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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Deutsche Ariegsdichtung heut und vor hundert Jahren

Für Sammler sei noch das Liebesgabenlied mit dem Stoßseufzer: "So viel
Liebe -- und kein Mädel I" und das Rheumatismuslied mit dem Schluß erwähnt:
"Uns zieht der Rheumatismus fürs Vaterland durchs Kreuz I"

Neben diese Kriegslyrik tritt nun die Kriegsepik, zu der einerseits die kunst¬
gemäße oder volksgemätze Ballade, anderseits das formlose historische Volkslied
gehört. An beiden Gattungen ist unsere Kriegsdichtung überraschend reich. Es
gibt heute kaum einen Sieg, kaum eine Tat unseres Heeres oder der Flotte,
kaum einen kleinen oder großen Helden, der nicht mehrfach besungen worden wäre.
Am meisten Lieder vereinigen sich wohl auf die Eroberung Lüttichs und die Taten
des "v 9" und der "Emden" und auf die Männer, an deren Namen diese Taten
geknüpft sind. Von den großen Führern wird der Kaiser und dann natürlich
Hindenburg gefeiert. Die Gestalt des Kaisers hat unter dem Einfluß des Krieges
in der bildenden Kunst und in der Dichtung in gleicher Weise eine Verklärung
erfahren. Weshalb? Darauf antwortet uns Max Bewer in seinem knappen, aber
tiefen Gedicht "Dem Kaiser!"

Hindenburg aber ist nicht bloß im Kampf, sondern auch in der Dichtung der
Blücher von 1914 geworden. In Hymnen und im Dialekt, in lyrischen und
epischen Ergüssen, in Balladen und komischen Gedichten wird er und seine Taten
gefeiert. Als Probe eines Volksliedes mögen hier zwei Strophen aus einem Liede
stehen, das Land Wehrmänner nach der Weise des Tannenbaumliedes am 22. Dezember
aus dem Bahnhof in Sosnowice gesungen haben:

Zum Schlüsse dürfen in der Kriegsdichtung von heute auch nicht solche
Stimmen übergangen werden, die einen anderen Unterton tragen als die bisher
geschilderte Dichtung der Kämpfenden, seien es nun geistige Kämpfer oder solche,
die mit der Waffe vorm Feind stehen. Auch der Gefühle derer muß hier gedacht
werden, die das Schicksal nicht zum ftöhlich-begeisternden Kampf, sondern zum
geduldigen Warten auf das Leid, auf den Jammer des Krieges bestimmt hat,
und die ihr Heldentum daheim, im stillen sich erringen müssen durch die Art, wie
sie ihren Schmerz auf sich nehmen und sich mit ihm abfinden. Auch ihre
Gefühle finden in der heutigen Kriegsdichtung gelegentlich Dolmetscher. Kurt
Münzer findet zum Beispiel für sie gelegentlich packenden Ausdruck ("Taten und
Kränze"), vor allem aber versucht Hermann Claudius (Hörst du nicht den Eisen¬
schritt? Zeitgedichte. Alfr. Janssen Verlag, Hamburg, 1914) sich mit dem Welt-


Deutsche Ariegsdichtung heut und vor hundert Jahren

Für Sammler sei noch das Liebesgabenlied mit dem Stoßseufzer: „So viel
Liebe — und kein Mädel I" und das Rheumatismuslied mit dem Schluß erwähnt:
„Uns zieht der Rheumatismus fürs Vaterland durchs Kreuz I"

Neben diese Kriegslyrik tritt nun die Kriegsepik, zu der einerseits die kunst¬
gemäße oder volksgemätze Ballade, anderseits das formlose historische Volkslied
gehört. An beiden Gattungen ist unsere Kriegsdichtung überraschend reich. Es
gibt heute kaum einen Sieg, kaum eine Tat unseres Heeres oder der Flotte,
kaum einen kleinen oder großen Helden, der nicht mehrfach besungen worden wäre.
Am meisten Lieder vereinigen sich wohl auf die Eroberung Lüttichs und die Taten
des „v 9" und der „Emden" und auf die Männer, an deren Namen diese Taten
geknüpft sind. Von den großen Führern wird der Kaiser und dann natürlich
Hindenburg gefeiert. Die Gestalt des Kaisers hat unter dem Einfluß des Krieges
in der bildenden Kunst und in der Dichtung in gleicher Weise eine Verklärung
erfahren. Weshalb? Darauf antwortet uns Max Bewer in seinem knappen, aber
tiefen Gedicht „Dem Kaiser!"

