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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Gstpreußenhilfe

dieser Hinsicht abschreckend. Erhebliche Geldmittel wurden aufgewendet und
die Förderung der Regierung fehlte nicht, aber die einzelnen Unternehmungen
brachen rasch zusammen, als die Hochkonjunktur von einer wirtschaftlichen Ebbe
abgelöst wurde. Ostpreußen kann nicht "industrialisiert" werden und wird sich
stets auf seine bescheidene Holzverarbeitung beschränken müssen. Auch dem Gro߬
handel sind enge Grenzen gezogen. Ungünstige Handelsverträge schließen das
russische Hinterland ab, dessen Absatz künstlich nach Libau geleitet worden ist,
das man unter großen Kosten zu einem auch im Winter brauchbaren Hafen
ausgebaut hat. Königsberg besitzt dank den hohen Schutzzöllen und dem System
der Ausfuhrscheine einen zwar spekulativen, aber gewinnbringenden Getreide¬
handel, jedoch ist auch dieser Erwerbszweig von untergeordneter Bedeutung für
den Gesamtwohlstand Ostpreußens. Die Provinz trägt einen ausgesprochenen
ländlichen Charakter. Abgesehen von Königsberg besitzt sie keine größere Stadt,
nur noch eine von etwa 40000 und zwei von knapp 30000 Einwohnern, aber
schon diese sind gleich den zahlreichen kleineren Ortschaften reine Landstädte.
Die Bewohner sind Ackerbürger oder Kleingewerbetreibende, die von der Land¬
wirtschaft völlig abhängig sind. Diese selbst hat in den letzten zehn Jahren
gute Fortschritte gemacht; die Pferdezucht ist mit Umsicht gepflegt und der
sonstige Viehstand vermehrt und verbessert worden. Trotzdem nimmt die
Bevölkerung dauernd ab, die in den unteren Klassen durch höhere Löhne, in
den oberen durch größeres Behagen und geringere Kommunalsteuern nach dem
Westen gezogen wird. Auch der Umstand, daß die Landwirtschaft in steigendem
Maße menschliche Arbeit durch Maschinen zu ersetzen sucht, trägt zur Abwanderung
bei. Der Boden selbst ist in den meisten Gegenden vorzüglich, aber der Sommer
ist kurz und die Arbeit drängt sich auf wenige Monate zusammen, so daß der
größere Besitzer eine übermäßige Zahl von Leuten halten muß, die den längeren
Teil des Jahres ohne Beschäftigung find. Dieser Umstand, sowie die Ab¬
wanderung der landesbürtigen Bevölkerung drängt dazu, sich mit Saisonarbeitern
zu behelfen, die nach eingebrachter Ernte abgeschoben werden können. Der
Kleinbesitz, der ohne fremde Kräfte auskommt, wird durch diese Schwierigkeiten
weniger betroffen; es entspricht daher nur den natürlichen Bedingungen der
Provinz, daß er bei der bevorstehenden Neuentwicklung möglichst gestärkt, der
Großgrundbesitz dagegen zurückgedrängt wird, obgleich er in Ostpreußen bei
weitem nicht so vorhersehe wie in Pommern, Mecklenburg oder einzelnen Teilen
Schlesiens.

Der Russeneinfall hat unsäglichen Schaden angerichtet, er bietet aber auch
Gelegenheit, Reformen von Grund auf durchzuführen, besonders manche durch
eine verkehrte Agrargesetzgebung künstlich erzeugte Übelstände zu beseitigen.
Aus eigener Kraft würde Ostpreußen das nicht vermögen, aber hinter der
verheerten Provinz steht der preußische Staat, ja das gesamte Deutsche Reich,
dessen Opferwilligkeit in der "Ostpreutzenhilfe" zusammengefaßt werden soll.
Der Plan ihrer Organisation ist aus den Tageszeitungen bekannt. In allen


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dieser Hinsicht abschreckend. Erhebliche Geldmittel wurden aufgewendet und
die Förderung der Regierung fehlte nicht, aber die einzelnen Unternehmungen
brachen rasch zusammen, als die Hochkonjunktur von einer wirtschaftlichen Ebbe
abgelöst wurde. Ostpreußen kann nicht „industrialisiert" werden und wird sich
stets auf seine bescheidene Holzverarbeitung beschränken müssen. Auch dem Gro߬
handel sind enge Grenzen gezogen. Ungünstige Handelsverträge schließen das
russische Hinterland ab, dessen Absatz künstlich nach Libau geleitet worden ist,
das man unter großen Kosten zu einem auch im Winter brauchbaren Hafen
ausgebaut hat. Königsberg besitzt dank den hohen Schutzzöllen und dem System
der Ausfuhrscheine einen zwar spekulativen, aber gewinnbringenden Getreide¬
handel, jedoch ist auch dieser Erwerbszweig von untergeordneter Bedeutung für
den Gesamtwohlstand Ostpreußens. Die Provinz trägt einen ausgesprochenen
ländlichen Charakter. Abgesehen von Königsberg besitzt sie keine größere Stadt,
nur noch eine von etwa 40000 und zwei von knapp 30000 Einwohnern, aber
schon diese sind gleich den zahlreichen kleineren Ortschaften reine Landstädte.
Die Bewohner sind Ackerbürger oder Kleingewerbetreibende, die von der Land¬
wirtschaft völlig abhängig sind. Diese selbst hat in den letzten zehn Jahren
gute Fortschritte gemacht; die Pferdezucht ist mit Umsicht gepflegt und der
sonstige Viehstand vermehrt und verbessert worden. Trotzdem nimmt die
Bevölkerung dauernd ab, die in den unteren Klassen durch höhere Löhne, in
den oberen durch größeres Behagen und geringere Kommunalsteuern nach dem
Westen gezogen wird. Auch der Umstand, daß die Landwirtschaft in steigendem
Maße menschliche Arbeit durch Maschinen zu ersetzen sucht, trägt zur Abwanderung
bei. Der Boden selbst ist in den meisten Gegenden vorzüglich, aber der Sommer
ist kurz und die Arbeit drängt sich auf wenige Monate zusammen, so daß der
größere Besitzer eine übermäßige Zahl von Leuten halten muß, die den längeren
Teil des Jahres ohne Beschäftigung find. Dieser Umstand, sowie die Ab¬
wanderung der landesbürtigen Bevölkerung drängt dazu, sich mit Saisonarbeitern
zu behelfen, die nach eingebrachter Ernte abgeschoben werden können. Der
Kleinbesitz, der ohne fremde Kräfte auskommt, wird durch diese Schwierigkeiten
weniger betroffen; es entspricht daher nur den natürlichen Bedingungen der
Provinz, daß er bei der bevorstehenden Neuentwicklung möglichst gestärkt, der
Großgrundbesitz dagegen zurückgedrängt wird, obgleich er in Ostpreußen bei
weitem nicht so vorhersehe wie in Pommern, Mecklenburg oder einzelnen Teilen
Schlesiens.

