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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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von deutscher Kultur und deutscher Freiheit

doch als das allein Dauernde erkennbar hervortreten, eine Wirkung der Natur¬
rechtslehre: die Naturrechtslehre aber steht in nachweisbaren Zusammenhang mit
Renaissance und Reformation. Das "natürliche" Recht. Billigkeits- oder Ver¬
nunftsrecht ist, in so verschiedenen Gestalten und mit so mannigfachen Be¬
gründungen es im Lauf der Jahrtausende auch aufgetreten ist, schließlich nichts
anderes, als die Gegensätzlichkeit zu dem nach objektiven Merkmalen gegebenen,
in Satzungen und geschichtlichen Überlieferungen gefundenen Urteil über Recht
oder Unrecht; die eigene subjektive Meinung über Recht oder Unrecht, die nach
der Ratio der heutigen Zeit und schließlich nach dem subjektiven ethischen Wert¬
urteil des ausschlaggebenden Individuums gefundene Aussage über Recht oder
Unrecht.

Die Gefahren der rationalistischen Überhebung des Subjekts, die Unter¬
schätzung der in der Überlieferung und in dem Bestehenden verkörperten, die
individuelle Einsicht allerdings, besonders in staatlich rechtlichen Dingen häufig
überragenden Vernunft der früheren Generationen und der ganzen Gattung, find
dabei am anschaulichsten zutage getreten in der zeitlich letzten Bewegung, in der
Revolution, wo sie vielleicht befördert wurde durch die besondere, vorwiegend
verstandesmäßig dialektische Geistesart der Franzosen.

Aber die Gefahr ist an sich auch auf anderen Kulturgebieten gegeben:
die Gefahr einer Überschätzung der eigenen Zeit und des eigenen Ich, oder
auch einer Überspannung der Ansprüche an das Individuum, dem nach Dauer
und Wirkungskraft von der Natur so enge Schranken gezogen sind, daß es eben
doch an allen Enden wieder auf die Einsicht und die Mitarbeit der Mitlebenden
und Generationen vor ihm, auf deren Arbeit es weiterbaut, angewiesen ist,
und damit doch wieder aus die überindividuellen Kräfte und Zusammenhänge.
Wie wenig kann schließlich der einzelne wirklich sich geistig selbst erwerben von
den unzähligen Erkenntnissen, die er jeden Tag braucht; wie viel muß auch der
Selbständigste, einen wie unendlich überwiegenden Teil seines geistigen Besitz¬
standes muß auch das größte Genie aus der Überlieferung übernehmen. Der
Protestantismus überspannt unzweifelhaft dem Prinzip nach den individualistischen
Gedanken und vernachlässigt den Gegenpol, daß schließlich zu allem größeren
Vollbringen auch wieder eine Vereinigung der Überzeugungen nötig ist; wie es
Nietzsche, natürlich übertreibend und paradox in "Jenseits von Gut und Böse"
ausdrückt: "daß das Wesentliche, wie es scheint, im Himmel und auf Erden
ist, daß lange und in einer Richtung gehorcht werde. Dabei kommt und kam
auf die Dauer immer etwas heraus, dessentwillen es sich lohnt auf Erden
zu leben."

Daß die Reformation von jenen drei Bewegungen die am tiefsten wirkende
und am weitesten reichende war, kann nicht zweifelhaft sein. Die französische
Revolution mit ihren Maßlosigkeiten und ihrem widergeschichtlichen Radikalismus
hat infolge der durch sie hervorgerufenen, begründeten Rückschläge der Sache
einer vernünftigen politischen Freiheit mehr geschadet als genützt. Die großen


von deutscher Kultur und deutscher Freiheit

doch als das allein Dauernde erkennbar hervortreten, eine Wirkung der Natur¬
rechtslehre: die Naturrechtslehre aber steht in nachweisbaren Zusammenhang mit
Renaissance und Reformation. Das „natürliche" Recht. Billigkeits- oder Ver¬
nunftsrecht ist, in so verschiedenen Gestalten und mit so mannigfachen Be¬
gründungen es im Lauf der Jahrtausende auch aufgetreten ist, schließlich nichts
anderes, als die Gegensätzlichkeit zu dem nach objektiven Merkmalen gegebenen,
in Satzungen und geschichtlichen Überlieferungen gefundenen Urteil über Recht
oder Unrecht; die eigene subjektive Meinung über Recht oder Unrecht, die nach
der Ratio der heutigen Zeit und schließlich nach dem subjektiven ethischen Wert¬
urteil des ausschlaggebenden Individuums gefundene Aussage über Recht oder
Unrecht.

Die Gefahren der rationalistischen Überhebung des Subjekts, die Unter¬
schätzung der in der Überlieferung und in dem Bestehenden verkörperten, die
individuelle Einsicht allerdings, besonders in staatlich rechtlichen Dingen häufig
überragenden Vernunft der früheren Generationen und der ganzen Gattung, find
dabei am anschaulichsten zutage getreten in der zeitlich letzten Bewegung, in der
Revolution, wo sie vielleicht befördert wurde durch die besondere, vorwiegend
verstandesmäßig dialektische Geistesart der Franzosen.

