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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die europäischen Sprachen und der Arieg

Auf diese Innigkeit der Beziehungen innerhalb des romanischen Verwandt-
fchaftskreises wirft das richtige Licht erst die Tatsache, daß sich dieses selbe
Gebiet gegen das Germanische im Vergleich dazu wie durch eine hohe Mauer
abschließt, die nur in der Zeit der Völkerwanderung ein einigermaßen offenes
Tor hat für einzelne Wörter aus dem Bereich des kriegerischen und staatlichen
Lebens, der Landwirtschaft oder der Schiffahrt (aune "Elle", bateau "Schiff",
MMN "Wasen", donc "blank", leid "leid, häßlich", ricne "reich") und aus¬
nahmsweise auch für die Endung -ara, die aus Eigennamen wie Eberhard,
Reginhard-Reinhard (französisch renarä "Fuchs") übersprang auf andere Stämme
(so französisch in communarä "Mann der Kommune", vieilwl-ä "Greis"),
daneben auch für zahlreiche Personennamen, darum auch für Raymond
"Raimund", den Vornamen des Mannes "mit der geballten Faust", Poincare,
wie für Garibaldi.

Von diesen Romanen durch eine Welt geschieden ist der große, auch wieder
fest umschlossene Kreis der Slawen, nicht nur räumlich, sondern auch in Wesen,
Leben und Sitte, und nicht zum mindesten in der Sprache.

Während der Romane die Wortbiegung durch Hilfswörter ersetzt (meist
durch Präpositionen: as la töte, a la tete) und die einfachen Zeitwortsformen
des Lateins in Wortgruppen auflöst (lateinisch äonavit: französisch it a clonnö),
die freilich wieder zusammenwachsen können (it äonner-a eigentlich "er hat zu
geben"), verfügt der Slawe mit Ausnahme des Bulgaren, der sich hierin --
wie in der Anwendung des Artikels -- dem Romanen gleichstellt, noch über
sieben aus alter Zeit lebendig gebliebene Kasus und über ein ausgeprägtes
Zeitwort, allerdings in auffällig altertümlicher Form. Während nämlich das
gesamte Westeuropa vor allem die Zeitstufen hervorhebt, das Verhältnis zum
Augenblick des Sprechens, und die Vergangenheit scheidet von der Gegenwart,
schildert der Slawe eher die Art des Verlaufs einer Handlung nach Augen¬
blicklichkeit oder Dauer. Was der Franzose also ausnahmsweise durch das
Nebeneinander von Imperfekt und Perfekt andeutet (it allait -- it alla). und
was wir als Unterschied empfinden bei er wacht -- er wacht auf, das ist für
den Slawen der springende Punkt. Der Satz "Die Schwalbe flog, zum Nest"
lautet für ihn also dreifach verschieden, je nachdem er einen einmaligen ganzen
Flug im Auge hat, oder nur die Ankunft im Nest, oder einen mehrmaligen Flug.

Eine Altertümlichkeit ist auch die Beweglichkeit des Worttons der meisten
slawischen Sprachen, des Russischen, Bulgarischen, Serbokroatischen, Slowenischen
und des Kaschubischen. die hierin das Griechische übertreffen, indem sie nicht
an die letzten drei Silben des Wortes gebunden sind, sondern auch die viere-,
fünft-, sechstletze Silbe betonen können. Daher heißt bei den Serben der eine
österreichische Landesteil Bukowina (russisch Bukowina), der andere, nach einem
Herzog Stefan benannte Herzegowina; in Bosnien nennt man die Hauptstadt
Sarajewo, einen Bewohner von ihr SarajöwaL, eine Bewohnerin aber wieder
Ssrajewka. Nur das Polnische hat den Ton fast überall auf der vorletzten


Die europäischen Sprachen und der Arieg

Auf diese Innigkeit der Beziehungen innerhalb des romanischen Verwandt-
fchaftskreises wirft das richtige Licht erst die Tatsache, daß sich dieses selbe
Gebiet gegen das Germanische im Vergleich dazu wie durch eine hohe Mauer
abschließt, die nur in der Zeit der Völkerwanderung ein einigermaßen offenes
Tor hat für einzelne Wörter aus dem Bereich des kriegerischen und staatlichen
Lebens, der Landwirtschaft oder der Schiffahrt (aune „Elle", bateau „Schiff",
MMN „Wasen", donc „blank", leid „leid, häßlich", ricne „reich") und aus¬
nahmsweise auch für die Endung -ara, die aus Eigennamen wie Eberhard,
Reginhard-Reinhard (französisch renarä „Fuchs") übersprang auf andere Stämme
(so französisch in communarä „Mann der Kommune", vieilwl-ä „Greis"),
daneben auch für zahlreiche Personennamen, darum auch für Raymond
„Raimund", den Vornamen des Mannes „mit der geballten Faust", Poincare,
wie für Garibaldi.

Von diesen Romanen durch eine Welt geschieden ist der große, auch wieder
fest umschlossene Kreis der Slawen, nicht nur räumlich, sondern auch in Wesen,
Leben und Sitte, und nicht zum mindesten in der Sprache.

