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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmafzgebliche-

[Beginn Spaltensatz]

Völkern endlich gelang, sich von dem uner¬
träglichen Joch zu befreien. Aber was auch
das Leben dieser Frau an Schicksalen ge¬
bracht hat, sie hat sie mutig ertragen und
immer das Dasein geliebt. Selbst als ihr
Ruhm schon zu ihren Lebzeiten verblich, ist
sie nicht bitter geworden, sondern hat sich im
Familienkreise der Tochter, bei den heran¬
wachsenden Enkeln soviel Sonne geholt, wie
sie für ihren Lebensabend bedürfte. Als die
Dichterin 1843 die müden Augen für immer
schloß, da folgten nur wenig Getreue ihrem
Sarg. Wie man auch über den literarischen
Wert ihrer Bücher urteilen mag --sie hinterließ
dreiundfünfzig umfangreiche Bände --, ihre
Denkwürdigkeiten werden immer das Interesse
der Nachwelt haben, denn sie hat es verstanden,
Mit starker Hand eine versunkene Epoche
wieder aufleben zu lassen.

Fast aus derselben Zeit stammen die Auf¬
zeichnungen der Gräfin Lulu Thürheim "Mein
Leben. Erinnerungen aus Österreichs großer
Welt" (herausgegeben von Reus van Rhyn),
und doch sind sie etwas völlig anderes. Diese
Frau, die durch ihre Geburt, ihre Beziehungen
und die Anmut ihres Auftretens, Zutritt zu
den höchsten Kreisen hatte, dazu einen unge¬
wöhnlichen Geist besaß, war wie keine andere
in der Lage, uns in ihrem Tagebuch die
Ereignisse des zu Ende gehenden achtzehnten
und der ersten Hälfte des neunzehnten Jahr¬
hunderts zu schildern. Und sie tut es in so
fesselnder, ja oft witziger Weise, daß man die
vier stattlichen Bände von Anfang bis zu
Ende mit nie erlahmendem Interesse liest.
Die Verfasserin, die kurz vor der großen
französischen Revolution geboren wurde, hat
während ihres ganzen Lebens mit einem
Widrigen Schicksal zu ringen gehabt. Bunt
und wechselnd läßt sie die Bilder ihrer Er¬
lebnisse in ihrem Tagebuch an uns vorüber¬
ziehen; die schweren Jahre 1805,1809,1813,
der fröhliche Kongreß, alles ist in leichtem
Plauderton und doch mit historischer Wahrheit
erzählt. Da sie außerdem vorzüglich zeichnete,
ergänzte sie ihr Tagebuch durch zahlreiche
Skizzen. Gräfin Lulu war eine große Dame
im besten Sinne des Wortes, und nie hat das
hohle Gesellschaftstreiben sie selbst verflachen
lassen. Seit dem Jahre 1819 im Hause ihres

[Spaltenumbruch]

Schwagers Rasumoffsky, des russischen Ge*
sandten, lebend, "der in Wien am meisten
Ä la nocte war", dessen Auftreten und fabel¬
hafter Reichtum bewundert und bespöttelt
wurde, hat sie mit diesem und der Schwester
große Reisen durch alle europäischen Länder
gemacht und so ihren Gesichtskreis erweitert.
Lulu von Thürheim hat eigentlich alles besessen,
was ein Sterblicher sich wünschen kann: Glanz,
Reichtum, Schönheit und Geist, und war
doch nicht glücklich, weil ihr das Beste, die
Liebe, fehlte. Erst an der Schwelle des
Alters vermählte sie sich in heimlicher Ehe
mit dem Sekretär ihres Schwagers, einem
jungen Abenteurer, der ihr schon nach sechs
Monaten durch einen tragischen Tod entrissen
wurde. Aber die persönlichen Verhältnisse
sind nicht das Wichtigste in dem fesselnden
Buche. Alles, was einen Namen hatte, ist
erwähnt und oft nur mit wenigen Worten
treffend charakterisiert. Es ist ein Ausschnitt
aus Altwiens trüben und heiteren Tagen,
so warm und lebendig, wie ihn trockene
Geschichte niemals geben kann.

