinzen, die Einnahme der Hauptstadt und die ungeheure Schwächung der
Finanzkraft, sondern um das völlige Versagen der Armee, der militärischen wie
der Zivilverwaltung und um eine weitgehende Entwertung des Volkes, des
ländlichen, noch mehr des städtischen, gehandelt habe, so daß Frankreich am
Ende nur noch das Bild eines moralischen Trümmerhaufens geboten habe.

Eine solche allgemeine Auflösung muß ihre tieferen Gründe haben, ihre
Ursachen müssen weit zurückgehen. Um ihnen auf den Grund zu kommen, hat
man sich vor allem von dem Kardinalwahn der modernen Franzosen frei¬
zumachen, als sei das berühmte Jahr 1789 ein Erneuerungsjahr gewesen, als
habe die Revolution der Welt eine Normalordnung beschert. In Wahrheit
hat diese vielmehr lediglich der Zentralisation und dem Staatsabsolutismus,
welche durch die großen Minister und die großen Monarchen des ancisn r6Zins
schon auf die denkbar höchste Stufe gebracht waren, den letzten Abschluß gegeben.
„Die Revolution hat durch eine ungeheure Mine in die Luft sprengen zu


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[0092] Gobineau über Deutsche und Franzosen Teilnahme an allen ethischen, aber auch sozialen und volkswirtschaftlichen Auf¬ gaben, die uns heute dringender als je am Herzen liegen, das sind die neuen Wege und Ziele, die sich für die Kirche auftun. Aus diesem Grunde trete ich auch sür das kirchliche Stimm- und Wahl¬ recht der Frau ein. sowohl für das aktive wie das passive. Denn in dem Streben, die Kirche ins Volk zu tragen, fällt ohne Zweifel der Frau eine große Aufgabe zu. Und erst wenn alle Kraft darauf gerichtet ist, die Staatskirche zur Volks¬ kirche zu gestalten, ihre rein „kirchliche" Sendung zu einer nationalen und vaterländischen umzuändern, dann kann sie ihre Aufgabe erfüllen: Erzieherin des Volkes, Teilnehmerin an feinen Erhebungen und Leiden und das religiöse Gewissen der Gesellschaft zu sein. Gobineau über Deutsche und Franzosen Prof. Dr. Ludwig Scheinann von^Schluß) Gobineau geht von der Tatsache aus, daß eine ähnliche Katastrophe wie die Frankreichs im Jahre 1870 kein anderes Land in alter und neuer Zeit je betroffen habe und begründet dies damit, daß es sich bei jener Katastrophe nicht etwa nur um eine Reihe von Niederlagen, um die Besetzung zahlreicher Provinzen, die Einnahme der Hauptstadt und die ungeheure Schwächung der Finanzkraft, sondern um das völlige Versagen der Armee, der militärischen wie der Zivilverwaltung und um eine weitgehende Entwertung des Volkes, des ländlichen, noch mehr des städtischen, gehandelt habe, so daß Frankreich am Ende nur noch das Bild eines moralischen Trümmerhaufens geboten habe. Eine solche allgemeine Auflösung muß ihre tieferen Gründe haben, ihre Ursachen müssen weit zurückgehen. Um ihnen auf den Grund zu kommen, hat man sich vor allem von dem Kardinalwahn der modernen Franzosen frei¬ zumachen, als sei das berühmte Jahr 1789 ein Erneuerungsjahr gewesen, als habe die Revolution der Welt eine Normalordnung beschert. In Wahrheit hat diese vielmehr lediglich der Zentralisation und dem Staatsabsolutismus, welche durch die großen Minister und die großen Monarchen des ancisn r6Zins schon auf die denkbar höchste Stufe gebracht waren, den letzten Abschluß gegeben. „Die Revolution hat durch eine ungeheure Mine in die Luft sprengen zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/92>, abgerufen am 22.07.2024.