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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung

ihrer religiösen Anschauungen behandeln, sie beschäftigte sich mit dem Plane
einer Neugestaltung der Agende und bemühte sich, weniger abgestandene Doktor¬
fragen in ihren Synoden zu behandeln.

Gewiß, das alles blieb nicht ohne Wirkung und Frucht. Aber die Volks¬
kirche schuf es nicht. Das Volk als solches stand der Kirche zu einem sehr
großen Teile immer noch abwartend, ja ablehnend gegenüber, die matte
Gleichgültigkeit war nicht gehoben.

Da kam ein Reformator. Der faßte zu mit starker Hand, der schuf aus
Wundern sein großes Werk. Schneller, als es irgendwer geahnt, ließ er das
kirchliche Leben, das an vielen Wunden blutete, genesen. Was vielen machtlos
erschien, schuf er zur Macht, was sie alt und entkräftet wähnten, machte er zur
Jugend und zur Kraft. Aus dem Zwiespältigen schmiedete er das Geeinte,
aus den Parteiungen das Ganze. Dieser Reformator hieß der Krieg.

Vom ersten Mobilmachungstage an schien eine neue Zeit für die Kirche
gekommen. Sie bildete in Gottesdiensten und Abendmahlsfeiern den Sammel¬
punkt aller Kreise des deutschen Volkes. Die in langer, lauer Friedenszeit
manchen schon als überflüssig anmutende Kirche war zu einem Felsen in der
Brandung rings umher geworden. Sie hatte volkstümliche und nationale
Bedeutung gewonnen, war aus ihrer mehr separistischen Stellung erhoben und
zu einem Allgemeingut des Volkes geworden. Eine scale8la lnilitan8, aber
nicht mehr in dem Sinne, daß sie gegen die Widerstände der Welt kämpft,
sondern daß sie an den ernsten Aufgaben des Vaterlands mit kämpfen, mit ihm
eins sich fühlen konnte. Das so viele Jahre hindurch mit heißer Sehnsucht
erstrebte Ziel war Wirklichkeit geworden: die Kirche nicht mehr einzelner
Gläubigen und Frommen im Lande, sondern die Kirche des Volkes.

Ein wesentlicher Umstand erleichterte dies neue Werden: unter den
gewaltigen Eindrücken der Ereignisse fiel der so lange herrschende Hader der
Konfessionen und der kleinliche Kampf der Parteien und Richtungen, der wie
im ganzen Vaterlande, so leider auch in der Kirche seine unheilvolle Rolle
gespielt, in sich zusammen. In einer Zeit, in der der Protestant wie der
Katholik in einer Front für eine Sache Leib und Leben gaben, reichten sich die
getrennten Konfessionen über des Vaterlandes heiliger Not die Hand, das ausge¬
sprochene Schutz- und Trutzlied der evangelischen Kirche, das sonst bei protestantischen
Versammlungen und an protestantischen Festtagen gesungen wurde: "Eine feste
Burg ist unser Gott" wurde christliches Nationallied, das da draußen wie
daheim als Kampf- und Siegesgesang neben der "Wacht am Rhein" und
"Deutschland. Deutschland über alles" vor dem Kaiserschloß in Berlin, bei dem
Falle Antwerpens und in den Schützengräben erklang. Nur das Einigende
herrschte; das Christlich-Deutsche.

Das zeigte sich am stärksten auf dem Felde der Caritas und materiellen
Hilfeleistung. Wer hieß evangelisch, wer katholisch, wenn es darauf ankam,
einem bedrängten Vaterlande, notleidenden Brüdern oder Schwestern zu helfen?


Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung

ihrer religiösen Anschauungen behandeln, sie beschäftigte sich mit dem Plane
einer Neugestaltung der Agende und bemühte sich, weniger abgestandene Doktor¬
fragen in ihren Synoden zu behandeln.

Gewiß, das alles blieb nicht ohne Wirkung und Frucht. Aber die Volks¬
kirche schuf es nicht. Das Volk als solches stand der Kirche zu einem sehr
großen Teile immer noch abwartend, ja ablehnend gegenüber, die matte
Gleichgültigkeit war nicht gehoben.

Da kam ein Reformator. Der faßte zu mit starker Hand, der schuf aus
Wundern sein großes Werk. Schneller, als es irgendwer geahnt, ließ er das
kirchliche Leben, das an vielen Wunden blutete, genesen. Was vielen machtlos
erschien, schuf er zur Macht, was sie alt und entkräftet wähnten, machte er zur
Jugend und zur Kraft. Aus dem Zwiespältigen schmiedete er das Geeinte,
aus den Parteiungen das Ganze. Dieser Reformator hieß der Krieg.

Vom ersten Mobilmachungstage an schien eine neue Zeit für die Kirche
gekommen. Sie bildete in Gottesdiensten und Abendmahlsfeiern den Sammel¬
punkt aller Kreise des deutschen Volkes. Die in langer, lauer Friedenszeit
manchen schon als überflüssig anmutende Kirche war zu einem Felsen in der
Brandung rings umher geworden. Sie hatte volkstümliche und nationale
Bedeutung gewonnen, war aus ihrer mehr separistischen Stellung erhoben und
zu einem Allgemeingut des Volkes geworden. Eine scale8la lnilitan8, aber
nicht mehr in dem Sinne, daß sie gegen die Widerstände der Welt kämpft,
sondern daß sie an den ernsten Aufgaben des Vaterlands mit kämpfen, mit ihm
eins sich fühlen konnte. Das so viele Jahre hindurch mit heißer Sehnsucht
erstrebte Ziel war Wirklichkeit geworden: die Kirche nicht mehr einzelner
Gläubigen und Frommen im Lande, sondern die Kirche des Volkes.

