Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.Der Zweck in der Politik sogenannten Heterogonie der Zwecke, welche das gesamte geistesgeschichtliche Was hier im kleinen gilt, spielt sich in dem jahrtausendelangen Werde" 18-
Der Zweck in der Politik sogenannten Heterogonie der Zwecke, welche das gesamte geistesgeschichtliche Was hier im kleinen gilt, spielt sich in dem jahrtausendelangen Werde« 18-
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0207" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323746"/> <fw type="header" place="top"> Der Zweck in der Politik</fw><lb/> <p xml:id="ID_663" prev="#ID_662"> sogenannten Heterogonie der Zwecke, welche das gesamte geistesgeschichtliche<lb/> Werden durchzieht. Wer kennt nicht die vielen Fälle aus seinem eigenen Leben,<lb/> wo der ursprünglich allein begehrte Zweck, der Grundwille, gar bald unvor¬<lb/> hergesehene, ja für den Fall, daß sie vorhergesehen wären, unerwünschte<lb/> Wirkungen und Nebeneffekte zur Folge hat, die dann später vom Willen bewußt<lb/> aufgenommen und zum Hauptzweck gemacht werden können? Der Schulbub,<lb/> Äer nur, um der Strafe zu entrinnen, in die Schule geht, weiß nicht, daß die<lb/> Vorsehung der Eltern und Lehrer in ihm die Grundlage für ganz andere<lb/> Zwecke legt, die später in ihm auftauchen werden. Bald geht er zur Schule<lb/> mit dem ausgesprochenen Zweck, sich dereinst selbständig ernähren zu können.<lb/> Und gerade die Besten der mit dieser Absicht die Universität aufsuchenden<lb/> Studierenden geben auch diesen Zweck als obersten Gesichtspunkt auf und stellen<lb/> bie selbstlose Arbeit im Dienst der Wissenschaft obenan. Meistens freilich spielt<lb/> die Natur jene Art „Vorsehung". Das junge Mädchen im Backfischalter, dessen<lb/> keimende Liebesneigung keinen anderen Zweck als das persönliche Glück kennt,<lb/> ahnt noch nichts von der Fülle von Zwecksetzungen, die sich in Muttersorgen<lb/> und Familienpflichten dermaleinst aus jenem simplen Grundwillen ergeben<lb/> werden und von welchen aus — nicht umgekehrt! — erst dieser Grundwille,<lb/> die Vergangenheit, teleologisch zu deuten ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_664"> Was hier im kleinen gilt, spielt sich in dem jahrtausendelangen Werde«<lb/> Ach Volkes und des Volksgeistes riesengroß ab. Wenn wir uns zu einer<lb/> idealistischen Weltanschauung bekennen, so werden wir das „Wesen", das Wert¬<lb/> volle eines Volkes nicht in seiner physiologischen Zusammensetzung, sondern in<lb/> seinem Geist suchen müssen. Der Geist eines Volkes aber offenbart sich in der<lb/> Fülle und Qualität seiner Kulturzwecke. Haben wir nun erkannt, daß die<lb/> seelische Energie ganz unverhältnismäßig wächst, daß der Reichtum der Kultur¬<lb/> zwecke geschichtlich aus dürftigen, jeder Geistigkeit baren Urmotiven, ja zuletzt<lb/> und ursprünglich aus einem psychischen Nichts hervorgegangen ist, dann wissen<lb/> wir, daß der Volksgeist an dem relativen Ende der Entwicklung, nicht an<lb/> ihrem Anfang, zu suchen ist. „Das Deutschtum in physiologischer Konstanz der<lb/> Rasse zu suchen, ist grober materialistischer Naturdienst und Verachtung des<lb/> Geistes" (Adolf Lasson, Deutsche Art und deutsche Bildung Seite 19). Und<lb/> in der Tat hat die heutige deutsche Politik mit derjenigen zu Hermanns oder<lb/> Chlodwigs Zeiten so wenig gemeinsam wie die Zwecke in der Lebensführung<lb/> bes Mannes mit der seiner Kindheit. Ja es wäre eine schlechte Anerkennung,<lb/> hier keine Diskrepanz, keine scharfen Gegensätze zu erblicken! Die nackten<lb/> Rasseninstinkte, wenigstens innerhalb der europäischen Menschheit, sind nur auf<lb/> primitiver Kulturstufe und im Naturzustande wirksam. Wenn wir heute vom<lb/> „deutschen Volk" sprechen, so meinen wir etwas anderes als die Summe der<lb/> blauäugigen, blondhaariger usw. Menschen. Wir gebrauchen dann vielmehr<lb/> einen Begriff, von dessen Gerüst einiges stehen geblieben ist, der aber im Laufe<lb/> Äer Zeit seinen Inhalt gänzlich geändert hat.</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 18-</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0207]