Während der Romane die Wortbiegung durch Hilfswörter ersetzt (meist
durch Präpositionen: as la töte, a la tete) und die einfachen Zeitwortsformen
des Lateins in Wortgruppen auflöst (lateinisch äonavit: französisch it a clonnö),
die freilich wieder zusammenwachsen können (it äonner-a eigentlich „er hat zu
geben"), verfügt der Slawe mit Ausnahme des Bulgaren, der sich hierin —
wie in der Anwendung des Artikels — dem Romanen gleichstellt, noch über
sieben aus alter Zeit lebendig gebliebene Kasus und über ein ausgeprägtes
Zeitwort, allerdings in auffällig altertümlicher Form. Während nämlich das
gesamte Westeuropa vor allem die Zeitstufen hervorhebt, das Verhältnis zum
Augenblick des Sprechens, und die Vergangenheit scheidet von der Gegenwart,
schildert der Slawe eher die Art des Verlaufs einer Handlung nach Augen¬
blicklichkeit oder Dauer. Was der Franzose also ausnahmsweise durch das
Nebeneinander von Imperfekt und Perfekt andeutet (it allait — it alla). und
was wir als Unterschied empfinden bei er wacht — er wacht auf, das ist für
den Slawen der springende Punkt. Der Satz „Die Schwalbe flog, zum Nest"
lautet für ihn also dreifach verschieden, je nachdem er einen einmaligen ganzen
Flug im Auge hat, oder nur die Ankunft im Nest, oder einen mehrmaligen Flug.

Eine Altertümlichkeit ist auch die Beweglichkeit des Worttons der meisten
slawischen Sprachen, des Russischen, Bulgarischen, Serbokroatischen, Slowenischen
und des Kaschubischen. die hierin das Griechische übertreffen, indem sie nicht
an die letzten drei Silben des Wortes gebunden sind, sondern auch die viere-,
fünft-, sechstletze Silbe betonen können. Daher heißt bei den Serben der eine
österreichische Landesteil Bukowina (russisch Bukowina), der andere, nach einem
Herzog Stefan benannte Herzegowina; in Bosnien nennt man die Hauptstadt
Sarajewo, einen Bewohner von ihr SarajöwaL, eine Bewohnerin aber wieder
Ssrajewka. Nur das Polnische hat den Ton fast überall auf der vorletzten


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[0289] Die europäischen Sprachen und der Arieg Auf diese Innigkeit der Beziehungen innerhalb des romanischen Verwandt- fchaftskreises wirft das richtige Licht erst die Tatsache, daß sich dieses selbe Gebiet gegen das Germanische im Vergleich dazu wie durch eine hohe Mauer abschließt, die nur in der Zeit der Völkerwanderung ein einigermaßen offenes Tor hat für einzelne Wörter aus dem Bereich des kriegerischen und staatlichen Lebens, der Landwirtschaft oder der Schiffahrt (aune „Elle", bateau „Schiff", MMN „Wasen", donc „blank", leid „leid, häßlich", ricne „reich") und aus¬ nahmsweise auch für die Endung -ara, die aus Eigennamen wie Eberhard, Reginhard-Reinhard (französisch renarä „Fuchs") übersprang auf andere Stämme (so französisch in communarä „Mann der Kommune", vieilwl-ä „Greis"), daneben auch für zahlreiche Personennamen, darum auch für Raymond „Raimund", den Vornamen des Mannes „mit der geballten Faust", Poincare, wie für Garibaldi. Von diesen Romanen durch eine Welt geschieden ist der große, auch wieder fest umschlossene Kreis der Slawen, nicht nur räumlich, sondern auch in Wesen, Leben und Sitte, und nicht zum mindesten in der Sprache. Während der Romane die Wortbiegung durch Hilfswörter ersetzt (meist durch Präpositionen: as la töte, a la tete) und die einfachen Zeitwortsformen des Lateins in Wortgruppen auflöst (lateinisch äonavit: französisch it a clonnö), die freilich wieder zusammenwachsen können (it äonner-a eigentlich „er hat zu geben"), verfügt der Slawe mit Ausnahme des Bulgaren, der sich hierin — wie in der Anwendung des Artikels — dem Romanen gleichstellt, noch über sieben aus alter Zeit lebendig gebliebene Kasus und über ein ausgeprägtes Zeitwort, allerdings in auffällig altertümlicher Form. Während nämlich das gesamte Westeuropa vor allem die Zeitstufen hervorhebt, das Verhältnis zum Augenblick des Sprechens, und die Vergangenheit scheidet von der Gegenwart, schildert der Slawe eher die Art des Verlaufs einer Handlung nach Augen¬ blicklichkeit oder Dauer. Was der Franzose also ausnahmsweise durch das Nebeneinander von Imperfekt und Perfekt andeutet (it allait — it alla). und was wir als Unterschied empfinden bei er wacht — er wacht auf, das ist für den Slawen der springende Punkt. Der Satz „Die Schwalbe flog, zum Nest" lautet für ihn also dreifach verschieden, je nachdem er einen einmaligen ganzen Flug im Auge hat, oder nur die Ankunft im Nest, oder einen mehrmaligen Flug. Eine Altertümlichkeit ist auch die Beweglichkeit des Worttons der meisten slawischen Sprachen, des Russischen, Bulgarischen, Serbokroatischen, Slowenischen und des Kaschubischen. die hierin das Griechische übertreffen, indem sie nicht an die letzten drei Silben des Wortes gebunden sind, sondern auch die viere-, fünft-, sechstletze Silbe betonen können. Daher heißt bei den Serben der eine österreichische Landesteil Bukowina (russisch Bukowina), der andere, nach einem Herzog Stefan benannte Herzegowina; in Bosnien nennt man die Hauptstadt Sarajewo, einen Bewohner von ihr SarajöwaL, eine Bewohnerin aber wieder Ssrajewka. Nur das Polnische hat den Ton fast überall auf der vorletzten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/289>, abgerufen am 22.07.2024.