Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Nrifis des deutschbaltischen Menschen

zusammenzustürzen, scheint unter den Ehlen ein soliderer Geschäftsgeist zu herrschen.
Die Mäßigkeitsbewegung macht unter ihnen wie unter den ihnen nahe verwandten
Finnen gute Fortschritte, während unter den deutschen Studenten Dorpats der
herkömmliche Alkoholismus wie auch das Schuldenwesen beträchtlich im
Schwange sind. So kann es leicht kommen, daß hier bei uns dem neuzeitlich-
gerechten, abwägenden Sinn, dem die bürgerlich-liberalen Maßstäbe in Fleisch
und Blut übergegangen sind, die wacker aufstrebende, rührige, die Hilfsmittel
des pfiffigen Verstandes geschickt brauchende Unterschicht wesensverwandter und
sympathischer erscheint als das "rückständige", orthodox-aristokratische Deutschtum,
das noch die Person über die abstrakte Leistung, die Kraft über die Bravheit,
die breite Lässigkeit über die peinliche Ordnung zu stellen geneigt ist.

Es wäre gewiß sehr unglücklich, die zivilisatorische und organisatorische
Leistungsfähigkeit unseres Vaterlandes in diesem Augenblick anzuklagen, wo wir
ihr so herrliche Erfolge zu danken haben, wo auch wir Zweifler ihren großen
Sinn so leibhaft sehen. Immerhin mag gerade jetzt in den Tagen des sieghaften
aristokratischen Militarismus der unentwegte Glaube an die alleinseligmachende
Kraft von majoritätsausschlachtenden und ständische Stufung zerrüttenden
Institutionen bei manchem ins Wanken gekommen sein. Den romantischen
gegenwartsverärgerten Ablehnern alles "Fortschritts" hat freilich die historische
Stunde in gleicher Weise die Bestätigung versagt. Dennoch aber wird nach
dem Krieg eine breitere Gemeinde kulturschöpferischer Geister nach politischen
Möglichkeiten suchen, die eine Bindung des schweifenden zivilisatorischer Fort¬
schritts in übergreifenden politisch-kulturell-nationalen Zwecksetzungen verbürgen,
die der Überrennung des Edlen durch das Geschelte innerhalb der sozialen
Sphäre entgegenwirken. Vielleicht daß mancher unter ihnen doch etwas wie
eine Wahlverwandtschaft mit dem empfinden wird, was ich als das urtümliche
deutschbaltische Pathos dem Leser nahezubringen suchte. Um ihre Anteilnahme
an den Nöten und Wirren des baltischen Geistes war ich bemüht. --

Noch einmal: das baltische Geschick wird nicht aus den Interessen dieses
Häufleins deutscher Menschen sich entscheiden. Sollten die makropolitischev
Tendenzen der Geschichte es fügen, daß die alte Ordensmark wieder deutsch
würde, dann erst wird sich die Aufgabe öffnen, den durch die russische Brutalität
abgebrochenen Traditionen der deutschen Selbstverwaltung ein organisches Hinein¬
wachsen in die Forderungen der neuesten Zeit zu ermöglichen. Der sentimentalen
Ansicht, daß es die heilige Aufgabe Deutschlands sei, die Überheblichkeiten von fremd¬
sprachigen Miniaturnationen großzuziehen, kann ich mich nicht anschließen. Vielmehr
müßte darauf gesonnen werden, wie dem Land der Charakter der Kolonie zu erhalten
wäre, die manchem in unseren festeren Ordnungen Unzeitgemäßen und Unorts-
gemäßen weiterhin fruchtbare Betätigung ermöglichte, freilich unter Einfügung
in die dort herausgebildeter Traditionen, die dem Fremden sich niemals spröde
verschlossen haben. Alle diese Dinge zur Erörterung zu stellen, wäre heute
verfrüht.


