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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung

Reichskanzlers mit dem britischen Botschafter im deutschen Reichstage am
4. August; es ist der alte Kampf eines neuen Inhalts gegen alte Form,
lebensvoller Wirklichkeit gegen offizielle Phrase, der Wahrheit gegen bewußte
oder auch unbewußte Lüge; und die berühmte vox pspuli bricht denn darüber
so töricht und unüberlegt den Stab mit schnellfertigen billigen Schlagwörtern
mie "scrup ok paper" usw. Die den Deutschen eigene Neigung zu "starken
Worten" begreift das dumme Volk doch nie, und mit der Dummheit . . .1
Zweifellos, bemerkt der Verfasser nebenbei, hat man gerade hierin eine der Haupt¬
ursachen für den Deutschenhaß zu suchen; die Deutschen aber sollen daraus die
Lehre ziehen, daß man eben auch zu groß sein kann, um noch verständig zu heißen.

Ist somit die Frage des Vertragsbruchs durch Deutschland abgetan, geht
Labberton nunmehr zu der belangreicheren, nicht bloß formellen, sondern materiellen
Seite des Problems, zur belgischen Gebietsverletzung, über. Hier hält er eine
Erledigung mittels der Berufung auf die Pflicht der Selbsterhaltung in höherem
sittlichen Sinne nicht für befriedigend; denn kein Volk hat, nach Kants Lehre von
Persönlichkeit, das Recht, sich auf Kosten eines anderen Volkes durchzusetzen,
wie dies auch in der Bestimmung des Haager Vertrages von 1907 zum Ausdruck
kommt: "Das Grundgebiet der neutralen Mächte ist unverletzlich usw." Deutschland
ist also auch dieser Pflicht nicht nachgekommen, und es kann nur dann verteidigt
werden, sofern nachgewiesen wird, daß eine noch höhere Pflicht als die der Selbst-
srhaltung mit derjenigen zur Achtung anderer Persönlichkeiten in Konflikt kam.

Bei der Beleuchtung dieser Frage will der Verfasser zunächst absehen von
der bekannten Unterstellung einer belgisch-französisch-englischen Konnivenz und
ferner von der unverkennbaren Tatsache, daß Deutschlands Vorgehen in Belgien
nicht die einzige Ursache des beklagenswerten Zustandes dieses Landes ist;
denn, so urteilt er, bei allen Kriegsschäden ist nie der Wille des Angreifers
allein, sondern wohl ebenso stark derjenige des Verteidigers in Betracht zu ziehen.
Also es bleibt die Schuld Deutschlands bestehen, sich an der Persönlichkeit eines
anderen Volkes vergriffen zu haben. Diese Schuld aber kennzeichnet sich für
Labberton als das Ergebnis eines sittlichen Konfliktes, eine Erkenntnis, die bei
der Beurteilung der belgischen Frage unter der Wucht der traurigen Wirkungen
bisher fast gänzlich außer acht gelassen worden ist, die aber geeignet ist, eine
Verurteilung Deutschlands saris x>nrg,8e unmöglich zu machen, vielmehr seine
Handlungsweise zu erklären oder doch wenigstens in dem erheblich mildernden
Lichte einer tragischen Schuld erscheinen zu lassen.

In längeren, außerordentlich fesselnden, scharfsinnigen Ausführungen ver¬
breitet sich der Verfasser nun über das Problem des sittlichen Konfliktes zunächst
allgemein. Wir müssen es uns leider versagen, auf diese Betrachtungen, die
als wertvolle kritische Beiträge zur Lehre von der Ethik willkommen geheißen
werden dürften, hier näher einzugehen. Wir wenden uns daher sogleich dem Teile
des Buches zu, in dem eine spezielle, für das Thema vornehmlich in Frage
kommende und zugleich die interessanteste Erscheinungsform des sittlichen Konflikts


Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung

Reichskanzlers mit dem britischen Botschafter im deutschen Reichstage am
4. August; es ist der alte Kampf eines neuen Inhalts gegen alte Form,
lebensvoller Wirklichkeit gegen offizielle Phrase, der Wahrheit gegen bewußte
oder auch unbewußte Lüge; und die berühmte vox pspuli bricht denn darüber
so töricht und unüberlegt den Stab mit schnellfertigen billigen Schlagwörtern
mie „scrup ok paper" usw. Die den Deutschen eigene Neigung zu „starken
Worten" begreift das dumme Volk doch nie, und mit der Dummheit . . .1
Zweifellos, bemerkt der Verfasser nebenbei, hat man gerade hierin eine der Haupt¬
ursachen für den Deutschenhaß zu suchen; die Deutschen aber sollen daraus die
Lehre ziehen, daß man eben auch zu groß sein kann, um noch verständig zu heißen.

Ist somit die Frage des Vertragsbruchs durch Deutschland abgetan, geht
Labberton nunmehr zu der belangreicheren, nicht bloß formellen, sondern materiellen
Seite des Problems, zur belgischen Gebietsverletzung, über. Hier hält er eine
Erledigung mittels der Berufung auf die Pflicht der Selbsterhaltung in höherem
sittlichen Sinne nicht für befriedigend; denn kein Volk hat, nach Kants Lehre von
Persönlichkeit, das Recht, sich auf Kosten eines anderen Volkes durchzusetzen,
wie dies auch in der Bestimmung des Haager Vertrages von 1907 zum Ausdruck
kommt: „Das Grundgebiet der neutralen Mächte ist unverletzlich usw." Deutschland
ist also auch dieser Pflicht nicht nachgekommen, und es kann nur dann verteidigt
werden, sofern nachgewiesen wird, daß eine noch höhere Pflicht als die der Selbst-
srhaltung mit derjenigen zur Achtung anderer Persönlichkeiten in Konflikt kam.

