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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Von deutscher Kultur und deutscher Freiheit

moderne und zwar eine germanische, spezieller niederdeutsche Schöpfung; sie ist
entstanden im Rheindelta durch die van Eycks, und hat in derselben örtlichen
und volklichen Umgebung auch ihre höchste Spitze erlebt in Rembrandt. Und
daß die zweite für die moderne Kultur im Gegensatz zur antiken kennzeichnende
Kunst, die große Musik, im Mutterlande der nordeuropäischen Kultur, in
Deutschland ihre höchste Blüte erfahren hat, wird ja wohl auch von den anderen
Nationen zugegeben.




Entsprechend jenem Grundprinzip germanischer Gesellschaftorganisation --
in der oben angeführten Taineschen Fassung "Zusammenwirken von Initiativen,
die von unten ausgehen," Föderalismus, Partikularismus -- sind die
germanischen Länder immer die eigentliche Heimat der Freiheit gewesen. Dessen
war man sich auch in früheren Jahrhunderten immer bewußt. Das konnte
auch nach dem Verlauf der Religionsbewegung im sechzehnten und siebzehnten
Jahrhundert gar nicht anders sein, als Tausende und Tausende von religiös
und politisch Verfolgten in Deutschland eine neue Heimat suchten und fanden;
besonders die großen Züge der Refugiös aus Frankreich nach der Aufhebung
des Edikts von Nantes und die Emigres in der Revolutionszeit, die vor der
"libsrte, e^ante, kraternitö" flohen, in deren Namen bekanntlich politische Ver¬
folgungen, Hinrichtungen und Austreibungen in einem Umfang vorkamen, wie
kaum jemals "unter dem verabscheuungswürdigen Despotismus" der Könige.

Deutschland hatte sich in den Kämpfen um die Erneuerung der christlichen
Religion für zwei Jahrhunderte politisch vernichtet. Aber es war um diesen
freilich furchtbaren Preis doch auch das Land geworden, in dem das verhältnis¬
mäßig höchste Maaß von religiöser Duldung zu finden war.

Im Don Quichote läßt Cervantes einen der flüchtigen Moriskos sagen:
"Ich begab mich nach Deutschland. Dort schien es mir. daß man noch am freiesten
leben könne. Beinahe überall in diesem Lande genießt man Gewissensfreiheit."

Die rechtliche Lage war tatsächlich nicht so günstig, daß man von Gewähr¬
leistung der Gewissensfreiheit hätte reden können. Denn der Landesherr konnte
von seinen Untertanen den Beitritt zu seiner, des Landesherrn, Konfession oder
die Auswanderung verlangen. Aber dies Recht wurde, besonders in den
protestantischen Gebieten, nicht streng gehandhabt. Und vor allem: die Viel¬
gestaltigkeit der politischen Gebilde ließ schließlich auch den, der die Heimat
verlassen mußte, immer irgendwo in deutschen Landen eine Staatsgewalt seines
Bekenntnisses finden. Dieser kulturelle Segen der Kleinstaaten wiegt ihren
politischen Unsegen nicht ganz auf. Aber er ist jedenfalls ein Umstand von größter
Bedeutung für die deutsche Geistesentwicklung und eine der wichtigsten Ursachen
der Mannigfaltigkeit und Tiefe des deutschen Geisteslebens gewesen. Christian
Wolff fand, bis ihn Friedrich der Große nach Halle wieder zurückberief, von wo er
durch Friedrich Wilhelm den Ersten verjagt worden war, in Marburg einen ganz ent-


Von deutscher Kultur und deutscher Freiheit

moderne und zwar eine germanische, spezieller niederdeutsche Schöpfung; sie ist
entstanden im Rheindelta durch die van Eycks, und hat in derselben örtlichen
und volklichen Umgebung auch ihre höchste Spitze erlebt in Rembrandt. Und
daß die zweite für die moderne Kultur im Gegensatz zur antiken kennzeichnende
Kunst, die große Musik, im Mutterlande der nordeuropäischen Kultur, in
Deutschland ihre höchste Blüte erfahren hat, wird ja wohl auch von den anderen
Nationen zugegeben.




Entsprechend jenem Grundprinzip germanischer Gesellschaftorganisation —
in der oben angeführten Taineschen Fassung „Zusammenwirken von Initiativen,
die von unten ausgehen," Föderalismus, Partikularismus — sind die
germanischen Länder immer die eigentliche Heimat der Freiheit gewesen. Dessen
war man sich auch in früheren Jahrhunderten immer bewußt. Das konnte
auch nach dem Verlauf der Religionsbewegung im sechzehnten und siebzehnten
Jahrhundert gar nicht anders sein, als Tausende und Tausende von religiös
und politisch Verfolgten in Deutschland eine neue Heimat suchten und fanden;
besonders die großen Züge der Refugiös aus Frankreich nach der Aufhebung
des Edikts von Nantes und die Emigres in der Revolutionszeit, die vor der
„libsrte, e^ante, kraternitö" flohen, in deren Namen bekanntlich politische Ver¬
folgungen, Hinrichtungen und Austreibungen in einem Umfang vorkamen, wie
kaum jemals „unter dem verabscheuungswürdigen Despotismus" der Könige.

Deutschland hatte sich in den Kämpfen um die Erneuerung der christlichen
Religion für zwei Jahrhunderte politisch vernichtet. Aber es war um diesen
freilich furchtbaren Preis doch auch das Land geworden, in dem das verhältnis¬
mäßig höchste Maaß von religiöser Duldung zu finden war.

Im Don Quichote läßt Cervantes einen der flüchtigen Moriskos sagen:
„Ich begab mich nach Deutschland. Dort schien es mir. daß man noch am freiesten
leben könne. Beinahe überall in diesem Lande genießt man Gewissensfreiheit."

Die rechtliche Lage war tatsächlich nicht so günstig, daß man von Gewähr¬
leistung der Gewissensfreiheit hätte reden können. Denn der Landesherr konnte
von seinen Untertanen den Beitritt zu seiner, des Landesherrn, Konfession oder
die Auswanderung verlangen. Aber dies Recht wurde, besonders in den
protestantischen Gebieten, nicht streng gehandhabt. Und vor allem: die Viel¬
gestaltigkeit der politischen Gebilde ließ schließlich auch den, der die Heimat
verlassen mußte, immer irgendwo in deutschen Landen eine Staatsgewalt seines
Bekenntnisses finden. Dieser kulturelle Segen der Kleinstaaten wiegt ihren
politischen Unsegen nicht ganz auf. Aber er ist jedenfalls ein Umstand von größter
Bedeutung für die deutsche Geistesentwicklung und eine der wichtigsten Ursachen
der Mannigfaltigkeit und Tiefe des deutschen Geisteslebens gewesen. Christian
Wolff fand, bis ihn Friedrich der Große nach Halle wieder zurückberief, von wo er
durch Friedrich Wilhelm den Ersten verjagt worden war, in Marburg einen ganz ent-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/280>, abgerufen am 22.07.2024.