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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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von deutscher Kultur und deutscher Freiheit

Kulturentwicklung hat die Anerkennung des Individuums gebracht oder auch
die Idee der persönlichen Freiheit.

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ancienns8" sagt der französische Historiker und Staatsmann Guizot in seiner
dei8toirs as la civili8ation en Lurope.

Was moderne Franzosen etwa in grenzenloser Unkenntnis unserer älteren
Geschichte als den angeborenen Sinn des Deutschen für Uniformierung und
Disziplin bezeichnen, ist. wie Fürst Bülow einmal gegenüber dem französischen
Journalisten Huret ausgeführt hat, nur die notwendige, durch die jahrhunderte¬
langen politischen Mißgeschicke endlich anerzogene Schranke unseres extremen
Individualismus in allen geistigen Dingen, der, auch auf politische Verhältnisse
übertragen, unserer Nation so furchtbare Leiden verursacht hat und so schließlich
als eine Anpasfungserscheinung im Daseinskampf jene Gegengewichte hervor¬
gerufen hat.

Nach der französischen Revolution es hat die herrschende liberal-konstitutionelle
Orthodoxie durch beharrliche Geschichtsfälschung und Wortgläubigkeit -- denn
mit Worten läßt sich trefflich "ein System bereiten" während die Beobachtung
der wirklichen Zustände und Tatsachen stets eine schwerere und entsagungs reichere
Arbeit ist -- zu erreichen verstanden, daß in der öffentlichen Meinung die
Westmächte und ihre Zustände als die eigentlichen Vertreter und wahren Vor¬
bilder der politischen Freiheit galten. Aber diese Meinung ist unrichtig, wie
Vieles, ein Pessimist würde sagen, wie das meiste, was auf dem geistigen
Niveau der Zeitungen und Parteien allgemein behauptet und geglaubt wird.
Die Franzosen haben anscheinend eine gewisse Liebe zur politischen Freiheit
wenigstens in den letzten hundert Jahren betätigt. Aber diese Liebe ist ent¬
schieden unglücklich und unerwidert. Das bezeugen nicht nur ihre bedeutendsten
Geschichtsschreiber, Taine, Tocqueville, Roman, Guizot, sondern noch einleuch¬
tender die Tatsachen. Die Galloromanen sind bei ihrem Versuch zu besseren
politischen Zuständen zu gelangen, statt zur Freiheit in kürzester Frist zur
äußersten Tyrannei, in die Schreckensherrschaft, gelangt, der sie dann bald die
schärfste Militärdiktatur, unter Napoleon vorzogen. Und sie waren vorher,
im Alten Regime, in einen Absolutismus geraten, der sehr viel schärfer
absolutistisch und willkürlicher war, als etwa die Regierungsform der deutschen
Einzelstaaten in der sogenannten absolutistischen Zeit. Nur die Einzelstaaten
können ja überhaupt hier herangezogen werden; im alten deutschen Reich war
die Regierungsgewalt ja keineswegs unbeschränkt, sondern in sehr genaue rechtliche
Schranken gebunden. Ja man kann sagen, die alte Reichsgewalt ist an dem Über¬
maß der rechtlichen Schranken zugrunde gegangen, an ihrem Parlamentarismus;
daran daß alle wesentlichen politischen Befugnisse schließlich beim Parlament,


von deutscher Kultur und deutscher Freiheit

Kulturentwicklung hat die Anerkennung des Individuums gebracht oder auch
die Idee der persönlichen Freiheit.

„L'est par !«8 barbares xermain8, que le 8sntiment ac w per8pralles,
c!e la 8pontaneitö numains 6an8 8vri libre äeveloppement 3 ses introäuit
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ancienns8" sagt der französische Historiker und Staatsmann Guizot in seiner
dei8toirs as la civili8ation en Lurope.

Was moderne Franzosen etwa in grenzenloser Unkenntnis unserer älteren
Geschichte als den angeborenen Sinn des Deutschen für Uniformierung und
Disziplin bezeichnen, ist. wie Fürst Bülow einmal gegenüber dem französischen
Journalisten Huret ausgeführt hat, nur die notwendige, durch die jahrhunderte¬
langen politischen Mißgeschicke endlich anerzogene Schranke unseres extremen
Individualismus in allen geistigen Dingen, der, auch auf politische Verhältnisse
übertragen, unserer Nation so furchtbare Leiden verursacht hat und so schließlich
als eine Anpasfungserscheinung im Daseinskampf jene Gegengewichte hervor¬
gerufen hat.

Nach der französischen Revolution es hat die herrschende liberal-konstitutionelle
Orthodoxie durch beharrliche Geschichtsfälschung und Wortgläubigkeit — denn
mit Worten läßt sich trefflich „ein System bereiten" während die Beobachtung
der wirklichen Zustände und Tatsachen stets eine schwerere und entsagungs reichere
Arbeit ist — zu erreichen verstanden, daß in der öffentlichen Meinung die
Westmächte und ihre Zustände als die eigentlichen Vertreter und wahren Vor¬
bilder der politischen Freiheit galten. Aber diese Meinung ist unrichtig, wie
Vieles, ein Pessimist würde sagen, wie das meiste, was auf dem geistigen
Niveau der Zeitungen und Parteien allgemein behauptet und geglaubt wird.
Die Franzosen haben anscheinend eine gewisse Liebe zur politischen Freiheit
wenigstens in den letzten hundert Jahren betätigt. Aber diese Liebe ist ent¬
schieden unglücklich und unerwidert. Das bezeugen nicht nur ihre bedeutendsten
Geschichtsschreiber, Taine, Tocqueville, Roman, Guizot, sondern noch einleuch¬
tender die Tatsachen. Die Galloromanen sind bei ihrem Versuch zu besseren
politischen Zuständen zu gelangen, statt zur Freiheit in kürzester Frist zur
äußersten Tyrannei, in die Schreckensherrschaft, gelangt, der sie dann bald die
schärfste Militärdiktatur, unter Napoleon vorzogen. Und sie waren vorher,
im Alten Regime, in einen Absolutismus geraten, der sehr viel schärfer
absolutistisch und willkürlicher war, als etwa die Regierungsform der deutschen
Einzelstaaten in der sogenannten absolutistischen Zeit. Nur die Einzelstaaten
können ja überhaupt hier herangezogen werden; im alten deutschen Reich war
die Regierungsgewalt ja keineswegs unbeschränkt, sondern in sehr genaue rechtliche
Schranken gebunden. Ja man kann sagen, die alte Reichsgewalt ist an dem Über¬
maß der rechtlichen Schranken zugrunde gegangen, an ihrem Parlamentarismus;
daran daß alle wesentlichen politischen Befugnisse schließlich beim Parlament,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/252>, abgerufen am 03.07.2024.