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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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von deutscher Aultur und deutscher Freiheit

Wirkungen, die sie in der Gestalt des Phänomens Napoleon auf Deutschland
hatte, daß sie die weltbürgerlich und rein humanistisch gesinnten Deutschen durch
die äußerste Not zu politischem und nationalem Denken erzog und eine Unmenge
von Perückentümern, wie Carlyle sagt, aufklopfte, war ja faktisch nur eine
sehr ungewollte positive Wirkung. So groß die Wirkungen des Humanismus
und der Renaissance aus wissenschaftlichem und künstlerischem Gebiet auch waren,
auch diese Bewegung umfaßte schließlich doch ein engeres Gebiet, verglichen
mit der Reformation, die die Menschen an ihrem Tiefsten faßte, an ihren
ethisch-religiösen Überzeugungen, die eben doch den Kern des Persönlichen aus¬
machen und die Voraussetzung jeder wirklichen Produktivität auf allen geistigen
Gebieten bilden. "Die Menschen sind nur solange produktiv, als sie noch
religiös sind," sagte Goethe am 26. März 1814 zu Riemer; wobei freilich seine
Vorstellung von Religiössein sich weder mit der katholischen noch mit einer
anderen bestimmten konfessionellen Auffassung deckte, wenn sie solche auch ihrer¬
seits sehr wohl mit einschließen konnte.

Daß auf religiös-ethischem Gebiet die nordeuropäisch - germanische im
Gegensatz zur antik - mittelmeerländischen Kultur eine neue und selbständige
Form und nicht etwa eine bloße Ableitung der antiken Kultur darstellt, wird
niemand bestreiten wollen, trotz der vielfachen hellenistisch - semitischen Elemente
der älteren dogmatischen Formen der christlichen Bekenntnisse, der Dogmen, die
ja keineswegs immer der zutreffende Ausdruck der lebenden und wirksamen
Religion ihrer Bekenner sind. Auf staatlich - rechtlichem Gebiet sind, wie wir
sahen, trotz mehrfacher klassizistischer Rückschläge, wenigstens im Mutterlande der
nachantiken Kultur, in Deutschland, die Grundzüge des germanischen Gesellschafts¬
aufbaus erhalten geblieben, der auf die Freiheit und das Eigenleben der Teile
einerseits und anderseits auf die intensive Bindung des Individuums nicht
an die Zentralgewalt, sondern an die gewachsenen Verbände gegründet ist.
Auch auf diesem nächst dem religiös-ethischen wichtigsten Gebiet der menschlichen
Kulturarbeit stellt deshalb die moderne neuzeitige Kultur eine selbständige Form
dar und ist nicht etwa nur eine Tochter der Antike, eine "romanische" Kulturform.

Auf ästhetischem Gebiet wird man vielleicht am ehesten geneigt sein,
der antiken Kultur auch für unsere Zeit noch eine bestimmende Rolle zuzuschreiben
und insofern dem romanischen Kulturkreis den Vorrang und die Überlegenheit
gegenüber dem nordeuropäischen modernen zuzusprechen. Aber das wäre,
trotz eines gewissen Anscheins, doch ebenfalls unrichtig. Zwei Künste, Malerei
und Musik, haben sich im nordeuropäisch-modernen Kulturkreis völlig unabhängig
von der Antike entwickelt, wobei unter Malerei die Augenkunst zu verstehen
ist, deren Hauptausdrucksmittel Farben- und Lichtunterschiede sind, im Gegensatz
zu der Malerei, für die die Form noch wesentliches oder alleiniges Ausdrucks¬
mittel ist; die Sixtinafresken Michelangelos sind in diesem Sinne noch zur
reinen Formkunst zu rechnen und eher Bildnerei als Malerei. Die Malerei
nun in diesem modernen Sinn als Kunst der Farbe und des Lichts ist eine


von deutscher Aultur und deutscher Freiheit

Wirkungen, die sie in der Gestalt des Phänomens Napoleon auf Deutschland
hatte, daß sie die weltbürgerlich und rein humanistisch gesinnten Deutschen durch
die äußerste Not zu politischem und nationalem Denken erzog und eine Unmenge
von Perückentümern, wie Carlyle sagt, aufklopfte, war ja faktisch nur eine
sehr ungewollte positive Wirkung. So groß die Wirkungen des Humanismus
und der Renaissance aus wissenschaftlichem und künstlerischem Gebiet auch waren,
auch diese Bewegung umfaßte schließlich doch ein engeres Gebiet, verglichen
mit der Reformation, die die Menschen an ihrem Tiefsten faßte, an ihren
ethisch-religiösen Überzeugungen, die eben doch den Kern des Persönlichen aus¬
machen und die Voraussetzung jeder wirklichen Produktivität auf allen geistigen
Gebieten bilden. „Die Menschen sind nur solange produktiv, als sie noch
religiös sind," sagte Goethe am 26. März 1814 zu Riemer; wobei freilich seine
Vorstellung von Religiössein sich weder mit der katholischen noch mit einer
anderen bestimmten konfessionellen Auffassung deckte, wenn sie solche auch ihrer¬
seits sehr wohl mit einschließen konnte.