Der Wiener Kongreß I Er wird sowohl
von Caroline Pichler als auch von Lulu
Thürheim ausführlich erwähnt, aber der Fran¬
zose de la Garde schrieb über diese Flut von
Festen und Vergnügungen zwei dicke Bände
("Gemälde des Wiener Kongresses"), und
wenn auch sein Bericht dem strengen Historiker
keine reine Quelle bietet, aus der er unbesorgt
schöpfen kann, so ist derselbe doch das er¬
schöpfendste Werk, was es über diese einzige
Veranstaltung gibt, die die "Könige in Ferien"
sich bereiteten. Welch eine federnde geistige
und körperliche Beweglichkeit müssen die
Menschen jener Tage besessen haben, daß sie
sich nach dem furchtbaren Ringen der Freiheits¬
kriege, denen Jahre der entsetzlichsten Knecht¬
schaft vorangegangen waren, in einen solchen
Strudel des Vergnügens und der Lebens¬
freude stürzen konnten! Der Franzose de
la Garde versteht es, gerade diese Seite
besonders in die Erscheinung treten zu lassen,
und bunt und wechselnd ziehen die Geschehnisse,
wie die Bilder eines Kaleidoskops, an dem
trunkenen Auge vorüber.

Und nun zum Schluß noch ein vergessenes
Buch von einem noch vergessenerenAltösterreicher.

[Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmafzgebliche-

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Völkern endlich gelang, sich von dem uner¬
träglichen Joch zu befreien. Aber was auch
das Leben dieser Frau an Schicksalen ge¬
bracht hat, sie hat sie mutig ertragen und
immer das Dasein geliebt. Selbst als ihr
Ruhm schon zu ihren Lebzeiten verblich, ist
sie nicht bitter geworden, sondern hat sich im
Familienkreise der Tochter, bei den heran¬
wachsenden Enkeln soviel Sonne geholt, wie
sie für ihren Lebensabend bedürfte. Als die
Dichterin 1843 die müden Augen für immer
schloß, da folgten nur wenig Getreue ihrem
Sarg. Wie man auch über den literarischen
Wert ihrer Bücher urteilen mag —sie hinterließ
dreiundfünfzig umfangreiche Bände —, ihre
Denkwürdigkeiten werden immer das Interesse
der Nachwelt haben, denn sie hat es verstanden,
Mit starker Hand eine versunkene Epoche
wieder aufleben zu lassen.

Fast aus derselben Zeit stammen die Auf¬
zeichnungen der Gräfin Lulu Thürheim „Mein
Leben. Erinnerungen aus Österreichs großer
Welt" (herausgegeben von Reus van Rhyn),
und doch sind sie etwas völlig anderes. Diese
Frau, die durch ihre Geburt, ihre Beziehungen
und die Anmut ihres Auftretens, Zutritt zu
den höchsten Kreisen hatte, dazu einen unge¬
wöhnlichen Geist besaß, war wie keine andere
in der Lage, uns in ihrem Tagebuch die
Ereignisse des zu Ende gehenden achtzehnten
und der ersten Hälfte des neunzehnten Jahr¬
hunderts zu schildern. Und sie tut es in so
fesselnder, ja oft witziger Weise, daß man die
vier stattlichen Bände von Anfang bis zu
Ende mit nie erlahmendem Interesse liest.
Die Verfasserin, die kurz vor der großen
französischen Revolution geboren wurde, hat
während ihres ganzen Lebens mit einem
Widrigen Schicksal zu ringen gehabt. Bunt
und wechselnd läßt sie die Bilder ihrer Er¬
lebnisse in ihrem Tagebuch an uns vorüber¬
ziehen; die schweren Jahre 1805,1809,1813,
der fröhliche Kongreß, alles ist in leichtem
Plauderton und doch mit historischer Wahrheit
erzählt. Da sie außerdem vorzüglich zeichnete,
ergänzte sie ihr Tagebuch durch zahlreiche
Skizzen. Gräfin Lulu war eine große Dame
im besten Sinne des Wortes, und nie hat das
hohle Gesellschaftstreiben sie selbst verflachen
lassen. Seit dem Jahre 1819 im Hause ihres