Der Zweck in der Politik
sogenannten Heterogonie der Zwecke, welche das gesamte geistesgeschichtliche
Werden durchzieht. Wer kennt nicht die vielen Fälle aus seinem eigenen Leben,
wo der ursprünglich allein begehrte Zweck, der Grundwille, gar bald unvor¬
hergesehene, ja für den Fall, daß sie vorhergesehen wären, unerwünschte
Wirkungen und Nebeneffekte zur Folge hat, die dann später vom Willen bewußt
aufgenommen und zum Hauptzweck gemacht werden können? Der Schulbub,
Äer nur, um der Strafe zu entrinnen, in die Schule geht, weiß nicht, daß die
Vorsehung der Eltern und Lehrer in ihm die Grundlage für ganz andere
Zwecke legt, die später in ihm auftauchen werden. Bald geht er zur Schule
mit dem ausgesprochenen Zweck, sich dereinst selbständig ernähren zu können.
Und gerade die Besten der mit dieser Absicht die Universität aufsuchenden
Studierenden geben auch diesen Zweck als obersten Gesichtspunkt auf und stellen
bie selbstlose Arbeit im Dienst der Wissenschaft obenan. Meistens freilich spielt
die Natur jene Art „Vorsehung". Das junge Mädchen im Backfischalter, dessen
keimende Liebesneigung keinen anderen Zweck als das persönliche Glück kennt,
ahnt noch nichts von der Fülle von Zwecksetzungen, die sich in Muttersorgen
und Familienpflichten dermaleinst aus jenem simplen Grundwillen ergeben
werden und von welchen aus — nicht umgekehrt! — erst dieser Grundwille,
die Vergangenheit, teleologisch zu deuten ist.
Was hier im kleinen gilt, spielt sich in dem jahrtausendelangen Werde«
Ach Volkes und des Volksgeistes riesengroß ab. Wenn wir uns zu einer
idealistischen Weltanschauung bekennen, so werden wir das „Wesen", das Wert¬
volle eines Volkes nicht in seiner physiologischen Zusammensetzung, sondern in
seinem Geist suchen müssen. Der Geist eines Volkes aber offenbart sich in der
Fülle und Qualität seiner Kulturzwecke. Haben wir nun erkannt, daß die
seelische Energie ganz unverhältnismäßig wächst, daß der Reichtum der Kultur¬
zwecke geschichtlich aus dürftigen, jeder Geistigkeit baren Urmotiven, ja zuletzt
und ursprünglich aus einem psychischen Nichts hervorgegangen ist, dann wissen
wir, daß der Volksgeist an dem relativen Ende der Entwicklung, nicht an
ihrem Anfang, zu suchen ist. „Das Deutschtum in physiologischer Konstanz der
Rasse zu suchen, ist grober materialistischer Naturdienst und Verachtung des
Geistes" (Adolf Lasson, Deutsche Art und deutsche Bildung Seite 19). Und
in der Tat hat die heutige deutsche Politik mit derjenigen zu Hermanns oder
Chlodwigs Zeiten so wenig gemeinsam wie die Zwecke in der Lebensführung
bes Mannes mit der seiner Kindheit. Ja es wäre eine schlechte Anerkennung,
hier keine Diskrepanz, keine scharfen Gegensätze zu erblicken! Die nackten
Rasseninstinkte, wenigstens innerhalb der europäischen Menschheit, sind nur auf
primitiver Kulturstufe und im Naturzustande wirksam. Wenn wir heute vom
„deutschen Volk" sprechen, so meinen wir etwas anderes als die Summe der
blauäugigen, blondhaariger usw. Menschen. Wir gebrauchen dann vielmehr
einen Begriff, von dessen Gerüst einiges stehen geblieben ist, der aber im Laufe
Äer Zeit seinen Inhalt gänzlich geändert hat.
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