Daß auf religiös-ethischem Gebiet die nordeuropäisch - germanische im
Gegensatz zur antik - mittelmeerländischen Kultur eine neue und selbständige
Form und nicht etwa eine bloße Ableitung der antiken Kultur darstellt, wird
niemand bestreiten wollen, trotz der vielfachen hellenistisch - semitischen Elemente
der älteren dogmatischen Formen der christlichen Bekenntnisse, der Dogmen, die
ja keineswegs immer der zutreffende Ausdruck der lebenden und wirksamen
Religion ihrer Bekenner sind. Auf staatlich - rechtlichem Gebiet sind, wie wir
sahen, trotz mehrfacher klassizistischer Rückschläge, wenigstens im Mutterlande der
nachantiken Kultur, in Deutschland, die Grundzüge des germanischen Gesellschafts¬
aufbaus erhalten geblieben, der auf die Freiheit und das Eigenleben der Teile
einerseits und anderseits auf die intensive Bindung des Individuums nicht
an die Zentralgewalt, sondern an die gewachsenen Verbände gegründet ist.
Auch auf diesem nächst dem religiös-ethischen wichtigsten Gebiet der menschlichen
Kulturarbeit stellt deshalb die moderne neuzeitige Kultur eine selbständige Form
dar und ist nicht etwa nur eine Tochter der Antike, eine „romanische" Kulturform.

Auf ästhetischem Gebiet wird man vielleicht am ehesten geneigt sein,
der antiken Kultur auch für unsere Zeit noch eine bestimmende Rolle zuzuschreiben
und insofern dem romanischen Kulturkreis den Vorrang und die Überlegenheit
gegenüber dem nordeuropäischen modernen zuzusprechen. Aber das wäre,
trotz eines gewissen Anscheins, doch ebenfalls unrichtig. Zwei Künste, Malerei
und Musik, haben sich im nordeuropäisch-modernen Kulturkreis völlig unabhängig
von der Antike entwickelt, wobei unter Malerei die Augenkunst zu verstehen
ist, deren Hauptausdrucksmittel Farben- und Lichtunterschiede sind, im Gegensatz
zu der Malerei, für die die Form noch wesentliches oder alleiniges Ausdrucks¬
mittel ist; die Sixtinafresken Michelangelos sind in diesem Sinne noch zur
reinen Formkunst zu rechnen und eher Bildnerei als Malerei. Die Malerei
nun in diesem modernen Sinn als Kunst der Farbe und des Lichts ist eine


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[0279] von deutscher Aultur und deutscher Freiheit Wirkungen, die sie in der Gestalt des Phänomens Napoleon auf Deutschland hatte, daß sie die weltbürgerlich und rein humanistisch gesinnten Deutschen durch die äußerste Not zu politischem und nationalem Denken erzog und eine Unmenge von Perückentümern, wie Carlyle sagt, aufklopfte, war ja faktisch nur eine sehr ungewollte positive Wirkung. So groß die Wirkungen des Humanismus und der Renaissance aus wissenschaftlichem und künstlerischem Gebiet auch waren, auch diese Bewegung umfaßte schließlich doch ein engeres Gebiet, verglichen mit der Reformation, die die Menschen an ihrem Tiefsten faßte, an ihren ethisch-religiösen Überzeugungen, die eben doch den Kern des Persönlichen aus¬ machen und die Voraussetzung jeder wirklichen Produktivität auf allen geistigen Gebieten bilden. „Die Menschen sind nur solange produktiv, als sie noch religiös sind," sagte Goethe am 26. März 1814 zu Riemer; wobei freilich seine Vorstellung von Religiössein sich weder mit der katholischen noch mit einer anderen bestimmten konfessionellen Auffassung deckte, wenn sie solche auch ihrer¬ seits sehr wohl mit einschließen konnte. Daß auf religiös-ethischem Gebiet die nordeuropäisch - germanische im Gegensatz zur antik - mittelmeerländischen Kultur eine neue und selbständige Form und nicht etwa eine bloße Ableitung der antiken Kultur darstellt, wird niemand bestreiten wollen, trotz der vielfachen hellenistisch - semitischen Elemente der älteren dogmatischen Formen der christlichen Bekenntnisse, der Dogmen, die ja keineswegs immer der zutreffende Ausdruck der lebenden und wirksamen Religion ihrer Bekenner sind. Auf staatlich - rechtlichem Gebiet sind, wie wir sahen, trotz mehrfacher klassizistischer Rückschläge, wenigstens im Mutterlande der nachantiken Kultur, in Deutschland, die Grundzüge des germanischen Gesellschafts¬ aufbaus erhalten geblieben, der auf die Freiheit und das Eigenleben der Teile einerseits und anderseits auf die intensive Bindung des Individuums nicht an die Zentralgewalt, sondern an die gewachsenen Verbände gegründet ist. Auch auf diesem nächst dem religiös-ethischen wichtigsten Gebiet der menschlichen Kulturarbeit stellt deshalb die moderne neuzeitige Kultur eine selbständige Form dar und ist nicht etwa nur eine Tochter der Antike, eine „romanische" Kulturform. Auf ästhetischem Gebiet wird man vielleicht am ehesten geneigt sein, der antiken Kultur auch für unsere Zeit noch eine bestimmende Rolle zuzuschreiben und insofern dem romanischen Kulturkreis den Vorrang und die Überlegenheit gegenüber dem nordeuropäischen modernen zuzusprechen. Aber das wäre, trotz eines gewissen Anscheins, doch ebenfalls unrichtig. Zwei Künste, Malerei und Musik, haben sich im nordeuropäisch-modernen Kulturkreis völlig unabhängig von der Antike entwickelt, wobei unter Malerei die Augenkunst zu verstehen ist, deren Hauptausdrucksmittel Farben- und Lichtunterschiede sind, im Gegensatz zu der Malerei, für die die Form noch wesentliches oder alleiniges Ausdrucks¬ mittel ist; die Sixtinafresken Michelangelos sind in diesem Sinne noch zur reinen Formkunst zu rechnen und eher Bildnerei als Malerei. Die Malerei nun in diesem modernen Sinn als Kunst der Farbe und des Lichts ist eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/279>, abgerufen am 22.07.2024.