Ein wesentlicher Umstand erleichterte dies neue Werden: unter den
gewaltigen Eindrücken der Ereignisse fiel der so lange herrschende Hader der
Konfessionen und der kleinliche Kampf der Parteien und Richtungen, der wie
im ganzen Vaterlande, so leider auch in der Kirche seine unheilvolle Rolle
gespielt, in sich zusammen. In einer Zeit, in der der Protestant wie der
Katholik in einer Front für eine Sache Leib und Leben gaben, reichten sich die
getrennten Konfessionen über des Vaterlandes heiliger Not die Hand, das ausge¬
sprochene Schutz- und Trutzlied der evangelischen Kirche, das sonst bei protestantischen
Versammlungen und an protestantischen Festtagen gesungen wurde: „Eine feste
Burg ist unser Gott" wurde christliches Nationallied, das da draußen wie
daheim als Kampf- und Siegesgesang neben der „Wacht am Rhein" und
„Deutschland. Deutschland über alles" vor dem Kaiserschloß in Berlin, bei dem
Falle Antwerpens und in den Schützengräben erklang. Nur das Einigende
herrschte; das Christlich-Deutsche.

Das zeigte sich am stärksten auf dem Felde der Caritas und materiellen
Hilfeleistung. Wer hieß evangelisch, wer katholisch, wenn es darauf ankam,
einem bedrängten Vaterlande, notleidenden Brüdern oder Schwestern zu helfen?


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[0086] Die Volkskirche und ihre vaterländische Sendung ihrer religiösen Anschauungen behandeln, sie beschäftigte sich mit dem Plane einer Neugestaltung der Agende und bemühte sich, weniger abgestandene Doktor¬ fragen in ihren Synoden zu behandeln. Gewiß, das alles blieb nicht ohne Wirkung und Frucht. Aber die Volks¬ kirche schuf es nicht. Das Volk als solches stand der Kirche zu einem sehr großen Teile immer noch abwartend, ja ablehnend gegenüber, die matte Gleichgültigkeit war nicht gehoben. Da kam ein Reformator. Der faßte zu mit starker Hand, der schuf aus Wundern sein großes Werk. Schneller, als es irgendwer geahnt, ließ er das kirchliche Leben, das an vielen Wunden blutete, genesen. Was vielen machtlos erschien, schuf er zur Macht, was sie alt und entkräftet wähnten, machte er zur Jugend und zur Kraft. Aus dem Zwiespältigen schmiedete er das Geeinte, aus den Parteiungen das Ganze. Dieser Reformator hieß der Krieg. Vom ersten Mobilmachungstage an schien eine neue Zeit für die Kirche gekommen. Sie bildete in Gottesdiensten und Abendmahlsfeiern den Sammel¬ punkt aller Kreise des deutschen Volkes. Die in langer, lauer Friedenszeit manchen schon als überflüssig anmutende Kirche war zu einem Felsen in der Brandung rings umher geworden. Sie hatte volkstümliche und nationale Bedeutung gewonnen, war aus ihrer mehr separistischen Stellung erhoben und zu einem Allgemeingut des Volkes geworden. Eine scale8la lnilitan8, aber nicht mehr in dem Sinne, daß sie gegen die Widerstände der Welt kämpft, sondern daß sie an den ernsten Aufgaben des Vaterlands mit kämpfen, mit ihm eins sich fühlen konnte. Das so viele Jahre hindurch mit heißer Sehnsucht erstrebte Ziel war Wirklichkeit geworden: die Kirche nicht mehr einzelner Gläubigen und Frommen im Lande, sondern die Kirche des Volkes. Ein wesentlicher Umstand erleichterte dies neue Werden: unter den gewaltigen Eindrücken der Ereignisse fiel der so lange herrschende Hader der Konfessionen und der kleinliche Kampf der Parteien und Richtungen, der wie im ganzen Vaterlande, so leider auch in der Kirche seine unheilvolle Rolle gespielt, in sich zusammen. In einer Zeit, in der der Protestant wie der Katholik in einer Front für eine Sache Leib und Leben gaben, reichten sich die getrennten Konfessionen über des Vaterlandes heiliger Not die Hand, das ausge¬ sprochene Schutz- und Trutzlied der evangelischen Kirche, das sonst bei protestantischen Versammlungen und an protestantischen Festtagen gesungen wurde: „Eine feste Burg ist unser Gott" wurde christliches Nationallied, das da draußen wie daheim als Kampf- und Siegesgesang neben der „Wacht am Rhein" und „Deutschland. Deutschland über alles" vor dem Kaiserschloß in Berlin, bei dem Falle Antwerpens und in den Schützengräben erklang. Nur das Einigende herrschte; das Christlich-Deutsche. Das zeigte sich am stärksten auf dem Felde der Caritas und materiellen Hilfeleistung. Wer hieß evangelisch, wer katholisch, wenn es darauf ankam, einem bedrängten Vaterlande, notleidenden Brüdern oder Schwestern zu helfen?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/86>, abgerufen am 24.08.2024.