Hindenburg aber ist nicht bloß im Kampf, sondern auch in der Dichtung der
Blücher von 1914 geworden. In Hymnen und im Dialekt, in lyrischen und
epischen Ergüssen, in Balladen und komischen Gedichten wird er und seine Taten
gefeiert. Als Probe eines Volksliedes mögen hier zwei Strophen aus einem Liede
stehen, das Land Wehrmänner nach der Weise des Tannenbaumliedes am 22. Dezember
aus dem Bahnhof in Sosnowice gesungen haben:

Zum Schlüsse dürfen in der Kriegsdichtung von heute auch nicht solche
Stimmen übergangen werden, die einen anderen Unterton tragen als die bisher
geschilderte Dichtung der Kämpfenden, seien es nun geistige Kämpfer oder solche,
die mit der Waffe vorm Feind stehen. Auch der Gefühle derer muß hier gedacht
werden, die das Schicksal nicht zum ftöhlich-begeisternden Kampf, sondern zum
geduldigen Warten auf das Leid, auf den Jammer des Krieges bestimmt hat,
und die ihr Heldentum daheim, im stillen sich erringen müssen durch die Art, wie
sie ihren Schmerz auf sich nehmen und sich mit ihm abfinden. Auch ihre
Gefühle finden in der heutigen Kriegsdichtung gelegentlich Dolmetscher. Kurt
Münzer findet zum Beispiel für sie gelegentlich packenden Ausdruck („Taten und
Kränze"), vor allem aber versucht Hermann Claudius (Hörst du nicht den Eisen¬
schritt? Zeitgedichte. Alfr. Janssen Verlag, Hamburg, 1914) sich mit dem Welt-


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[0199] Deutsche Ariegsdichtung heut und vor hundert Jahren Für Sammler sei noch das Liebesgabenlied mit dem Stoßseufzer: „So viel Liebe — und kein Mädel I" und das Rheumatismuslied mit dem Schluß erwähnt: „Uns zieht der Rheumatismus fürs Vaterland durchs Kreuz I" Neben diese Kriegslyrik tritt nun die Kriegsepik, zu der einerseits die kunst¬ gemäße oder volksgemätze Ballade, anderseits das formlose historische Volkslied gehört. An beiden Gattungen ist unsere Kriegsdichtung überraschend reich. Es gibt heute kaum einen Sieg, kaum eine Tat unseres Heeres oder der Flotte, kaum einen kleinen oder großen Helden, der nicht mehrfach besungen worden wäre. Am meisten Lieder vereinigen sich wohl auf die Eroberung Lüttichs und die Taten des „v 9" und der „Emden" und auf die Männer, an deren Namen diese Taten geknüpft sind. Von den großen Führern wird der Kaiser und dann natürlich Hindenburg gefeiert. Die Gestalt des Kaisers hat unter dem Einfluß des Krieges in der bildenden Kunst und in der Dichtung in gleicher Weise eine Verklärung erfahren. Weshalb? Darauf antwortet uns Max Bewer in seinem knappen, aber tiefen Gedicht „Dem Kaiser!" Hindenburg aber ist nicht bloß im Kampf, sondern auch in der Dichtung der Blücher von 1914 geworden. In Hymnen und im Dialekt, in lyrischen und epischen Ergüssen, in Balladen und komischen Gedichten wird er und seine Taten gefeiert. Als Probe eines Volksliedes mögen hier zwei Strophen aus einem Liede stehen, das Land Wehrmänner nach der Weise des Tannenbaumliedes am 22. Dezember aus dem Bahnhof in Sosnowice gesungen haben: Zum Schlüsse dürfen in der Kriegsdichtung von heute auch nicht solche Stimmen übergangen werden, die einen anderen Unterton tragen als die bisher geschilderte Dichtung der Kämpfenden, seien es nun geistige Kämpfer oder solche, die mit der Waffe vorm Feind stehen. Auch der Gefühle derer muß hier gedacht werden, die das Schicksal nicht zum ftöhlich-begeisternden Kampf, sondern zum geduldigen Warten auf das Leid, auf den Jammer des Krieges bestimmt hat, und die ihr Heldentum daheim, im stillen sich erringen müssen durch die Art, wie sie ihren Schmerz auf sich nehmen und sich mit ihm abfinden. Auch ihre Gefühle finden in der heutigen Kriegsdichtung gelegentlich Dolmetscher. Kurt Münzer findet zum Beispiel für sie gelegentlich packenden Ausdruck („Taten und Kränze"), vor allem aber versucht Hermann Claudius (Hörst du nicht den Eisen¬ schritt? Zeitgedichte. Alfr. Janssen Verlag, Hamburg, 1914) sich mit dem Welt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/199>, abgerufen am 24.08.2024.