Der Russeneinfall hat unsäglichen Schaden angerichtet, er bietet aber auch
Gelegenheit, Reformen von Grund auf durchzuführen, besonders manche durch
eine verkehrte Agrargesetzgebung künstlich erzeugte Übelstände zu beseitigen.
Aus eigener Kraft würde Ostpreußen das nicht vermögen, aber hinter der
verheerten Provinz steht der preußische Staat, ja das gesamte Deutsche Reich,
dessen Opferwilligkeit in der „Ostpreutzenhilfe" zusammengefaßt werden soll.
Der Plan ihrer Organisation ist aus den Tageszeitungen bekannt. In allen


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[0419] Gstpreußenhilfe dieser Hinsicht abschreckend. Erhebliche Geldmittel wurden aufgewendet und die Förderung der Regierung fehlte nicht, aber die einzelnen Unternehmungen brachen rasch zusammen, als die Hochkonjunktur von einer wirtschaftlichen Ebbe abgelöst wurde. Ostpreußen kann nicht „industrialisiert" werden und wird sich stets auf seine bescheidene Holzverarbeitung beschränken müssen. Auch dem Gro߬ handel sind enge Grenzen gezogen. Ungünstige Handelsverträge schließen das russische Hinterland ab, dessen Absatz künstlich nach Libau geleitet worden ist, das man unter großen Kosten zu einem auch im Winter brauchbaren Hafen ausgebaut hat. Königsberg besitzt dank den hohen Schutzzöllen und dem System der Ausfuhrscheine einen zwar spekulativen, aber gewinnbringenden Getreide¬ handel, jedoch ist auch dieser Erwerbszweig von untergeordneter Bedeutung für den Gesamtwohlstand Ostpreußens. Die Provinz trägt einen ausgesprochenen ländlichen Charakter. Abgesehen von Königsberg besitzt sie keine größere Stadt, nur noch eine von etwa 40000 und zwei von knapp 30000 Einwohnern, aber schon diese sind gleich den zahlreichen kleineren Ortschaften reine Landstädte. Die Bewohner sind Ackerbürger oder Kleingewerbetreibende, die von der Land¬ wirtschaft völlig abhängig sind. Diese selbst hat in den letzten zehn Jahren gute Fortschritte gemacht; die Pferdezucht ist mit Umsicht gepflegt und der sonstige Viehstand vermehrt und verbessert worden. Trotzdem nimmt die Bevölkerung dauernd ab, die in den unteren Klassen durch höhere Löhne, in den oberen durch größeres Behagen und geringere Kommunalsteuern nach dem Westen gezogen wird. Auch der Umstand, daß die Landwirtschaft in steigendem Maße menschliche Arbeit durch Maschinen zu ersetzen sucht, trägt zur Abwanderung bei. Der Boden selbst ist in den meisten Gegenden vorzüglich, aber der Sommer ist kurz und die Arbeit drängt sich auf wenige Monate zusammen, so daß der größere Besitzer eine übermäßige Zahl von Leuten halten muß, die den längeren Teil des Jahres ohne Beschäftigung find. Dieser Umstand, sowie die Ab¬ wanderung der landesbürtigen Bevölkerung drängt dazu, sich mit Saisonarbeitern zu behelfen, die nach eingebrachter Ernte abgeschoben werden können. Der Kleinbesitz, der ohne fremde Kräfte auskommt, wird durch diese Schwierigkeiten weniger betroffen; es entspricht daher nur den natürlichen Bedingungen der Provinz, daß er bei der bevorstehenden Neuentwicklung möglichst gestärkt, der Großgrundbesitz dagegen zurückgedrängt wird, obgleich er in Ostpreußen bei weitem nicht so vorhersehe wie in Pommern, Mecklenburg oder einzelnen Teilen Schlesiens. Der Russeneinfall hat unsäglichen Schaden angerichtet, er bietet aber auch Gelegenheit, Reformen von Grund auf durchzuführen, besonders manche durch eine verkehrte Agrargesetzgebung künstlich erzeugte Übelstände zu beseitigen. Aus eigener Kraft würde Ostpreußen das nicht vermögen, aber hinter der verheerten Provinz steht der preußische Staat, ja das gesamte Deutsche Reich, dessen Opferwilligkeit in der „Ostpreutzenhilfe" zusammengefaßt werden soll. Der Plan ihrer Organisation ist aus den Tageszeitungen bekannt. In allen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/419>, abgerufen am 22.07.2024.