Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.Belgiens Verfassung und Staatsleben dacht hatte, gegen Ende des Jahrhunderts mehr und mehr aufgestört, einerseits Mehr und mehr fühlte die Arbeiterschaft eines der ersten Industrieländer Da zeigte die herrschende Klasse eine neue Eigenschaft, die sie mit der Freilich so weit wie Deutschland und Frankreich konnte man nicht gehen Belgiens Verfassung und Staatsleben dacht hatte, gegen Ende des Jahrhunderts mehr und mehr aufgestört, einerseits Mehr und mehr fühlte die Arbeiterschaft eines der ersten Industrieländer Da zeigte die herrschende Klasse eine neue Eigenschaft, die sie mit der Freilich so weit wie Deutschland und Frankreich konnte man nicht gehen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0414" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323953"/> <fw type="header" place="top"> Belgiens Verfassung und Staatsleben</fw><lb/> <p xml:id="ID_1359" prev="#ID_1358"> dacht hatte, gegen Ende des Jahrhunderts mehr und mehr aufgestört, einerseits<lb/> durch eine stetig anwachsende soziale, und anderseits durch eine an Kraft zunehmende<lb/> nationale Bewegung, durch Sozialdemokratie und Vlamentum. Beide standen<lb/> untereinander in keinerlei Zusammenhang, bedrohten doch aber immer mehr<lb/> die Grundlagen der bisherigen staatlichen Entwicklung.</p><lb/> <p xml:id="ID_1360"> Mehr und mehr fühlte die Arbeiterschaft eines der ersten Industrieländer<lb/> der Welt ihre innere Kraft und ihre äußere Ohnmacht. Sie trug alle Lasten<lb/> des Staates mit, insbesondere die Wehrpflicht, von der die Bourgeoisie sich<lb/> loskaufte, war aber durch den Zensus von allen politischen Rechten ausge-<lb/> geschlossen. Auf die Interessen der Arbeiter wurde daher von der staatlichen<lb/> Gesetzgebung keinerlei Rücksicht genommen; die belgische Fabrikgesetzgebung war eine<lb/> der am meisten zurückgebliebenen der Welt, von einer Arbeiterversicherung waren<lb/> kaum Ansätze vorhanden. Dabei sah die belgische Arbeiterschaft, wie in den<lb/> Nachbarländern Deutschland und Frankreich der Arbeiter vermöge des allgemeinen<lb/> Stimmrechtes gleiche politische Rechte mit anderen Klassen genossen, wie namentlich<lb/> in Deutschland eine bahnbrechende Sozialgesetzgebung den Interessen der<lb/> Athener gerecht zu werden suchte. Kein Wunder, wenn auf diesem Boden die<lb/> Sozialdemokratie Boden fand und zwar bei der durch die Kirche vernachlässigten<lb/> Volksbildung in der rohesten, an Anarchismus streifenden Form. Die Arbeiter<lb/> verlangten seit Anfang der neunziger Jahre immer entschiedener das allgemeine<lb/> Stimmrecht zur Geltendmachung ihrer Interessen und suchten ihre Forderungen<lb/> durch Arbeitseinstellungen, die wegen der damit verknüpften Gewalttätigkeiten<lb/> an Aufruhr grenzten, durchzusetzen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1361"> Da zeigte die herrschende Klasse eine neue Eigenschaft, die sie mit der<lb/> französischen Bourgeoisie gemein hat, die politische Feigheit. Denn Weisheit<lb/> war es gewiß nicht, erst unter dem Eindrucke des Aufruhrs auf eine einseitige<lb/> Klassenherrschaft zu verzichten. So entschloß man sich zur Verfassungsrevision,<lb/> deren Ergebnis am 9. September 1893 im Moniteur verkündet wurde.</p><lb/> <p xml:id="ID_1362" next="#ID_1363"> Freilich so weit wie Deutschland und Frankreich konnte man nicht gehen<lb/> und den Arbeitern das allgemeine Stimmrecht gewähren. Denn in dem reinen<lb/> Industrielands hätte das allgemeine Stimmrecht bei der verfassungsmäßigen<lb/> Allmacht der zweiten Kammer einfach die Preisgabe von Staat und Gesellschaft<lb/> an die revolutionäre Sozialdemokratie bedeutet. So entschloß man sich für die<lb/> zweite Kammer zum Pluralstimmrecht, seit 1899 ergänzt durch die Verhältnis¬<lb/> wahl. Jeder Belgier von fünfundzwanzig Jahren erhielt zwar das Wahlrecht,<lb/> aber höheres Alter, die Eigenschaft eines Familienvaters und eine gewisse<lb/> Steuerleistung und ein gewisser Besitz, auch höhere Bildung und amtliche<lb/> Stellung gewährten Zusatzstimmen, so daß ein Wähler bis zu drei Stimmen<lb/> in sich vereinigen konnte. Die Mitglieder des Senates wurden auf die doppelte<lb/> Zeit zum Teil in ähnlicher Weise, aber mit höherem Passtvzensus, zum Teil<lb/> von den Provinzialräten gewählt. Dagegen mißlangen Versuche des Königs<lb/> Leopold des Zweiten durch das sogenannte Königsreferendum, das heißt die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0414]
Belgiens Verfassung und Staatsleben
dacht hatte, gegen Ende des Jahrhunderts mehr und mehr aufgestört, einerseits
durch eine stetig anwachsende soziale, und anderseits durch eine an Kraft zunehmende
nationale Bewegung, durch Sozialdemokratie und Vlamentum. Beide standen
untereinander in keinerlei Zusammenhang, bedrohten doch aber immer mehr
die Grundlagen der bisherigen staatlichen Entwicklung.