[Spaltenumbruch]

Schwagers Rasumoffsky, des russischen Ge*
sandten, lebend, „der in Wien am meisten
Ä la nocte war", dessen Auftreten und fabel¬
hafter Reichtum bewundert und bespöttelt
wurde, hat sie mit diesem und der Schwester
große Reisen durch alle europäischen Länder
gemacht und so ihren Gesichtskreis erweitert.
Lulu von Thürheim hat eigentlich alles besessen,
was ein Sterblicher sich wünschen kann: Glanz,
Reichtum, Schönheit und Geist, und war
doch nicht glücklich, weil ihr das Beste, die
Liebe, fehlte. Erst an der Schwelle des
Alters vermählte sie sich in heimlicher Ehe
mit dem Sekretär ihres Schwagers, einem
jungen Abenteurer, der ihr schon nach sechs
Monaten durch einen tragischen Tod entrissen
wurde. Aber die persönlichen Verhältnisse
sind nicht das Wichtigste in dem fesselnden
Buche. Alles, was einen Namen hatte, ist
erwähnt und oft nur mit wenigen Worten
treffend charakterisiert. Es ist ein Ausschnitt
aus Altwiens trüben und heiteren Tagen,
so warm und lebendig, wie ihn trockene
Geschichte niemals geben kann.

Der Wiener Kongreß I Er wird sowohl
von Caroline Pichler als auch von Lulu
Thürheim ausführlich erwähnt, aber der Fran¬
zose de la Garde schrieb über diese Flut von
Festen und Vergnügungen zwei dicke Bände
(„Gemälde des Wiener Kongresses"), und
wenn auch sein Bericht dem strengen Historiker
keine reine Quelle bietet, aus der er unbesorgt
schöpfen kann, so ist derselbe doch das er¬
schöpfendste Werk, was es über diese einzige
Veranstaltung gibt, die die „Könige in Ferien"
sich bereiteten. Welch eine federnde geistige
und körperliche Beweglichkeit müssen die
Menschen jener Tage besessen haben, daß sie
sich nach dem furchtbaren Ringen der Freiheits¬
kriege, denen Jahre der entsetzlichsten Knecht¬
schaft vorangegangen waren, in einen solchen
Strudel des Vergnügens und der Lebens¬
freude stürzen konnten! Der Franzose de
la Garde versteht es, gerade diese Seite
besonders in die Erscheinung treten zu lassen,
und bunt und wechselnd ziehen die Geschehnisse,
wie die Bilder eines Kaleidoskops, an dem
trunkenen Auge vorüber.

Und nun zum Schluß noch ein vergessenes
Buch von einem noch vergessenerenAltösterreicher.

