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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die europäischen Sprachen und der Arieg

Sprache gerade angefangen hatte, ihre inneren Unebenheiten zu glätten, strömte
noch einmal Fremdländisch.'s herzu, hauptsächlich Lateinisches und Griechisches,
in den Tagen, die das alte Rom und das alte Hellas unter seinem mittel¬
alterlichen Schütte hervorsteigen sahen, teilweise -- im Laufe des sechzehnten
Jahrhunderts -- auch spanisches.

Seitdem zeigt die Sprache des Briten vor allem in Wortschatz und Wort¬
formung ihr Doppelgesicht, und der Verfluß der Jahre hat die romanischen
Züge darin nicht verwischt, sondern stets kräftiger herausgearbeitet.

Alles in allem hat also England sprachlich mehr als halb das Band
durchschnitten, das es an Mutter Germania knüpfte, und sich damit -- besonders
Paris zuliebe -- den Weg versperrt nach Berlin und Wien, den Weg aber
auch zum Verständnis deutschen Wesens. Freilich ist dieser Weg für England
etwas lang, dadurch, daß er über das ihm zunächst liegende niederdeutsche
zum Hochdeutschen hinausführt.

Doch hat der skandinavische Norden diesen mühevolleren Weg zu uns
nicht gescheut! Das Dänisch-schwedisch-Norwegische liegt uns von Haus aus
durch manche Eigentümlichkeiten ferner als dem Englischen: so durch die Zer¬
störung der Beugung des Hauptworts und die dadurch notwendig gewordene
festere Wortstellung, durch die Einschränkung des grammatischen Geschlechts,
beim Zeitwort durch die Ausgleichung der Personalformen des Präsens (dänisch
nicht nur nan later "er spricht", sondern auch jeZ later "ich spreche", in der
Mehrzahl ol tale "wir sprechen", I tale "ihr sprecht"), im Satzbau durch die
Bildung von Beifügesätzen ohne einleitende Wortformen (in der Art des
englischen tre man, I 8av, was a lavier): fern liegt es uns auch durch die
übrigens dem Deutschen entnommene Umschreibung der Leideform mit bleiben
(nach der Weise des deutschen: der König bleibt geliebt, die Stadt bleibt ge¬
schützt).

Diese Kluft zwischen uns und unsern nordischen Verwandten hat der
Lauf der Geschichte stellenweise ganz gangbar überbrückt. Denn über ein Jahr¬
tausend lang strahlte deutscher Einfluß über Dänemark nach Schweden und
Norwegen aus: vom Abschluß der Völkerwanderung, wo der Niederrhein den
Nordländern über das Sachsenland hinweg die Siegfriedsage und die Wodans¬
verehrung zuführte, über Gustav Adolf hinaus, bis zu Klopstocks Ausenthalt in
Kopenhagen, wo zuerst der aus Norwegen gebürtige Dichter Holberg der
schwellenden Flut einen Damm entgegensetzte, ja noch weiter, bis zu unsern
Tagen, wo erst Geyer und Tegner sicheren Erfolg hatten in der Abwehr. Die
Hansa, die in den schwedischen Städten sogar Anteil beanspruchte an der Ver¬
waltung, einigermaßen auch die Reformation, mehr wieder der dreißigjährige
Krieg und die daraus folgende staatliche Verkoppelung mit Deutschland, gaben
dieser Strahlung ihre Richtung und ihre Kraft. Sie brachte sprachlich sogar
niederdeutsche Wortbildungsmittel nach dem Norden (so die Vorsilben der
Wörter be-gehren. ent-fallen, ver>lassen, und die Nachsilben der Wörter teil-


Die europäischen Sprachen und der Arieg

Sprache gerade angefangen hatte, ihre inneren Unebenheiten zu glätten, strömte
noch einmal Fremdländisch.'s herzu, hauptsächlich Lateinisches und Griechisches,
in den Tagen, die das alte Rom und das alte Hellas unter seinem mittel¬
alterlichen Schütte hervorsteigen sahen, teilweise — im Laufe des sechzehnten
Jahrhunderts — auch spanisches.

Seitdem zeigt die Sprache des Briten vor allem in Wortschatz und Wort¬
formung ihr Doppelgesicht, und der Verfluß der Jahre hat die romanischen
Züge darin nicht verwischt, sondern stets kräftiger herausgearbeitet.

Alles in allem hat also England sprachlich mehr als halb das Band
durchschnitten, das es an Mutter Germania knüpfte, und sich damit — besonders
Paris zuliebe — den Weg versperrt nach Berlin und Wien, den Weg aber
auch zum Verständnis deutschen Wesens. Freilich ist dieser Weg für England
etwas lang, dadurch, daß er über das ihm zunächst liegende niederdeutsche
zum Hochdeutschen hinausführt.

Doch hat der skandinavische Norden diesen mühevolleren Weg zu uns
nicht gescheut! Das Dänisch-schwedisch-Norwegische liegt uns von Haus aus
durch manche Eigentümlichkeiten ferner als dem Englischen: so durch die Zer¬
störung der Beugung des Hauptworts und die dadurch notwendig gewordene
festere Wortstellung, durch die Einschränkung des grammatischen Geschlechts,
beim Zeitwort durch die Ausgleichung der Personalformen des Präsens (dänisch
nicht nur nan later „er spricht", sondern auch jeZ later „ich spreche", in der
Mehrzahl ol tale „wir sprechen", I tale „ihr sprecht"), im Satzbau durch die
Bildung von Beifügesätzen ohne einleitende Wortformen (in der Art des
englischen tre man, I 8av, was a lavier): fern liegt es uns auch durch die
übrigens dem Deutschen entnommene Umschreibung der Leideform mit bleiben
(nach der Weise des deutschen: der König bleibt geliebt, die Stadt bleibt ge¬
schützt).

