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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung

völlig überzeugend, daß Frankreich beabsichtigt hat, durch Belgien gegen Deutsch¬
land aufzumarschieren, also selbst die belgische Neutralität zu verletzen. Er ist
der Meinung, daß Frankreich warten konnte, vielleicht auch, schon mit Rücksicht
auf den von England angeblich ernsthaft vertretenen Grundsatz, die Verletzung
unter allen Umständen als einen easus deUi zu betrachten, warten wollte.
Deutschland aber konnte nicht warten, mit der drohenden russischen Gefahr im
Osten. Die von verschiedenen Seiten, unter anderem auch vom Staatsrechts¬
lehrer Kohler, für Deutschland in Anspruch genommene Entschuldigung durch
"Notwehr" will Labberton indes nicht gelten lassen. Hierzu gebricht es nach
seiner Auffassung an der Voraussetzung der Provokation durch widerrechtlichen
Angriff. Es handelt sich bei Deutschland um eine Präventivmaßnahme, die
wohl sittlich verständlich, aber juridisch nicht als direkte Notwehr anzusprechen
ist. Auch die Hilfstheorie für die Notwehrbeweisführung, die Benutzung des
Gebietes eines, wenn auch selbst unschuldigen Dritten (Belgiens) als Hilfsmittel
zu einem feindlichen Angriff, ist hier nicht stichhaltig. Die Frage müsse vielmehr
lauten: wenn der Angreifer sich hinter einen Dritten versteckt, welches Recht hat
dann der Angegriffene diesem Dritten gegenüber? Darauf antwortet Labberton:
ist diese dritte Person unschuldig, so muß sie geschont werden.

Damit kommt er zu dem zweiten Punkte, der Frage der belgisch-französisch-
"lglischen Konnivenz, insoweit sie sich aus den in Brüssel gefundenen Dokumenten
ergibt. Sie stellen, nach seiner Ansicht, für Belgien auf jeden Fall den Beweis
einer allgemeinen Verwahrlosung seiner neutralen Pflichten dar, indem sich das
Königreich mit Händen und Füßen der Gegenpartei Deutschlands dermaßen
verband, daß es vom Regen in die Traufe kam und nicht mehr als Opfer
eines Irrtums, sondern eigener Schuld bezeichnet werden muß, so daß das
allgemeine Mitgefühl mit dem Schicksal dieses Landes angesichts seiner mangelnden
Selbstachtung eine erhebliche Trübung erfahren muß. Für die Beurteilung des
Verhaltens Deutschlands gegenüber der belgischen Neutralität können die Brüsseler
Dokumente indes doch nur als indifferent bezeichnet werden. Es kommt hier ja
nicht auf die für Deutschland objektiv gegebenen Umstände an, fondern allein darauf,
wie sie sich ihm subjektiv darstellten. Man muß annehmen, daß die deutsche
Regierung im August ohne diese Kenntnis von den durch die Dokumente enthüllten
Dingen handelte; daß sie diese schon früher kannte, ist aber vor der Hand nicht
bewiesen. Kann Deutschland später diesen Beweis einwandfrei erbringen, so ist
es ohne weiteres freizusprechen. Bis dahin aber kann das Urteil nur lauten:
Non liquet. Das Vertrauen in Deutschlands höhere sittliche Berufung recht¬
fertigt aber wohl die Hoffnung, daß die Zukunft eine völlige Versöhnung
bringen und die Geschichte schließlich doch zu einer Freisprechung gelangen wird.

Aber auch dies darf nach Labbertons Auffassung nicht das letzte Wort
über die belgische Frage sein. Es gibt im Leben Zustände, die sich uns als
nicht direkt Beteiligten verbergen, wo wir keine objektive Kenntnis haben, wo
wir uns aber auf eine Art von intuitiver, praktischer Erfahrung, gleichsam auf


Grenzboten II 1915 24
Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung

völlig überzeugend, daß Frankreich beabsichtigt hat, durch Belgien gegen Deutsch¬
land aufzumarschieren, also selbst die belgische Neutralität zu verletzen. Er ist
der Meinung, daß Frankreich warten konnte, vielleicht auch, schon mit Rücksicht
auf den von England angeblich ernsthaft vertretenen Grundsatz, die Verletzung
unter allen Umständen als einen easus deUi zu betrachten, warten wollte.
Deutschland aber konnte nicht warten, mit der drohenden russischen Gefahr im
Osten. Die von verschiedenen Seiten, unter anderem auch vom Staatsrechts¬
lehrer Kohler, für Deutschland in Anspruch genommene Entschuldigung durch
„Notwehr" will Labberton indes nicht gelten lassen. Hierzu gebricht es nach
seiner Auffassung an der Voraussetzung der Provokation durch widerrechtlichen
Angriff. Es handelt sich bei Deutschland um eine Präventivmaßnahme, die
wohl sittlich verständlich, aber juridisch nicht als direkte Notwehr anzusprechen
ist. Auch die Hilfstheorie für die Notwehrbeweisführung, die Benutzung des
Gebietes eines, wenn auch selbst unschuldigen Dritten (Belgiens) als Hilfsmittel
zu einem feindlichen Angriff, ist hier nicht stichhaltig. Die Frage müsse vielmehr
lauten: wenn der Angreifer sich hinter einen Dritten versteckt, welches Recht hat
dann der Angegriffene diesem Dritten gegenüber? Darauf antwortet Labberton:
ist diese dritte Person unschuldig, so muß sie geschont werden.

