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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Verdeutschungen

selbstherrlich die neue Bedeutung aufstempelt, vorausgesetzt, daß sie jung genug
ist, Sprachwillen zu haben und ihn durchzusetzen. Sind wir wirklich schon so
greisenhaft, daß uns die geistige Biegsamkeit dafür fehlt, den Sprung vom
Alten zum Neuen zu wagen, der allerdings bei solchen Umprägungen erfordert
wird? Muß immer alles in Buchstaben gerinnen, was in dem flüssigen
Begriff gebunden liegt, und darf es den armen Hirnchen garnicht zugemutet
werden, sich auch da, wo Worte fehlen, etwas denken zu müssen, das heißt
gewohnheitsmäßig den einen Begriff im andern mitschwingen zu lassen, ohne
daß er eine schwarz-auf-weiße Gedächtnishilfe hat? Auf unseren Kriegs¬
kranken zurückzukommen, so ist hier entweder der Krieg oder der Kranke vom
Übel. Der Krieg als Merkmal ist nicht "deutlich" genug, da glücklicherweise
mehr "Krieger" heil als invalid zurückkehren. Auch ist das altertümliche Wort,
das sozusagen in die poetische Vorratskammer gestellt wurde, bereits in wenig
glücklicher Weise von den "Kriegervereinen" aufgegriffen worden. Bleibt also
der Kranke, der entschieden im Begriff invalid den Haupttor trägt. Kranker
selbst ist als Gattungsbegriff wieder ganz farblos. Aber wir haben dafür
ebenso gewissermaßen in poetischen Ruhestand versetzt ein anderes Wort auf
Kammer: "Der sieche." Hier sehe ich jedoch schon wieder die philologischen
Gemüter ihr zartes Gewissen damit beunruhigen, daß umgekehrt krank ursprünglich
nach dem kriegerischen Sinn unserer Vorfahren mit Selbstverständlichkeit den
Wundcharakter einschloß, wie unsere schöne Jägersprache noch das "kranke" (an¬
geschossene) Reh bewahrt hat, während gerade siech die allgemeine Bezeichnung
für alle Krankheiten im Ziviloerhältnis war ("Siechenhaus" ist der Vorgänger
unserer Krankenhäuser). Da spiele ich nun den letzten Trumpf aus: "der
Wunde." Es enthält bei gutem Willen alles, was man will: die kriegerische
Veranlassung, die verminderte Gesundheit und ein stillschweigendes Hut-ab!
Denn für uns sind Wunden Ehrenmale. Und über diesen Wertsinn hinweg,
der in jedem deutschen Herzen unwiderstehlich mitklingt, kann man das Wort
auch unbedenklich auf solche Kriegskranke übertragen, die ohne "verwundet"
zu sein durch den Krieg an der Gesundheit Schaden litten, wie Geisteskranke,
Rheumatiker usw. Die Ehre, ihren gesunden Leib dem Vaterland geopfert zu
haben, gehört ihnen allen. Dabei läßt "Wunder" in der Stammform wund
schöne und kräftige Zusammensetzungen zu: "Wundgeld" (Invalidenrente),
"Wundendank", "Ganzwunde", "Wundenheim" usw.

Von diesem Grundsatz des einfachsten aber stärksten Leitmotivs aus können
wir auch hoffen, ein Wort wie Interesse zu erschüttern, das uns immer wieder
als unübersetzbar entgegengehalten wird. Freilich wenn man es übersetzen will,
kommen wir höchstens auf Teilnahme, teilnehmen, wobei uns bereits der Atem
für die Form "interessant" ausgeht. Außerdem hat Teilnahme immer einen
bedauerlichen Klang und für manche Fälle zu wenig kühle Berechnung. Wenn
ich einem Kaufmann sagen will: ich interessiere mich' für Ihre Artikel und
bitte um Katalog, und würde schreiben: "Ich nehme an ihren Waren teil und


Verdeutschungen

selbstherrlich die neue Bedeutung aufstempelt, vorausgesetzt, daß sie jung genug
ist, Sprachwillen zu haben und ihn durchzusetzen. Sind wir wirklich schon so
greisenhaft, daß uns die geistige Biegsamkeit dafür fehlt, den Sprung vom
Alten zum Neuen zu wagen, der allerdings bei solchen Umprägungen erfordert
wird? Muß immer alles in Buchstaben gerinnen, was in dem flüssigen
Begriff gebunden liegt, und darf es den armen Hirnchen garnicht zugemutet
werden, sich auch da, wo Worte fehlen, etwas denken zu müssen, das heißt
gewohnheitsmäßig den einen Begriff im andern mitschwingen zu lassen, ohne
daß er eine schwarz-auf-weiße Gedächtnishilfe hat? Auf unseren Kriegs¬
kranken zurückzukommen, so ist hier entweder der Krieg oder der Kranke vom
Übel. Der Krieg als Merkmal ist nicht „deutlich" genug, da glücklicherweise
mehr „Krieger" heil als invalid zurückkehren. Auch ist das altertümliche Wort,
das sozusagen in die poetische Vorratskammer gestellt wurde, bereits in wenig
glücklicher Weise von den „Kriegervereinen" aufgegriffen worden. Bleibt also
der Kranke, der entschieden im Begriff invalid den Haupttor trägt. Kranker
selbst ist als Gattungsbegriff wieder ganz farblos. Aber wir haben dafür
ebenso gewissermaßen in poetischen Ruhestand versetzt ein anderes Wort auf
Kammer: „Der sieche." Hier sehe ich jedoch schon wieder die philologischen
Gemüter ihr zartes Gewissen damit beunruhigen, daß umgekehrt krank ursprünglich
nach dem kriegerischen Sinn unserer Vorfahren mit Selbstverständlichkeit den
Wundcharakter einschloß, wie unsere schöne Jägersprache noch das „kranke" (an¬
geschossene) Reh bewahrt hat, während gerade siech die allgemeine Bezeichnung
für alle Krankheiten im Ziviloerhältnis war („Siechenhaus" ist der Vorgänger
unserer Krankenhäuser). Da spiele ich nun den letzten Trumpf aus: „der
Wunde." Es enthält bei gutem Willen alles, was man will: die kriegerische
Veranlassung, die verminderte Gesundheit und ein stillschweigendes Hut-ab!
Denn für uns sind Wunden Ehrenmale. Und über diesen Wertsinn hinweg,
der in jedem deutschen Herzen unwiderstehlich mitklingt, kann man das Wort
auch unbedenklich auf solche Kriegskranke übertragen, die ohne „verwundet"
zu sein durch den Krieg an der Gesundheit Schaden litten, wie Geisteskranke,
Rheumatiker usw. Die Ehre, ihren gesunden Leib dem Vaterland geopfert zu
haben, gehört ihnen allen. Dabei läßt „Wunder" in der Stammform wund
schöne und kräftige Zusammensetzungen zu: „Wundgeld" (Invalidenrente),
„Wundendank", „Ganzwunde", „Wundenheim" usw.

