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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung

aller Kreise. Hier hat der Geistliche den Arbeiter, das Dienstmädchen wie den
Gebildeten zu seinen Zuhörern. Hier ist zugleich die größte Empfänglichkeit
und der Wille anzunehmen. Was der Pfarrer von der Kanzel sagt" wird
anders aufgenommen, als was geschrieben oder angeordnet wird. Eine geeignetere
Stelle zur ernsten aufklärenden Mahnung ist also nicht denkbar.

Oder wollte man einwenden: eine solche praktische Belehrung über wirt¬
schaftliche Dinge würde eine bedenkliche Annäherung an den flachen Rationalismus
der Aufklärungszeit bedeuten?

Das wäre falsch. Eine ethische Aufklärung zu unseres Vaterlandes Heil
würde im Gegenteil einer Vertiefung religiösen Lebens und Handelns gleich¬
kommen. Von jeher haben die Kraft und Größe des Christentums in der Ver¬
kündigung eines Glaubens bestanden, der tätig ist in der Liebe, haben sie sich in
der Hinwendung zu den täglichen Aufgaben und Bedürfnissen des täglichen
Lebens gezeigt. Aus ihnen erwuchsen die unvergleichlichen Reden und Gleich"
nisse, mit denen Christus so gewaltig an den Nerv des Volkslebens zu fassen
wußte. Was uns heute not tut, das ist ein praktisches Christentum, das nicht
immer "kirchlich" sein will, sich vielmehr auch außerhalb der kirchlichen Formen
fruchtbar an den rein Humanitären Arbeiten freier oder städtischer oder staat¬
licher Einrichtungen beteiligt. So allein bewährt es die Kraft des Sauerteiges,
der die Welt durchdringen soll.

Es ist sich bereits seiner vaterländischen Aufgaben bewußt geworden. Aus
Pfarrhäusern, von Presbvterien und Gemeindeverwaltungen sind zahlreich die
Liebesgaben und Feldpostpakete an unsere Krieger herausgegangen. In den
Lazaretten und anderen Einrichtungen des roten Kreuzes haben Geistliche, ihre
Frauen und Töchter hingebend gearbeitet. Die innere Mission, der evangelische
Bund und sonstige kirchliche Einrichtungen haben die Sonderaufgaben, derent¬
wegen sie ins Leben gerufen wurden, hintenangestellt, um lediglich vaterländische
Arbeit zu tun. Von der nationalen Bedeutung, die man der Kirche jetzt allgemein
zuerkennt, zeugt auch der häufig gemachte, hier und da bereits in die Tat
übergesetzte Vorschlag: man möchte die traurigen, mit der Aufschrift "tot" oder
"gefallen" zurückgesandten Briefe ebenso wie offizielle Todesbenachrichtigungen
an das zuständige Pfarramt schicken, damit der Geistliche hingehen und die
Angehörigen in der rechten Weise vorbereiten könne.

Von wie vielen Pfarrern haben die Zeitungen berichtet, daß durch ihre
Predigten und ihr Wirken Unsummen von ängstlich versteckt gehaltenen Gold¬
stücken herausgegeben und der Reichsbank überwiesen wurden.

Aber auch schon in Friedenszeiten haben sich die Geistlichen als Vorsitzende
oder im verborgenen arbeitende Mitglieder der Krieger-, Ostmarken-, Flotten-
und anderer nicht "kirchlicher" Vereine in den Dienst des Vaterlandes gestellt.

Will die Kirche zur Volkskirche werden, so muß auf dieser Linie erfolgreich
begonnener patriotischer Tätigkeit unentwegt weitergearbeitet, muß auf sozialem
wie volkswirtschaftlichen Gebiete vieles geschaffen werden, was nicht "kirchlich"


Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung

aller Kreise. Hier hat der Geistliche den Arbeiter, das Dienstmädchen wie den
Gebildeten zu seinen Zuhörern. Hier ist zugleich die größte Empfänglichkeit
und der Wille anzunehmen. Was der Pfarrer von der Kanzel sagt» wird
anders aufgenommen, als was geschrieben oder angeordnet wird. Eine geeignetere
Stelle zur ernsten aufklärenden Mahnung ist also nicht denkbar.

Oder wollte man einwenden: eine solche praktische Belehrung über wirt¬
schaftliche Dinge würde eine bedenkliche Annäherung an den flachen Rationalismus
der Aufklärungszeit bedeuten?

Das wäre falsch. Eine ethische Aufklärung zu unseres Vaterlandes Heil
würde im Gegenteil einer Vertiefung religiösen Lebens und Handelns gleich¬
kommen. Von jeher haben die Kraft und Größe des Christentums in der Ver¬
kündigung eines Glaubens bestanden, der tätig ist in der Liebe, haben sie sich in
der Hinwendung zu den täglichen Aufgaben und Bedürfnissen des täglichen
Lebens gezeigt. Aus ihnen erwuchsen die unvergleichlichen Reden und Gleich»
nisse, mit denen Christus so gewaltig an den Nerv des Volkslebens zu fassen
wußte. Was uns heute not tut, das ist ein praktisches Christentum, das nicht
immer „kirchlich" sein will, sich vielmehr auch außerhalb der kirchlichen Formen
fruchtbar an den rein Humanitären Arbeiten freier oder städtischer oder staat¬
licher Einrichtungen beteiligt. So allein bewährt es die Kraft des Sauerteiges,
der die Welt durchdringen soll.

Es ist sich bereits seiner vaterländischen Aufgaben bewußt geworden. Aus
Pfarrhäusern, von Presbvterien und Gemeindeverwaltungen sind zahlreich die
Liebesgaben und Feldpostpakete an unsere Krieger herausgegangen. In den
Lazaretten und anderen Einrichtungen des roten Kreuzes haben Geistliche, ihre
Frauen und Töchter hingebend gearbeitet. Die innere Mission, der evangelische
Bund und sonstige kirchliche Einrichtungen haben die Sonderaufgaben, derent¬
wegen sie ins Leben gerufen wurden, hintenangestellt, um lediglich vaterländische
Arbeit zu tun. Von der nationalen Bedeutung, die man der Kirche jetzt allgemein
zuerkennt, zeugt auch der häufig gemachte, hier und da bereits in die Tat
übergesetzte Vorschlag: man möchte die traurigen, mit der Aufschrift „tot" oder
„gefallen" zurückgesandten Briefe ebenso wie offizielle Todesbenachrichtigungen
an das zuständige Pfarramt schicken, damit der Geistliche hingehen und die
Angehörigen in der rechten Weise vorbereiten könne.

Von wie vielen Pfarrern haben die Zeitungen berichtet, daß durch ihre
Predigten und ihr Wirken Unsummen von ängstlich versteckt gehaltenen Gold¬
stücken herausgegeben und der Reichsbank überwiesen wurden.

Aber auch schon in Friedenszeiten haben sich die Geistlichen als Vorsitzende
oder im verborgenen arbeitende Mitglieder der Krieger-, Ostmarken-, Flotten-
und anderer nicht „kirchlicher" Vereine in den Dienst des Vaterlandes gestellt.

Will die Kirche zur Volkskirche werden, so muß auf dieser Linie erfolgreich
begonnener patriotischer Tätigkeit unentwegt weitergearbeitet, muß auf sozialem
wie volkswirtschaftlichen Gebiete vieles geschaffen werden, was nicht „kirchlich"


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/90>, abgerufen am 24.08.2024.