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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung

Häuser werden leer. Wir gehen, ein jeder auf seine Weise, den Gedanken des
Todes nach und vergraben uns in seine dunklen Geheimnisse. Die einen suchen
die Lösung wieder in der Philosophie, die anderen in der Arbeit, viele aber
treibt der Todesgedanke in die Kirche. Das ist von Anbeginn so ge¬
wesen.

Auch von den Tapferen da draußen hören und lesen wir immer aufs
neue, daß ihnen ein Gottesdienst oder eine Feldandacht viel der Kraft
und Aufrichtung gibt. Das Verlangen nach einer größeren Anzahl von Feld¬
geistlichen wächst.

Also das kirchliche Bedürfnis, das eine Reihe von Jahren geschwiegen
hatte oder latent geblieben war, ist mit Nachdruck erwacht. Das ist zweifellos.
In seinen erhebenden wie niederdrückenden Ereignissen ist der Krieg ein gewaltiges
8timulan8 für das kirchliche Leben geworden, und es kommt lediglich darauf
an, die säenden Kräfte fruchtbar zu machen.

Das gilt nun aber in allererster Reihe von der Predigt, der in dieser
ernsten Zeit eine besondere Bedeutung zukommt. Wir haben bereits gesehen:
sie war nicht immer von der Kraft getragen, die ihr notwendig war. Sie
erörterte dogmatische Fragen, die für unsere Zeit eigentlich keinen besonderen
Wert mehr besaßen. Da es eine große allgemeine Not nicht gab, so drehte
sie sich gar zu leicht um die einzelne kleine. Das raubte ihr den Zug ins
Große und lieh ihr einen gewissen sentimentalen Charakter, der nicht jedermanns
Sache war.

Darin ist jetzt Wandel geschaffen. Die Nöte unserer Zeit finden ihren
Widerhall in jeder Seele, das Einzelleid ist wesenslos geworden, es geht aus
in dem allgemeinen für das Vaterland. Jene Art überpersönlicher Predigt,
wie sie die lange, laue Friedenszeit gezüchtet, ist heute einfach unmöglich. Die
Christen stehen alle für einen, einer für alle. Die Persönlichkeit Jesu Christi,
der man auch bereits einen gewissen Zug ins Sentimentale gegeben, lebt jetzt
auf in ihrer ehernen Größe. Nicht nur die weichen Worte seiner Liebe, auch
jenes andere erwacht zum Leben: "Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen
sei, Frieden zu senden auf Erden. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden,
sondern das Schwert." Und mit der prophetischen Wahrheit seines Wortes
kommt seine große Tat unter den Ereignissen dieser Zeit zu ganz neuer
Bedeutung: die opfernde Hingabe seines Lebens für die Menschheit.

Und mit ihm erhebt sich neugeboren und neusporend eine andere Persönlich¬
keit: Martin Luther. In einer Zeit, in der wir für die heiligen Güter
deutscher Kultur und Freiheit bis auf den letzten Blutstropfen kämpfen, hat er
uns naturgemäß viel zu sagen; denn auch bei ihm und seinem Kampfe handelte
es sich um die höchsten Güter der Freiheit und Kultur. Aber wir kennen
Luther noch zu wenig. Gerade die Geistesgebildeten unseres Volkes sehen in
ihm zwar einen religiösen Genius, sind sich jedoch über den Umfang und die
universale Kraft seiner Schöpfung zu wenig klar. Als der eiserne Mann in


Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung

Häuser werden leer. Wir gehen, ein jeder auf seine Weise, den Gedanken des
Todes nach und vergraben uns in seine dunklen Geheimnisse. Die einen suchen
die Lösung wieder in der Philosophie, die anderen in der Arbeit, viele aber
treibt der Todesgedanke in die Kirche. Das ist von Anbeginn so ge¬
wesen.

Auch von den Tapferen da draußen hören und lesen wir immer aufs
neue, daß ihnen ein Gottesdienst oder eine Feldandacht viel der Kraft
und Aufrichtung gibt. Das Verlangen nach einer größeren Anzahl von Feld¬
geistlichen wächst.

Also das kirchliche Bedürfnis, das eine Reihe von Jahren geschwiegen
hatte oder latent geblieben war, ist mit Nachdruck erwacht. Das ist zweifellos.
In seinen erhebenden wie niederdrückenden Ereignissen ist der Krieg ein gewaltiges
8timulan8 für das kirchliche Leben geworden, und es kommt lediglich darauf
an, die säenden Kräfte fruchtbar zu machen.

Das gilt nun aber in allererster Reihe von der Predigt, der in dieser
ernsten Zeit eine besondere Bedeutung zukommt. Wir haben bereits gesehen:
sie war nicht immer von der Kraft getragen, die ihr notwendig war. Sie
erörterte dogmatische Fragen, die für unsere Zeit eigentlich keinen besonderen
Wert mehr besaßen. Da es eine große allgemeine Not nicht gab, so drehte
sie sich gar zu leicht um die einzelne kleine. Das raubte ihr den Zug ins
Große und lieh ihr einen gewissen sentimentalen Charakter, der nicht jedermanns
Sache war.