Mehr und mehr fühlte die Arbeiterschaft eines der ersten Industrieländer
der Welt ihre innere Kraft und ihre äußere Ohnmacht. Sie trug alle Lasten
des Staates mit, insbesondere die Wehrpflicht, von der die Bourgeoisie sich
loskaufte, war aber durch den Zensus von allen politischen Rechten ausge-
geschlossen. Auf die Interessen der Arbeiter wurde daher von der staatlichen
Gesetzgebung keinerlei Rücksicht genommen; die belgische Fabrikgesetzgebung war eine
der am meisten zurückgebliebenen der Welt, von einer Arbeiterversicherung waren
kaum Ansätze vorhanden. Dabei sah die belgische Arbeiterschaft, wie in den
Nachbarländern Deutschland und Frankreich der Arbeiter vermöge des allgemeinen
Stimmrechtes gleiche politische Rechte mit anderen Klassen genossen, wie namentlich
in Deutschland eine bahnbrechende Sozialgesetzgebung den Interessen der
Athener gerecht zu werden suchte. Kein Wunder, wenn auf diesem Boden die
Sozialdemokratie Boden fand und zwar bei der durch die Kirche vernachlässigten
Volksbildung in der rohesten, an Anarchismus streifenden Form. Die Arbeiter
verlangten seit Anfang der neunziger Jahre immer entschiedener das allgemeine
Stimmrecht zur Geltendmachung ihrer Interessen und suchten ihre Forderungen
durch Arbeitseinstellungen, die wegen der damit verknüpften Gewalttätigkeiten
an Aufruhr grenzten, durchzusetzen.
Da zeigte die herrschende Klasse eine neue Eigenschaft, die sie mit der
französischen Bourgeoisie gemein hat, die politische Feigheit. Denn Weisheit
war es gewiß nicht, erst unter dem Eindrucke des Aufruhrs auf eine einseitige
Klassenherrschaft zu verzichten. So entschloß man sich zur Verfassungsrevision,
deren Ergebnis am 9. September 1893 im Moniteur verkündet wurde.
Freilich so weit wie Deutschland und Frankreich konnte man nicht gehen
und den Arbeitern das allgemeine Stimmrecht gewähren. Denn in dem reinen
Industrielands hätte das allgemeine Stimmrecht bei der verfassungsmäßigen
Allmacht der zweiten Kammer einfach die Preisgabe von Staat und Gesellschaft
an die revolutionäre Sozialdemokratie bedeutet. So entschloß man sich für die
zweite Kammer zum Pluralstimmrecht, seit 1899 ergänzt durch die Verhältnis¬
wahl. Jeder Belgier von fünfundzwanzig Jahren erhielt zwar das Wahlrecht,
aber höheres Alter, die Eigenschaft eines Familienvaters und eine gewisse
Steuerleistung und ein gewisser Besitz, auch höhere Bildung und amtliche
Stellung gewährten Zusatzstimmen, so daß ein Wähler bis zu drei Stimmen
in sich vereinigen konnte. Die Mitglieder des Senates wurden auf die doppelte
Zeit zum Teil in ähnlicher Weise, aber mit höherem Passtvzensus, zum Teil
von den Provinzialräten gewählt. Dagegen mißlangen Versuche des Königs
Leopold des Zweiten durch das sogenannte Königsreferendum, das heißt die
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