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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Charakterbild eines altrömischen Feldarztes

Zeugnisse nur spärlich erhellt wird, finden sich inmitten seiner "Rezepte"
(Lompositiones), der ersten größeren derartigen Sammlung aus dem alten
Rom. Dieses nicht nur für die Geschichte der Medizin oder die Realienschrist-
stellerei innerhalb der römischen Literatur, sondern auch sür die Volkskunde
und die allgemeine Kulturgeschichte recht bedeutsame Werk ist außergewöhnlich
lange ganz ungebührlich vernachlässigt worden, wie schon daraus hervorgeht,
daß es bis auf unsere Tage trotz der so außerordentlich großen Zahl von
Übersetzungen aus den beiden alten Sprachen in keine einzige moderne Kultur¬
sprache übertragen worden war. Die erste vollständige Verdeutschung, samt
Einleitung und ausführlichen Arzneimittelregister, ist von dem Verfasser dieses
Aufsatzes ausgegangen (Jena: Gustav Fischer, 1913); ihr entstammen die
Auszüge, die in den folgenden Betrachtungen mitgeteilt werden.

Auf den Inhalt oder die Form der eigentlichen Rezepte näher einzugehen,
erübrigt sich für den beabsichtigten Zweck. Genug, daß die Genauigkeit der
Dosierung, die sorgfältige Zusammensetzung aller für ein Heilmittel in Betracht
kommenden Bestandteile und die kundigen Angaben zur Bereitung von Salben
und Pflastern den gewiegten Praktiker verraten, den viele Erfahrungen bei
leicht Angegriffenen und schwer Daniederliegenden, bei akuten und chronischen
Leiden, bei Vergiftungen und Körperschäden zu einem der gesuchtesten Mediziner
des kaiserlichen Rom hatten werden lassen. Wichtiger ist es für uns, Einblick
in seine ärztliche Ethik zu gewinnen, die Pflichtenlehre, von der er ausging,
die Deontologie, von der er sich leiten ließ, kennen zu lernen. Neben einzelnen,
in die Rezepte eingestreuten Bemerkungen bietet uns hierfür die Vorrede das
beste Material.

Wenn wir bei ihm lesen, die Heilkunde sei "die Wissenschaft vom Heilen,
nicht vom Schaden", so soll das kein Scherz sein. Denn abgesehen davon,
daß hier vielleicht die Erinnerung an ein Wort des Hippokrates nachklingt,
dessen Schriften schon früh kanonische Geltung gewannen, man habe bei
Krankheiten zweierlei zu beobachten, "nützen oder wenigstens nicht schaden"
(Epidem. A. c. 11), so liegt darin doch wohl für die Berufsgenossen die
Mahnung zur Vorsicht und die Empfehlung, nicht vorschnell zu verordnen.
Hält er es doch "für etwas Großes und über die menschliche Natur Hinaus¬
gehendes, daß jemand die eigene Gesundheit oder die eines jeden schützen oder
wiederherstellen könne". Womit aber soll der Arzt diesen Erfolg erzielen?
Nicht mit Schneiden und Brennen, wozu man nur in höchster Not schreiten
darf, sondem mit Arzneien, von deren Wichtigkeit für die gesamte Medizin
er fest überzeugt ist. "Was die Berührung eines Gottes zu bewirken vermag,
das leisten geradezu die Arzneien." Es ist leicht einzusehen, daß dieses
Vertrauen des Scribonius auf die Heilkraft der aus den verschiedensten Zutaten
bestehenden Medikamente zwar durch Kenntnis erprobter, von früheren und
zeitgenössischen Kollegen stammenden Heilmittel, ja sogar von Volk-.- und
Zaubermitteln entstehen, aber dennoch kaum zu solcher Höhe sich entwickeln


Charakterbild eines altrömischen Feldarztes

Zeugnisse nur spärlich erhellt wird, finden sich inmitten seiner „Rezepte"
(Lompositiones), der ersten größeren derartigen Sammlung aus dem alten
Rom. Dieses nicht nur für die Geschichte der Medizin oder die Realienschrist-
stellerei innerhalb der römischen Literatur, sondern auch sür die Volkskunde
und die allgemeine Kulturgeschichte recht bedeutsame Werk ist außergewöhnlich
lange ganz ungebührlich vernachlässigt worden, wie schon daraus hervorgeht,
daß es bis auf unsere Tage trotz der so außerordentlich großen Zahl von
Übersetzungen aus den beiden alten Sprachen in keine einzige moderne Kultur¬
sprache übertragen worden war. Die erste vollständige Verdeutschung, samt
Einleitung und ausführlichen Arzneimittelregister, ist von dem Verfasser dieses
Aufsatzes ausgegangen (Jena: Gustav Fischer, 1913); ihr entstammen die
Auszüge, die in den folgenden Betrachtungen mitgeteilt werden.

Auf den Inhalt oder die Form der eigentlichen Rezepte näher einzugehen,
erübrigt sich für den beabsichtigten Zweck. Genug, daß die Genauigkeit der
Dosierung, die sorgfältige Zusammensetzung aller für ein Heilmittel in Betracht
kommenden Bestandteile und die kundigen Angaben zur Bereitung von Salben
und Pflastern den gewiegten Praktiker verraten, den viele Erfahrungen bei
leicht Angegriffenen und schwer Daniederliegenden, bei akuten und chronischen
Leiden, bei Vergiftungen und Körperschäden zu einem der gesuchtesten Mediziner
des kaiserlichen Rom hatten werden lassen. Wichtiger ist es für uns, Einblick
in seine ärztliche Ethik zu gewinnen, die Pflichtenlehre, von der er ausging,
die Deontologie, von der er sich leiten ließ, kennen zu lernen. Neben einzelnen,
in die Rezepte eingestreuten Bemerkungen bietet uns hierfür die Vorrede das
beste Material.

Wenn wir bei ihm lesen, die Heilkunde sei „die Wissenschaft vom Heilen,
nicht vom Schaden", so soll das kein Scherz sein. Denn abgesehen davon,
daß hier vielleicht die Erinnerung an ein Wort des Hippokrates nachklingt,
dessen Schriften schon früh kanonische Geltung gewannen, man habe bei
Krankheiten zweierlei zu beobachten, „nützen oder wenigstens nicht schaden"
(Epidem. A. c. 11), so liegt darin doch wohl für die Berufsgenossen die
Mahnung zur Vorsicht und die Empfehlung, nicht vorschnell zu verordnen.
Hält er es doch „für etwas Großes und über die menschliche Natur Hinaus¬
gehendes, daß jemand die eigene Gesundheit oder die eines jeden schützen oder
wiederherstellen könne". Womit aber soll der Arzt diesen Erfolg erzielen?
Nicht mit Schneiden und Brennen, wozu man nur in höchster Not schreiten
darf, sondem mit Arzneien, von deren Wichtigkeit für die gesamte Medizin
er fest überzeugt ist. „Was die Berührung eines Gottes zu bewirken vermag,
das leisten geradezu die Arzneien." Es ist leicht einzusehen, daß dieses
Vertrauen des Scribonius auf die Heilkraft der aus den verschiedensten Zutaten
bestehenden Medikamente zwar durch Kenntnis erprobter, von früheren und
zeitgenössischen Kollegen stammenden Heilmittel, ja sogar von Volk-.- und
Zaubermitteln entstehen, aber dennoch kaum zu solcher Höhe sich entwickeln


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/393>, abgerufen am 22.07.2024.