Diese Kluft zwischen uns und unsern nordischen Verwandten hat der
Lauf der Geschichte stellenweise ganz gangbar überbrückt. Denn über ein Jahr¬
tausend lang strahlte deutscher Einfluß über Dänemark nach Schweden und
Norwegen aus: vom Abschluß der Völkerwanderung, wo der Niederrhein den
Nordländern über das Sachsenland hinweg die Siegfriedsage und die Wodans¬
verehrung zuführte, über Gustav Adolf hinaus, bis zu Klopstocks Ausenthalt in
Kopenhagen, wo zuerst der aus Norwegen gebürtige Dichter Holberg der
schwellenden Flut einen Damm entgegensetzte, ja noch weiter, bis zu unsern
Tagen, wo erst Geyer und Tegner sicheren Erfolg hatten in der Abwehr. Die
Hansa, die in den schwedischen Städten sogar Anteil beanspruchte an der Ver¬
waltung, einigermaßen auch die Reformation, mehr wieder der dreißigjährige
Krieg und die daraus folgende staatliche Verkoppelung mit Deutschland, gaben
dieser Strahlung ihre Richtung und ihre Kraft. Sie brachte sprachlich sogar
niederdeutsche Wortbildungsmittel nach dem Norden (so die Vorsilben der
Wörter be-gehren. ent-fallen, ver>lassen, und die Nachsilben der Wörter teil-


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[0293] Die europäischen Sprachen und der Arieg Sprache gerade angefangen hatte, ihre inneren Unebenheiten zu glätten, strömte noch einmal Fremdländisch.'s herzu, hauptsächlich Lateinisches und Griechisches, in den Tagen, die das alte Rom und das alte Hellas unter seinem mittel¬ alterlichen Schütte hervorsteigen sahen, teilweise — im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts — auch spanisches. Seitdem zeigt die Sprache des Briten vor allem in Wortschatz und Wort¬ formung ihr Doppelgesicht, und der Verfluß der Jahre hat die romanischen Züge darin nicht verwischt, sondern stets kräftiger herausgearbeitet. Alles in allem hat also England sprachlich mehr als halb das Band durchschnitten, das es an Mutter Germania knüpfte, und sich damit — besonders Paris zuliebe — den Weg versperrt nach Berlin und Wien, den Weg aber auch zum Verständnis deutschen Wesens. Freilich ist dieser Weg für England etwas lang, dadurch, daß er über das ihm zunächst liegende niederdeutsche zum Hochdeutschen hinausführt. Doch hat der skandinavische Norden diesen mühevolleren Weg zu uns nicht gescheut! Das Dänisch-schwedisch-Norwegische liegt uns von Haus aus durch manche Eigentümlichkeiten ferner als dem Englischen: so durch die Zer¬ störung der Beugung des Hauptworts und die dadurch notwendig gewordene festere Wortstellung, durch die Einschränkung des grammatischen Geschlechts, beim Zeitwort durch die Ausgleichung der Personalformen des Präsens (dänisch nicht nur nan later „er spricht", sondern auch jeZ later „ich spreche", in der Mehrzahl ol tale „wir sprechen", I tale „ihr sprecht"), im Satzbau durch die Bildung von Beifügesätzen ohne einleitende Wortformen (in der Art des englischen tre man, I 8av, was a lavier): fern liegt es uns auch durch die übrigens dem Deutschen entnommene Umschreibung der Leideform mit bleiben (nach der Weise des deutschen: der König bleibt geliebt, die Stadt bleibt ge¬ schützt). Diese Kluft zwischen uns und unsern nordischen Verwandten hat der Lauf der Geschichte stellenweise ganz gangbar überbrückt. Denn über ein Jahr¬ tausend lang strahlte deutscher Einfluß über Dänemark nach Schweden und Norwegen aus: vom Abschluß der Völkerwanderung, wo der Niederrhein den Nordländern über das Sachsenland hinweg die Siegfriedsage und die Wodans¬ verehrung zuführte, über Gustav Adolf hinaus, bis zu Klopstocks Ausenthalt in Kopenhagen, wo zuerst der aus Norwegen gebürtige Dichter Holberg der schwellenden Flut einen Damm entgegensetzte, ja noch weiter, bis zu unsern Tagen, wo erst Geyer und Tegner sicheren Erfolg hatten in der Abwehr. Die Hansa, die in den schwedischen Städten sogar Anteil beanspruchte an der Ver¬ waltung, einigermaßen auch die Reformation, mehr wieder der dreißigjährige Krieg und die daraus folgende staatliche Verkoppelung mit Deutschland, gaben dieser Strahlung ihre Richtung und ihre Kraft. Sie brachte sprachlich sogar niederdeutsche Wortbildungsmittel nach dem Norden (so die Vorsilben der Wörter be-gehren. ent-fallen, ver>lassen, und die Nachsilben der Wörter teil-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/293>, abgerufen am 02.10.2024.