Von diesem Grundsatz des einfachsten aber stärksten Leitmotivs aus können
wir auch hoffen, ein Wort wie Interesse zu erschüttern, das uns immer wieder
als unübersetzbar entgegengehalten wird. Freilich wenn man es übersetzen will,
kommen wir höchstens auf Teilnahme, teilnehmen, wobei uns bereits der Atem
für die Form „interessant" ausgeht. Außerdem hat Teilnahme immer einen
bedauerlichen Klang und für manche Fälle zu wenig kühle Berechnung. Wenn
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bitte um Katalog, und würde schreiben: „Ich nehme an ihren Waren teil und


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[0229] Verdeutschungen selbstherrlich die neue Bedeutung aufstempelt, vorausgesetzt, daß sie jung genug ist, Sprachwillen zu haben und ihn durchzusetzen. Sind wir wirklich schon so greisenhaft, daß uns die geistige Biegsamkeit dafür fehlt, den Sprung vom Alten zum Neuen zu wagen, der allerdings bei solchen Umprägungen erfordert wird? Muß immer alles in Buchstaben gerinnen, was in dem flüssigen Begriff gebunden liegt, und darf es den armen Hirnchen garnicht zugemutet werden, sich auch da, wo Worte fehlen, etwas denken zu müssen, das heißt gewohnheitsmäßig den einen Begriff im andern mitschwingen zu lassen, ohne daß er eine schwarz-auf-weiße Gedächtnishilfe hat? Auf unseren Kriegs¬ kranken zurückzukommen, so ist hier entweder der Krieg oder der Kranke vom Übel. Der Krieg als Merkmal ist nicht „deutlich" genug, da glücklicherweise mehr „Krieger" heil als invalid zurückkehren. Auch ist das altertümliche Wort, das sozusagen in die poetische Vorratskammer gestellt wurde, bereits in wenig glücklicher Weise von den „Kriegervereinen" aufgegriffen worden. Bleibt also der Kranke, der entschieden im Begriff invalid den Haupttor trägt. Kranker selbst ist als Gattungsbegriff wieder ganz farblos. Aber wir haben dafür ebenso gewissermaßen in poetischen Ruhestand versetzt ein anderes Wort auf Kammer: „Der sieche." Hier sehe ich jedoch schon wieder die philologischen Gemüter ihr zartes Gewissen damit beunruhigen, daß umgekehrt krank ursprünglich nach dem kriegerischen Sinn unserer Vorfahren mit Selbstverständlichkeit den Wundcharakter einschloß, wie unsere schöne Jägersprache noch das „kranke" (an¬ geschossene) Reh bewahrt hat, während gerade siech die allgemeine Bezeichnung für alle Krankheiten im Ziviloerhältnis war („Siechenhaus" ist der Vorgänger unserer Krankenhäuser). Da spiele ich nun den letzten Trumpf aus: „der Wunde." Es enthält bei gutem Willen alles, was man will: die kriegerische Veranlassung, die verminderte Gesundheit und ein stillschweigendes Hut-ab! Denn für uns sind Wunden Ehrenmale. Und über diesen Wertsinn hinweg, der in jedem deutschen Herzen unwiderstehlich mitklingt, kann man das Wort auch unbedenklich auf solche Kriegskranke übertragen, die ohne „verwundet" zu sein durch den Krieg an der Gesundheit Schaden litten, wie Geisteskranke, Rheumatiker usw. Die Ehre, ihren gesunden Leib dem Vaterland geopfert zu haben, gehört ihnen allen. Dabei läßt „Wunder" in der Stammform wund schöne und kräftige Zusammensetzungen zu: „Wundgeld" (Invalidenrente), „Wundendank", „Ganzwunde", „Wundenheim" usw. Von diesem Grundsatz des einfachsten aber stärksten Leitmotivs aus können wir auch hoffen, ein Wort wie Interesse zu erschüttern, das uns immer wieder als unübersetzbar entgegengehalten wird. Freilich wenn man es übersetzen will, kommen wir höchstens auf Teilnahme, teilnehmen, wobei uns bereits der Atem für die Form „interessant" ausgeht. Außerdem hat Teilnahme immer einen bedauerlichen Klang und für manche Fälle zu wenig kühle Berechnung. Wenn ich einem Kaufmann sagen will: ich interessiere mich' für Ihre Artikel und bitte um Katalog, und würde schreiben: „Ich nehme an ihren Waren teil und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/229>, abgerufen am 22.07.2024.