Darin ist jetzt Wandel geschaffen. Die Nöte unserer Zeit finden ihren
Widerhall in jeder Seele, das Einzelleid ist wesenslos geworden, es geht aus
in dem allgemeinen für das Vaterland. Jene Art überpersönlicher Predigt,
wie sie die lange, laue Friedenszeit gezüchtet, ist heute einfach unmöglich. Die
Christen stehen alle für einen, einer für alle. Die Persönlichkeit Jesu Christi,
der man auch bereits einen gewissen Zug ins Sentimentale gegeben, lebt jetzt
auf in ihrer ehernen Größe. Nicht nur die weichen Worte seiner Liebe, auch
jenes andere erwacht zum Leben: „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen
sei, Frieden zu senden auf Erden. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden,
sondern das Schwert." Und mit der prophetischen Wahrheit seines Wortes
kommt seine große Tat unter den Ereignissen dieser Zeit zu ganz neuer
Bedeutung: die opfernde Hingabe seines Lebens für die Menschheit.

Und mit ihm erhebt sich neugeboren und neusporend eine andere Persönlich¬
keit: Martin Luther. In einer Zeit, in der wir für die heiligen Güter
deutscher Kultur und Freiheit bis auf den letzten Blutstropfen kämpfen, hat er
uns naturgemäß viel zu sagen; denn auch bei ihm und seinem Kampfe handelte
es sich um die höchsten Güter der Freiheit und Kultur. Aber wir kennen
Luther noch zu wenig. Gerade die Geistesgebildeten unseres Volkes sehen in
ihm zwar einen religiösen Genius, sind sich jedoch über den Umfang und die
universale Kraft seiner Schöpfung zu wenig klar. Als der eiserne Mann in


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[0088] Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung Häuser werden leer. Wir gehen, ein jeder auf seine Weise, den Gedanken des Todes nach und vergraben uns in seine dunklen Geheimnisse. Die einen suchen die Lösung wieder in der Philosophie, die anderen in der Arbeit, viele aber treibt der Todesgedanke in die Kirche. Das ist von Anbeginn so ge¬ wesen. Auch von den Tapferen da draußen hören und lesen wir immer aufs neue, daß ihnen ein Gottesdienst oder eine Feldandacht viel der Kraft und Aufrichtung gibt. Das Verlangen nach einer größeren Anzahl von Feld¬ geistlichen wächst. Also das kirchliche Bedürfnis, das eine Reihe von Jahren geschwiegen hatte oder latent geblieben war, ist mit Nachdruck erwacht. Das ist zweifellos. In seinen erhebenden wie niederdrückenden Ereignissen ist der Krieg ein gewaltiges 8timulan8 für das kirchliche Leben geworden, und es kommt lediglich darauf an, die säenden Kräfte fruchtbar zu machen. Das gilt nun aber in allererster Reihe von der Predigt, der in dieser ernsten Zeit eine besondere Bedeutung zukommt. Wir haben bereits gesehen: sie war nicht immer von der Kraft getragen, die ihr notwendig war. Sie erörterte dogmatische Fragen, die für unsere Zeit eigentlich keinen besonderen Wert mehr besaßen. Da es eine große allgemeine Not nicht gab, so drehte sie sich gar zu leicht um die einzelne kleine. Das raubte ihr den Zug ins Große und lieh ihr einen gewissen sentimentalen Charakter, der nicht jedermanns Sache war. Darin ist jetzt Wandel geschaffen. Die Nöte unserer Zeit finden ihren Widerhall in jeder Seele, das Einzelleid ist wesenslos geworden, es geht aus in dem allgemeinen für das Vaterland. Jene Art überpersönlicher Predigt, wie sie die lange, laue Friedenszeit gezüchtet, ist heute einfach unmöglich. Die Christen stehen alle für einen, einer für alle. Die Persönlichkeit Jesu Christi, der man auch bereits einen gewissen Zug ins Sentimentale gegeben, lebt jetzt auf in ihrer ehernen Größe. Nicht nur die weichen Worte seiner Liebe, auch jenes andere erwacht zum Leben: „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen sei, Frieden zu senden auf Erden. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert." Und mit der prophetischen Wahrheit seines Wortes kommt seine große Tat unter den Ereignissen dieser Zeit zu ganz neuer Bedeutung: die opfernde Hingabe seines Lebens für die Menschheit. Und mit ihm erhebt sich neugeboren und neusporend eine andere Persönlich¬ keit: Martin Luther. In einer Zeit, in der wir für die heiligen Güter deutscher Kultur und Freiheit bis auf den letzten Blutstropfen kämpfen, hat er uns naturgemäß viel zu sagen; denn auch bei ihm und seinem Kampfe handelte es sich um die höchsten Güter der Freiheit und Kultur. Aber wir kennen Luther noch zu wenig. Gerade die Geistesgebildeten unseres Volkes sehen in ihm zwar einen religiösen Genius, sind sich jedoch über den Umfang und die universale Kraft seiner Schöpfung zu wenig klar. Als der eiserne Mann in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/88>, abgerufen am 22.07.2024.