Damit kommt er zu dem zweiten Punkte, der Frage der belgisch-französisch-
«lglischen Konnivenz, insoweit sie sich aus den in Brüssel gefundenen Dokumenten
ergibt. Sie stellen, nach seiner Ansicht, für Belgien auf jeden Fall den Beweis
einer allgemeinen Verwahrlosung seiner neutralen Pflichten dar, indem sich das
Königreich mit Händen und Füßen der Gegenpartei Deutschlands dermaßen
verband, daß es vom Regen in die Traufe kam und nicht mehr als Opfer
eines Irrtums, sondern eigener Schuld bezeichnet werden muß, so daß das
allgemeine Mitgefühl mit dem Schicksal dieses Landes angesichts seiner mangelnden
Selbstachtung eine erhebliche Trübung erfahren muß. Für die Beurteilung des
Verhaltens Deutschlands gegenüber der belgischen Neutralität können die Brüsseler
Dokumente indes doch nur als indifferent bezeichnet werden. Es kommt hier ja
nicht auf die für Deutschland objektiv gegebenen Umstände an, fondern allein darauf,
wie sie sich ihm subjektiv darstellten. Man muß annehmen, daß die deutsche
Regierung im August ohne diese Kenntnis von den durch die Dokumente enthüllten
Dingen handelte; daß sie diese schon früher kannte, ist aber vor der Hand nicht
bewiesen. Kann Deutschland später diesen Beweis einwandfrei erbringen, so ist
es ohne weiteres freizusprechen. Bis dahin aber kann das Urteil nur lauten:
Non liquet. Das Vertrauen in Deutschlands höhere sittliche Berufung recht¬
fertigt aber wohl die Hoffnung, daß die Zukunft eine völlige Versöhnung
bringen und die Geschichte schließlich doch zu einer Freisprechung gelangen wird.

Aber auch dies darf nach Labbertons Auffassung nicht das letzte Wort
über die belgische Frage sein. Es gibt im Leben Zustände, die sich uns als
nicht direkt Beteiligten verbergen, wo wir keine objektive Kenntnis haben, wo
wir uns aber auf eine Art von intuitiver, praktischer Erfahrung, gleichsam auf


Grenzboten II 1915 24
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[0381] Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung völlig überzeugend, daß Frankreich beabsichtigt hat, durch Belgien gegen Deutsch¬ land aufzumarschieren, also selbst die belgische Neutralität zu verletzen. Er ist der Meinung, daß Frankreich warten konnte, vielleicht auch, schon mit Rücksicht auf den von England angeblich ernsthaft vertretenen Grundsatz, die Verletzung unter allen Umständen als einen easus deUi zu betrachten, warten wollte. Deutschland aber konnte nicht warten, mit der drohenden russischen Gefahr im Osten. Die von verschiedenen Seiten, unter anderem auch vom Staatsrechts¬ lehrer Kohler, für Deutschland in Anspruch genommene Entschuldigung durch „Notwehr" will Labberton indes nicht gelten lassen. Hierzu gebricht es nach seiner Auffassung an der Voraussetzung der Provokation durch widerrechtlichen Angriff. Es handelt sich bei Deutschland um eine Präventivmaßnahme, die wohl sittlich verständlich, aber juridisch nicht als direkte Notwehr anzusprechen ist. Auch die Hilfstheorie für die Notwehrbeweisführung, die Benutzung des Gebietes eines, wenn auch selbst unschuldigen Dritten (Belgiens) als Hilfsmittel zu einem feindlichen Angriff, ist hier nicht stichhaltig. Die Frage müsse vielmehr lauten: wenn der Angreifer sich hinter einen Dritten versteckt, welches Recht hat dann der Angegriffene diesem Dritten gegenüber? Darauf antwortet Labberton: ist diese dritte Person unschuldig, so muß sie geschont werden. Damit kommt er zu dem zweiten Punkte, der Frage der belgisch-französisch- «lglischen Konnivenz, insoweit sie sich aus den in Brüssel gefundenen Dokumenten ergibt. Sie stellen, nach seiner Ansicht, für Belgien auf jeden Fall den Beweis einer allgemeinen Verwahrlosung seiner neutralen Pflichten dar, indem sich das Königreich mit Händen und Füßen der Gegenpartei Deutschlands dermaßen verband, daß es vom Regen in die Traufe kam und nicht mehr als Opfer eines Irrtums, sondern eigener Schuld bezeichnet werden muß, so daß das allgemeine Mitgefühl mit dem Schicksal dieses Landes angesichts seiner mangelnden Selbstachtung eine erhebliche Trübung erfahren muß. Für die Beurteilung des Verhaltens Deutschlands gegenüber der belgischen Neutralität können die Brüsseler Dokumente indes doch nur als indifferent bezeichnet werden. Es kommt hier ja nicht auf die für Deutschland objektiv gegebenen Umstände an, fondern allein darauf, wie sie sich ihm subjektiv darstellten. Man muß annehmen, daß die deutsche Regierung im August ohne diese Kenntnis von den durch die Dokumente enthüllten Dingen handelte; daß sie diese schon früher kannte, ist aber vor der Hand nicht bewiesen. Kann Deutschland später diesen Beweis einwandfrei erbringen, so ist es ohne weiteres freizusprechen. Bis dahin aber kann das Urteil nur lauten: Non liquet. Das Vertrauen in Deutschlands höhere sittliche Berufung recht¬ fertigt aber wohl die Hoffnung, daß die Zukunft eine völlige Versöhnung bringen und die Geschichte schließlich doch zu einer Freisprechung gelangen wird. Aber auch dies darf nach Labbertons Auffassung nicht das letzte Wort über die belgische Frage sein. Es gibt im Leben Zustände, die sich uns als nicht direkt Beteiligten verbergen, wo wir keine objektive Kenntnis haben, wo wir uns aber auf eine Art von intuitiver, praktischer Erfahrung, gleichsam auf Grenzboten II 1915 24

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/381>, abgerufen am 22.07.2024.