Die Nrifis des deutschbaltischen Menschen

zusammenzustürzen, scheint unter den Ehlen ein soliderer Geschäftsgeist zu herrschen.
Die Mäßigkeitsbewegung macht unter ihnen wie unter den ihnen nahe verwandten
Finnen gute Fortschritte, während unter den deutschen Studenten Dorpats der
herkömmliche Alkoholismus wie auch das Schuldenwesen beträchtlich im
Schwange sind. So kann es leicht kommen, daß hier bei uns dem neuzeitlich-
gerechten, abwägenden Sinn, dem die bürgerlich-liberalen Maßstäbe in Fleisch
und Blut übergegangen sind, die wacker aufstrebende, rührige, die Hilfsmittel
des pfiffigen Verstandes geschickt brauchende Unterschicht wesensverwandter und
sympathischer erscheint als das „rückständige", orthodox-aristokratische Deutschtum,
das noch die Person über die abstrakte Leistung, die Kraft über die Bravheit,
die breite Lässigkeit über die peinliche Ordnung zu stellen geneigt ist.

Es wäre gewiß sehr unglücklich, die zivilisatorische und organisatorische
Leistungsfähigkeit unseres Vaterlandes in diesem Augenblick anzuklagen, wo wir
ihr so herrliche Erfolge zu danken haben, wo auch wir Zweifler ihren großen
Sinn so leibhaft sehen. Immerhin mag gerade jetzt in den Tagen des sieghaften
aristokratischen Militarismus der unentwegte Glaube an die alleinseligmachende
Kraft von majoritätsausschlachtenden und ständische Stufung zerrüttenden
Institutionen bei manchem ins Wanken gekommen sein. Den romantischen
gegenwartsverärgerten Ablehnern alles „Fortschritts" hat freilich die historische
Stunde in gleicher Weise die Bestätigung versagt. Dennoch aber wird nach
dem Krieg eine breitere Gemeinde kulturschöpferischer Geister nach politischen
Möglichkeiten suchen, die eine Bindung des schweifenden zivilisatorischer Fort¬
schritts in übergreifenden politisch-kulturell-nationalen Zwecksetzungen verbürgen,
die der Überrennung des Edlen durch das Geschelte innerhalb der sozialen
Sphäre entgegenwirken. Vielleicht daß mancher unter ihnen doch etwas wie
eine Wahlverwandtschaft mit dem empfinden wird, was ich als das urtümliche
deutschbaltische Pathos dem Leser nahezubringen suchte. Um ihre Anteilnahme
an den Nöten und Wirren des baltischen Geistes war ich bemüht. —

