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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Italien5 Politik auf dem Balkan und in der Levante

hat eine gewisse Interessengemeinschaft der über Länder des Islams gebietenden
Staaten geschaffen. Von Anfang an wurde auch in der italienischen Kriegspresse
der Gedanke vertreten, Italien müsse sich aus dem wahrscheinlichen Zusammen¬
bruch der Türkei die Beute retten. Solange aber dieser Augenblick nicht
offenkundig gekommen ist, wird Italien, allein aus diesem Grunde, wohl kaum
den Anstoß zu einer Umwälzung geben, die die Besitzverhältnisse im Mittelmeer
in nicht absehbarer Weise ändern müßte. Nach dem englisch-rusfischen Teilungs¬
plan scheint für Italien ein Gebiet in Kleinasien bestimmt zu sein. Dieser
Erwerb würde aber nicht im Verhältnis stehen zu dem Anteil an der wirtschaft¬
lichen und kulturellen Erschließung des Orients, den Italien zu gewinnen im
Begriff stand. Wird Konstantinopel und Kleinasien russisch, die Ägäis ein
griechischer See, 'gerät Syrien und Palästina in französische und englische Hände,
dann steht Italien, mag es auch seinen Anteil erhalten, im Osten vor der
gleichen "Begrenzung" wie im Westen. Der konzentrische Druck, den heute
schon die europäischen Völker auf das Mittelmeer ausüben, wird erheblich
gesteigert werden, und Italien mag dann erfahren, was es heißt, ein "Reich
der Mitte" zu sein, das nach keiner Seite freie Hand hat. Sein bisheriges
Verhalten weist es, solange die Türkei standhält, auf eine Politik der offenen
Tür. die es vermutlich ebenso der Tripleentente wie den Zentralmächten
gegenüber zur Geltung bringen würde. Den vollen Sieg wird Italien keinem
der beiden kämpfenden Parteien wünschen; an ihm mag klar werden, was ein
scharf denkender Schriftsteller (Ruedorffer) kurz vor Kriegsausbruch prophezeite:
daß von einem modernen Kriege nicht die Sieger, sondern die Zuschauer den
größten Gewinn haben würden.




Italien5 Politik auf dem Balkan und in der Levante

hat eine gewisse Interessengemeinschaft der über Länder des Islams gebietenden
Staaten geschaffen. Von Anfang an wurde auch in der italienischen Kriegspresse
der Gedanke vertreten, Italien müsse sich aus dem wahrscheinlichen Zusammen¬
bruch der Türkei die Beute retten. Solange aber dieser Augenblick nicht
offenkundig gekommen ist, wird Italien, allein aus diesem Grunde, wohl kaum
den Anstoß zu einer Umwälzung geben, die die Besitzverhältnisse im Mittelmeer
in nicht absehbarer Weise ändern müßte. Nach dem englisch-rusfischen Teilungs¬
plan scheint für Italien ein Gebiet in Kleinasien bestimmt zu sein. Dieser
Erwerb würde aber nicht im Verhältnis stehen zu dem Anteil an der wirtschaft¬
lichen und kulturellen Erschließung des Orients, den Italien zu gewinnen im
Begriff stand. Wird Konstantinopel und Kleinasien russisch, die Ägäis ein
griechischer See, 'gerät Syrien und Palästina in französische und englische Hände,
dann steht Italien, mag es auch seinen Anteil erhalten, im Osten vor der
gleichen „Begrenzung" wie im Westen. Der konzentrische Druck, den heute
schon die europäischen Völker auf das Mittelmeer ausüben, wird erheblich
gesteigert werden, und Italien mag dann erfahren, was es heißt, ein „Reich
der Mitte" zu sein, das nach keiner Seite freie Hand hat. Sein bisheriges
Verhalten weist es, solange die Türkei standhält, auf eine Politik der offenen
Tür. die es vermutlich ebenso der Tripleentente wie den Zentralmächten
gegenüber zur Geltung bringen würde. Den vollen Sieg wird Italien keinem
der beiden kämpfenden Parteien wünschen; an ihm mag klar werden, was ein
scharf denkender Schriftsteller (Ruedorffer) kurz vor Kriegsausbruch prophezeite:
daß von einem modernen Kriege nicht die Sieger, sondern die Zuschauer den
größten Gewinn haben würden.




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[0082] Italien5 Politik auf dem Balkan und in der Levante hat eine gewisse Interessengemeinschaft der über Länder des Islams gebietenden Staaten geschaffen. Von Anfang an wurde auch in der italienischen Kriegspresse der Gedanke vertreten, Italien müsse sich aus dem wahrscheinlichen Zusammen¬ bruch der Türkei die Beute retten. Solange aber dieser Augenblick nicht offenkundig gekommen ist, wird Italien, allein aus diesem Grunde, wohl kaum den Anstoß zu einer Umwälzung geben, die die Besitzverhältnisse im Mittelmeer in nicht absehbarer Weise ändern müßte. Nach dem englisch-rusfischen Teilungs¬ plan scheint für Italien ein Gebiet in Kleinasien bestimmt zu sein. Dieser Erwerb würde aber nicht im Verhältnis stehen zu dem Anteil an der wirtschaft¬ lichen und kulturellen Erschließung des Orients, den Italien zu gewinnen im Begriff stand. Wird Konstantinopel und Kleinasien russisch, die Ägäis ein griechischer See, 'gerät Syrien und Palästina in französische und englische Hände, dann steht Italien, mag es auch seinen Anteil erhalten, im Osten vor der gleichen „Begrenzung" wie im Westen. Der konzentrische Druck, den heute schon die europäischen Völker auf das Mittelmeer ausüben, wird erheblich gesteigert werden, und Italien mag dann erfahren, was es heißt, ein „Reich der Mitte" zu sein, das nach keiner Seite freie Hand hat. Sein bisheriges Verhalten weist es, solange die Türkei standhält, auf eine Politik der offenen Tür. die es vermutlich ebenso der Tripleentente wie den Zentralmächten gegenüber zur Geltung bringen würde. Den vollen Sieg wird Italien keinem der beiden kämpfenden Parteien wünschen; an ihm mag klar werden, was ein scharf denkender Schriftsteller (Ruedorffer) kurz vor Kriegsausbruch prophezeite: daß von einem modernen Kriege nicht die Sieger, sondern die Zuschauer den größten Gewinn haben würden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/82>, abgerufen am 22.07.2024.