Bei der Beleuchtung dieser Frage will der Verfasser zunächst absehen von
der bekannten Unterstellung einer belgisch-französisch-englischen Konnivenz und
ferner von der unverkennbaren Tatsache, daß Deutschlands Vorgehen in Belgien
nicht die einzige Ursache des beklagenswerten Zustandes dieses Landes ist;
denn, so urteilt er, bei allen Kriegsschäden ist nie der Wille des Angreifers
allein, sondern wohl ebenso stark derjenige des Verteidigers in Betracht zu ziehen.
Also es bleibt die Schuld Deutschlands bestehen, sich an der Persönlichkeit eines
anderen Volkes vergriffen zu haben. Diese Schuld aber kennzeichnet sich für
Labberton als das Ergebnis eines sittlichen Konfliktes, eine Erkenntnis, die bei
der Beurteilung der belgischen Frage unter der Wucht der traurigen Wirkungen
bisher fast gänzlich außer acht gelassen worden ist, die aber geeignet ist, eine
Verurteilung Deutschlands saris x>nrg,8e unmöglich zu machen, vielmehr seine
Handlungsweise zu erklären oder doch wenigstens in dem erheblich mildernden
Lichte einer tragischen Schuld erscheinen zu lassen.

In längeren, außerordentlich fesselnden, scharfsinnigen Ausführungen ver¬
breitet sich der Verfasser nun über das Problem des sittlichen Konfliktes zunächst
allgemein. Wir müssen es uns leider versagen, auf diese Betrachtungen, die
als wertvolle kritische Beiträge zur Lehre von der Ethik willkommen geheißen
werden dürften, hier näher einzugehen. Wir wenden uns daher sogleich dem Teile
des Buches zu, in dem eine spezielle, für das Thema vornehmlich in Frage
kommende und zugleich die interessanteste Erscheinungsform des sittlichen Konflikts


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[0376] Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung Reichskanzlers mit dem britischen Botschafter im deutschen Reichstage am 4. August; es ist der alte Kampf eines neuen Inhalts gegen alte Form, lebensvoller Wirklichkeit gegen offizielle Phrase, der Wahrheit gegen bewußte oder auch unbewußte Lüge; und die berühmte vox pspuli bricht denn darüber so töricht und unüberlegt den Stab mit schnellfertigen billigen Schlagwörtern mie „scrup ok paper" usw. Die den Deutschen eigene Neigung zu „starken Worten" begreift das dumme Volk doch nie, und mit der Dummheit . . .1 Zweifellos, bemerkt der Verfasser nebenbei, hat man gerade hierin eine der Haupt¬ ursachen für den Deutschenhaß zu suchen; die Deutschen aber sollen daraus die Lehre ziehen, daß man eben auch zu groß sein kann, um noch verständig zu heißen. Ist somit die Frage des Vertragsbruchs durch Deutschland abgetan, geht Labberton nunmehr zu der belangreicheren, nicht bloß formellen, sondern materiellen Seite des Problems, zur belgischen Gebietsverletzung, über. Hier hält er eine Erledigung mittels der Berufung auf die Pflicht der Selbsterhaltung in höherem sittlichen Sinne nicht für befriedigend; denn kein Volk hat, nach Kants Lehre von Persönlichkeit, das Recht, sich auf Kosten eines anderen Volkes durchzusetzen, wie dies auch in der Bestimmung des Haager Vertrages von 1907 zum Ausdruck kommt: „Das Grundgebiet der neutralen Mächte ist unverletzlich usw." Deutschland ist also auch dieser Pflicht nicht nachgekommen, und es kann nur dann verteidigt werden, sofern nachgewiesen wird, daß eine noch höhere Pflicht als die der Selbst- srhaltung mit derjenigen zur Achtung anderer Persönlichkeiten in Konflikt kam. Bei der Beleuchtung dieser Frage will der Verfasser zunächst absehen von der bekannten Unterstellung einer belgisch-französisch-englischen Konnivenz und ferner von der unverkennbaren Tatsache, daß Deutschlands Vorgehen in Belgien nicht die einzige Ursache des beklagenswerten Zustandes dieses Landes ist; denn, so urteilt er, bei allen Kriegsschäden ist nie der Wille des Angreifers allein, sondern wohl ebenso stark derjenige des Verteidigers in Betracht zu ziehen. Also es bleibt die Schuld Deutschlands bestehen, sich an der Persönlichkeit eines anderen Volkes vergriffen zu haben. Diese Schuld aber kennzeichnet sich für Labberton als das Ergebnis eines sittlichen Konfliktes, eine Erkenntnis, die bei der Beurteilung der belgischen Frage unter der Wucht der traurigen Wirkungen bisher fast gänzlich außer acht gelassen worden ist, die aber geeignet ist, eine Verurteilung Deutschlands saris x>nrg,8e unmöglich zu machen, vielmehr seine Handlungsweise zu erklären oder doch wenigstens in dem erheblich mildernden Lichte einer tragischen Schuld erscheinen zu lassen. In längeren, außerordentlich fesselnden, scharfsinnigen Ausführungen ver¬ breitet sich der Verfasser nun über das Problem des sittlichen Konfliktes zunächst allgemein. Wir müssen es uns leider versagen, auf diese Betrachtungen, die als wertvolle kritische Beiträge zur Lehre von der Ethik willkommen geheißen werden dürften, hier näher einzugehen. Wir wenden uns daher sogleich dem Teile des Buches zu, in dem eine spezielle, für das Thema vornehmlich in Frage kommende und zugleich die interessanteste Erscheinungsform des sittlichen Konflikts

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/376>, abgerufen am 22.07.2024.