Noch einmal: das baltische Geschick wird nicht aus den Interessen dieses
Häufleins deutscher Menschen sich entscheiden. Sollten die makropolitischev
Tendenzen der Geschichte es fügen, daß die alte Ordensmark wieder deutsch
würde, dann erst wird sich die Aufgabe öffnen, den durch die russische Brutalität
abgebrochenen Traditionen der deutschen Selbstverwaltung ein organisches Hinein¬
wachsen in die Forderungen der neuesten Zeit zu ermöglichen. Der sentimentalen
Ansicht, daß es die heilige Aufgabe Deutschlands sei, die Überheblichkeiten von fremd¬
sprachigen Miniaturnationen großzuziehen, kann ich mich nicht anschließen. Vielmehr
müßte darauf gesonnen werden, wie dem Land der Charakter der Kolonie zu erhalten
wäre, die manchem in unseren festeren Ordnungen Unzeitgemäßen und Unorts-
gemäßen weiterhin fruchtbare Betätigung ermöglichte, freilich unter Einfügung
in die dort herausgebildeter Traditionen, die dem Fremden sich niemals spröde
verschlossen haben. Alle diese Dinge zur Erörterung zu stellen, wäre heute
verfrüht.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0390" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323929"/>
            <fw type="header" place="top"> Die Nrifis des deutschbaltischen Menschen</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1271" prev="#ID_1270"> zusammenzustürzen, scheint unter den Ehlen ein soliderer Geschäftsgeist zu herrschen.<lb/>
Die Mäßigkeitsbewegung macht unter ihnen wie unter den ihnen nahe verwandten<lb/>
Finnen gute Fortschritte, während unter den deutschen Studenten Dorpats der<lb/>
herkömmliche Alkoholismus wie auch das Schuldenwesen beträchtlich im<lb/>
Schwange sind. So kann es leicht kommen, daß hier bei uns dem neuzeitlich-<lb/>
gerechten, abwägenden Sinn, dem die bürgerlich-liberalen Maßstäbe in Fleisch<lb/>
und Blut übergegangen sind, die wacker aufstrebende, rührige, die Hilfsmittel<lb/>
des pfiffigen Verstandes geschickt brauchende Unterschicht wesensverwandter und<lb/>
sympathischer erscheint als das &#x201E;rückständige", orthodox-aristokratische Deutschtum,<lb/>
das noch die Person über die abstrakte Leistung, die Kraft über die Bravheit,<lb/>
die breite Lässigkeit über die peinliche Ordnung zu stellen geneigt ist.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1272"> Es wäre gewiß sehr unglücklich, die zivilisatorische und organisatorische<lb/>
Leistungsfähigkeit unseres Vaterlandes in diesem Augenblick anzuklagen, wo wir<lb/>
ihr so herrliche Erfolge zu danken haben, wo auch wir Zweifler ihren großen<lb/>
Sinn so leibhaft sehen. Immerhin mag gerade jetzt in den Tagen des sieghaften<lb/>
aristokratischen Militarismus der unentwegte Glaube an die alleinseligmachende<lb/>
Kraft von majoritätsausschlachtenden und ständische Stufung zerrüttenden<lb/>
Institutionen bei manchem ins Wanken gekommen sein. Den romantischen<lb/>
gegenwartsverärgerten Ablehnern alles &#x201E;Fortschritts" hat freilich die historische<lb/>
Stunde in gleicher Weise die Bestätigung versagt. Dennoch aber wird nach<lb/>
dem Krieg eine breitere Gemeinde kulturschöpferischer Geister nach politischen<lb/>
Möglichkeiten suchen, die eine Bindung des schweifenden zivilisatorischer Fort¬<lb/>
schritts in übergreifenden politisch-kulturell-nationalen Zwecksetzungen verbürgen,<lb/>
die der Überrennung des Edlen durch das Geschelte innerhalb der sozialen<lb/>
Sphäre entgegenwirken. Vielleicht daß mancher unter ihnen doch etwas wie<lb/>
eine Wahlverwandtschaft mit dem empfinden wird, was ich als das urtümliche<lb/>
deutschbaltische Pathos dem Leser nahezubringen suchte. Um ihre Anteilnahme<lb/>
an den Nöten und Wirren des baltischen Geistes war ich bemüht. &#x2014;</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1273"> Noch einmal: das baltische Geschick wird nicht aus den Interessen dieses<lb/>
Häufleins deutscher Menschen sich entscheiden. Sollten die makropolitischev<lb/>
Tendenzen der Geschichte es fügen, daß die alte Ordensmark wieder deutsch<lb/>
würde, dann erst wird sich die Aufgabe öffnen, den durch die russische Brutalität<lb/>
abgebrochenen Traditionen der deutschen Selbstverwaltung ein organisches Hinein¬<lb/>