Aber die Gefahr ist an sich auch auf anderen Kulturgebieten gegeben:
die Gefahr einer Überschätzung der eigenen Zeit und des eigenen Ich, oder
auch einer Überspannung der Ansprüche an das Individuum, dem nach Dauer
und Wirkungskraft von der Natur so enge Schranken gezogen sind, daß es eben
doch an allen Enden wieder auf die Einsicht und die Mitarbeit der Mitlebenden
und Generationen vor ihm, auf deren Arbeit es weiterbaut, angewiesen ist,
und damit doch wieder aus die überindividuellen Kräfte und Zusammenhänge.
Wie wenig kann schließlich der einzelne wirklich sich geistig selbst erwerben von
den unzähligen Erkenntnissen, die er jeden Tag braucht; wie viel muß auch der
Selbständigste, einen wie unendlich überwiegenden Teil seines geistigen Besitz¬
standes muß auch das größte Genie aus der Überlieferung übernehmen. Der
Protestantismus überspannt unzweifelhaft dem Prinzip nach den individualistischen
Gedanken und vernachlässigt den Gegenpol, daß schließlich zu allem größeren
Vollbringen auch wieder eine Vereinigung der Überzeugungen nötig ist; wie es
Nietzsche, natürlich übertreibend und paradox in „Jenseits von Gut und Böse"
ausdrückt: „daß das Wesentliche, wie es scheint, im Himmel und auf Erden
ist, daß lange und in einer Richtung gehorcht werde. Dabei kommt und kam
auf die Dauer immer etwas heraus, dessentwillen es sich lohnt auf Erden
zu leben."

Daß die Reformation von jenen drei Bewegungen die am tiefsten wirkende
und am weitesten reichende war, kann nicht zweifelhaft sein. Die französische
Revolution mit ihren Maßlosigkeiten und ihrem widergeschichtlichen Radikalismus
hat infolge der durch sie hervorgerufenen, begründeten Rückschläge der Sache
einer vernünftigen politischen Freiheit mehr geschadet als genützt. Die großen


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[0278] von deutscher Kultur und deutscher Freiheit doch als das allein Dauernde erkennbar hervortreten, eine Wirkung der Natur¬ rechtslehre: die Naturrechtslehre aber steht in nachweisbaren Zusammenhang mit Renaissance und Reformation. Das „natürliche" Recht. Billigkeits- oder Ver¬ nunftsrecht ist, in so verschiedenen Gestalten und mit so mannigfachen Be¬ gründungen es im Lauf der Jahrtausende auch aufgetreten ist, schließlich nichts anderes, als die Gegensätzlichkeit zu dem nach objektiven Merkmalen gegebenen, in Satzungen und geschichtlichen Überlieferungen gefundenen Urteil über Recht oder Unrecht; die eigene subjektive Meinung über Recht oder Unrecht, die nach der Ratio der heutigen Zeit und schließlich nach dem subjektiven ethischen Wert¬ urteil des ausschlaggebenden Individuums gefundene Aussage über Recht oder Unrecht. Die Gefahren der rationalistischen Überhebung des Subjekts, die Unter¬ schätzung der in der Überlieferung und in dem Bestehenden verkörperten, die individuelle Einsicht allerdings, besonders in staatlich rechtlichen Dingen häufig überragenden Vernunft der früheren Generationen und der ganzen Gattung, find dabei am anschaulichsten zutage getreten in der zeitlich letzten Bewegung, in der Revolution, wo sie vielleicht befördert wurde durch die besondere, vorwiegend verstandesmäßig dialektische Geistesart der Franzosen. Aber die Gefahr ist an sich auch auf anderen Kulturgebieten gegeben: die Gefahr einer Überschätzung der eigenen Zeit und des eigenen Ich, oder auch einer Überspannung der Ansprüche an das Individuum, dem nach Dauer und Wirkungskraft von der Natur so enge Schranken gezogen sind, daß es eben doch an allen Enden wieder auf die Einsicht und die Mitarbeit der Mitlebenden und Generationen vor ihm, auf deren Arbeit es weiterbaut, angewiesen ist, und damit doch wieder aus die überindividuellen Kräfte und Zusammenhänge. Wie wenig kann schließlich der einzelne wirklich sich geistig selbst erwerben von den unzähligen Erkenntnissen, die er jeden Tag braucht; wie viel muß auch der Selbständigste, einen wie unendlich überwiegenden Teil seines geistigen Besitz¬ standes muß auch das größte Genie aus der Überlieferung übernehmen. Der Protestantismus überspannt unzweifelhaft dem Prinzip nach den individualistischen Gedanken und vernachlässigt den Gegenpol, daß schließlich zu allem größeren Vollbringen auch wieder eine Vereinigung der Überzeugungen nötig ist; wie es Nietzsche, natürlich übertreibend und paradox in „Jenseits von Gut und Böse" ausdrückt: „daß das Wesentliche, wie es scheint, im Himmel und auf Erden ist, daß lange und in einer Richtung gehorcht werde. Dabei kommt und kam auf die Dauer immer etwas heraus, dessentwillen es sich lohnt auf Erden zu leben." Daß die Reformation von jenen drei Bewegungen die am tiefsten wirkende und am weitesten reichende war, kann nicht zweifelhaft sein. Die französische Revolution mit ihren Maßlosigkeiten und ihrem widergeschichtlichen Radikalismus hat infolge der durch sie hervorgerufenen, begründeten Rückschläge der Sache einer vernünftigen politischen Freiheit mehr geschadet als genützt. Die großen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/278>, abgerufen am 22.07.2024.