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[0073] Maßgebliches und Unmafzgebliche- Völkern endlich gelang, sich von dem uner¬ träglichen Joch zu befreien. Aber was auch das Leben dieser Frau an Schicksalen ge¬ bracht hat, sie hat sie mutig ertragen und immer das Dasein geliebt. Selbst als ihr Ruhm schon zu ihren Lebzeiten verblich, ist sie nicht bitter geworden, sondern hat sich im Familienkreise der Tochter, bei den heran¬ wachsenden Enkeln soviel Sonne geholt, wie sie für ihren Lebensabend bedürfte. Als die Dichterin 1843 die müden Augen für immer schloß, da folgten nur wenig Getreue ihrem Sarg. Wie man auch über den literarischen Wert ihrer Bücher urteilen mag —sie hinterließ dreiundfünfzig umfangreiche Bände —, ihre Denkwürdigkeiten werden immer das Interesse der Nachwelt haben, denn sie hat es verstanden, Mit starker Hand eine versunkene Epoche wieder aufleben zu lassen. Fast aus derselben Zeit stammen die Auf¬ zeichnungen der Gräfin Lulu Thürheim „Mein Leben. Erinnerungen aus Österreichs großer Welt" (herausgegeben von Reus van Rhyn), und doch sind sie etwas völlig anderes. Diese Frau, die durch ihre Geburt, ihre Beziehungen und die Anmut ihres Auftretens, Zutritt zu den höchsten Kreisen hatte, dazu einen unge¬ wöhnlichen Geist besaß, war wie keine andere in der Lage, uns in ihrem Tagebuch die Ereignisse des zu Ende gehenden achtzehnten und der ersten Hälfte des neunzehnten Jahr¬ hunderts zu schildern. Und sie tut es in so fesselnder, ja oft witziger Weise, daß man die vier stattlichen Bände von Anfang bis zu Ende mit nie erlahmendem Interesse liest. Die Verfasserin, die kurz vor der großen französischen Revolution geboren wurde, hat während ihres ganzen Lebens mit einem Widrigen Schicksal zu ringen gehabt. Bunt und wechselnd läßt sie die Bilder ihrer Er¬ lebnisse in ihrem Tagebuch an uns vorüber¬ ziehen; die schweren Jahre 1805,1809,1813, der fröhliche Kongreß, alles ist in leichtem Plauderton und doch mit historischer Wahrheit erzählt. Da sie außerdem vorzüglich zeichnete, ergänzte sie ihr Tagebuch durch zahlreiche Skizzen. Gräfin Lulu war eine große Dame im besten Sinne des Wortes, und nie hat das hohle Gesellschaftstreiben sie selbst verflachen lassen. Seit dem Jahre 1819 im Hause ihres Schwagers Rasumoffsky, des russischen Ge* sandten, lebend, „der in Wien am meisten Ä la nocte war", dessen Auftreten und fabel¬ hafter Reichtum bewundert und bespöttelt wurde, hat sie mit diesem und der Schwester große Reisen durch alle europäischen Länder gemacht und so ihren Gesichtskreis erweitert. Lulu von Thürheim hat eigentlich alles besessen, was ein Sterblicher sich wünschen kann: Glanz, Reichtum, Schönheit und Geist, und war doch nicht glücklich, weil ihr das Beste, die Liebe, fehlte. Erst an der Schwelle des Alters vermählte sie sich in heimlicher Ehe mit dem Sekretär ihres Schwagers, einem jungen Abenteurer, der ihr schon nach sechs Monaten durch einen tragischen Tod entrissen wurde. Aber die persönlichen Verhältnisse sind nicht das Wichtigste in dem fesselnden Buche. Alles, was einen Namen hatte, ist erwähnt und oft nur mit wenigen Worten treffend charakterisiert. Es ist ein Ausschnitt aus Altwiens trüben und heiteren Tagen, so warm und lebendig, wie ihn trockene Geschichte niemals geben kann. Der Wiener Kongreß I Er wird sowohl von Caroline Pichler als auch von Lulu Thürheim ausführlich erwähnt, aber der Fran¬ zose de la Garde schrieb über diese Flut von Festen und Vergnügungen zwei dicke Bände („Gemälde des Wiener Kongresses"), und wenn auch sein Bericht dem strengen Historiker keine reine Quelle bietet, aus der er unbesorgt schöpfen kann, so ist derselbe doch das er¬ schöpfendste Werk, was es über diese einzige Veranstaltung gibt, die die „Könige in Ferien" sich bereiteten. Welch eine federnde geistige und körperliche Beweglichkeit müssen die Menschen jener Tage besessen haben, daß sie sich nach dem furchtbaren Ringen der Freiheits¬ kriege, denen Jahre der entsetzlichsten Knecht¬ schaft vorangegangen waren, in einen solchen Strudel des Vergnügens und der Lebens¬ freude stürzen konnten! Der Franzose de la Garde versteht es, gerade diese Seite besonders in die Erscheinung treten zu lassen, und bunt und wechselnd ziehen die Geschehnisse, wie die Bilder eines Kaleidoskops, an dem trunkenen Auge vorüber. Und nun zum Schluß noch ein vergessenes Buch von einem noch vergessenerenAltösterreicher.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/73>, abgerufen am 22.07.2024.