wachsen in die Forderungen der neuesten Zeit zu ermöglichen. Der sentimentalen<lb/>
Ansicht, daß es die heilige Aufgabe Deutschlands sei, die Überheblichkeiten von fremd¬<lb/>
sprachigen Miniaturnationen großzuziehen, kann ich mich nicht anschließen. Vielmehr<lb/>
müßte darauf gesonnen werden, wie dem Land der Charakter der Kolonie zu erhalten<lb/>
wäre, die manchem in unseren festeren Ordnungen Unzeitgemäßen und Unorts-<lb/>
gemäßen weiterhin fruchtbare Betätigung ermöglichte, freilich unter Einfügung<lb/>
in die dort herausgebildeter Traditionen, die dem Fremden sich niemals spröde<lb/>
verschlossen haben. Alle diese Dinge zur Erörterung zu stellen, wäre heute<lb/>
verfrüht.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0390] Die Nrifis des deutschbaltischen Menschen zusammenzustürzen, scheint unter den Ehlen ein soliderer Geschäftsgeist zu herrschen. Die Mäßigkeitsbewegung macht unter ihnen wie unter den ihnen nahe verwandten Finnen gute Fortschritte, während unter den deutschen Studenten Dorpats der herkömmliche Alkoholismus wie auch das Schuldenwesen beträchtlich im Schwange sind. So kann es leicht kommen, daß hier bei uns dem neuzeitlich- gerechten, abwägenden Sinn, dem die bürgerlich-liberalen Maßstäbe in Fleisch und Blut übergegangen sind, die wacker aufstrebende, rührige, die Hilfsmittel des pfiffigen Verstandes geschickt brauchende Unterschicht wesensverwandter und sympathischer erscheint als das „rückständige", orthodox-aristokratische Deutschtum, das noch die Person über die abstrakte Leistung, die Kraft über die Bravheit, die breite Lässigkeit über die peinliche Ordnung zu stellen geneigt ist. Es wäre gewiß sehr unglücklich, die zivilisatorische und organisatorische Leistungsfähigkeit unseres Vaterlandes in diesem Augenblick anzuklagen, wo wir ihr so herrliche Erfolge zu danken haben, wo auch wir Zweifler ihren großen Sinn so leibhaft sehen. Immerhin mag gerade jetzt in den Tagen des sieghaften aristokratischen Militarismus der unentwegte Glaube an die alleinseligmachende Kraft von majoritätsausschlachtenden und ständische Stufung zerrüttenden Institutionen bei manchem ins Wanken gekommen sein. Den romantischen gegenwartsverärgerten Ablehnern alles „Fortschritts" hat freilich die historische Stunde in gleicher Weise die Bestätigung versagt. Dennoch aber wird nach dem Krieg eine breitere Gemeinde kulturschöpferischer Geister nach politischen Möglichkeiten suchen, die eine Bindung des schweifenden zivilisatorischer Fort¬ schritts in übergreifenden politisch-kulturell-nationalen Zwecksetzungen verbürgen, die der Überrennung des Edlen durch das Geschelte innerhalb der sozialen Sphäre entgegenwirken. Vielleicht daß mancher unter ihnen doch etwas wie eine Wahlverwandtschaft mit dem empfinden wird, was ich als das urtümliche deutschbaltische Pathos dem Leser nahezubringen suchte. Um ihre Anteilnahme an den Nöten und Wirren des baltischen Geistes war ich bemüht. — Noch einmal: das baltische Geschick wird nicht aus den Interessen dieses Häufleins deutscher Menschen sich entscheiden. Sollten die makropolitischev Tendenzen der Geschichte es fügen, daß die alte Ordensmark wieder deutsch würde, dann erst wird sich die Aufgabe öffnen, den durch die russische Brutalität abgebrochenen Traditionen der deutschen Selbstverwaltung ein organisches Hinein¬ wachsen in die Forderungen der neuesten Zeit zu ermöglichen. Der sentimentalen Ansicht, daß es die heilige Aufgabe Deutschlands sei, die Überheblichkeiten von fremd¬ sprachigen Miniaturnationen großzuziehen, kann ich mich nicht anschließen. Vielmehr müßte darauf gesonnen werden, wie dem Land der Charakter der Kolonie zu erhalten wäre, die manchem in unseren festeren Ordnungen Unzeitgemäßen und Unorts- gemäßen weiterhin fruchtbare Betätigung ermöglichte, freilich unter Einfügung in die dort herausgebildeter Traditionen, die dem Fremden sich niemals spröde verschlossen haben. Alle diese Dinge zur Erörterung zu stellen, wäre heute verfrüht.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/390
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/390>, abgerufen am 22.07.2024.