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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die Nachfolge Bismarcks

schrieb er die nachdenklichen Worte, daß es uns überhaupt nicht gegeben sei
"den ganzen Menschen zu Papier oder über die Zunge zu bringen, und daß
wir die Bruchstücke, die wir zutage fördern, andere nicht so wahrnehmen lassen
können, wie wir sie selbst empfinden, teils wegen der Inferiorität der Sprache
gegen den Gedanken, teils weil die äußeren Tatsachen, auf die wir Bezug
Nehmen, sich selten unter dem gleichen Lichte darstellen, sobald der eine nicht
die Anschauungen des anderen auf Glauben und ohne eigenes Urteil annimmt".

Bei dieser tiefen Auffassung ist es erklärlich, daß er mit der oberflächlichen
Ausnutzung beliebiger Zitate für die Darstellung seines Charakters oder seiner
Anschauungen, wie sie Moritz Busch betrieb, wenig einverstanden war. Des
öfteren hielt er ihm deshalb entgegen, daß die Art, seinen "inneren Menschen
aus fragmentarischen Beobachtungen zu entziffern, zu gänzlich verfehlter Auf¬
fassung" führen müsse, wenn anders er sich nicht durch seine Pedanterie, die
abgerissene Bruchstücke von Konversationen verwerte, als ob sie "mit der
Gewissenhaftigkeit eines vereideten Zeugen vor Gericht" geführt worden wären,
veranlaßt fühlen solle, in keinem Augenblick die schriftliche Form und den
amtlichen Kothurn zu verlassen! Und von Poschinger kennen wir den Bismarckschen
Ausspruch: "Jedes in bewegter Zeit unter vier Augen gesprochene Wort
gewinnt eine ganz andere Bedeutung, wenn es, aus dem Zusammenhang gelöst,
nach Jahren vor das Publikum gebracht wird, welches die Situation nicht
selbst erlebt hat." Bismarck weigerte sich daher mit Recht auch nach seiner
Entlassung, für alle in zwangloser politischer Konversation "ohne Zeugen und
ohne Stenogramm" ausgesprochenen Ansichten, die seinem "gewohnheitsmäßigen
Bedürfnis nach politischer Aussprache" entsprangen und nie den "Charakter einer
systematischen Manifestation" hatten, die volle Verantwortung zu übernehmen.
Nach seiner treffenden Beobachtung verschieben sich derartige Äußerungen in der
Tat im Gedächtnis des Zuhörers und bringen daher, vervollständigt und
unterstrichen, auch bei ehrlicher Anknüpfung an wirklich Gesprochenes doch einen
dem Urheber fremden und fernliegenden Gedanken zum Ausdruck. -- Wieviel
mehr sollten also erst wir Epigonen uns hüten, Bismarcksche Worte, die nur
in ihrer Zeit verständlich sind, auf die Gegenwart anzuwenden und auszumünzen!

Natürlich haben auch unsere Bismarckpolitiker eine Vorstellung von den
schon vom Altreichskanzler gerügten Folgen tendenziöser Geschichtschreibung in
politischer Absicht. Aber sie würden ihren jedesmaligen Zweck nicht mit dem¬
selben Erfolg erreichen, wenn sie jene prophetischen Warnungen im Be¬
wußtsein ihres loyalen, trotz allen Kampfes gegen den "neuen Kurs" doch
auch wieder auf eine Erleichterung der Regierungspolitik gerichteten Charakters
beherzigt und befolgt hätten. Darum arbeiten sie lieber, wennschon vielfach
unbewußt, auch weiterhin mit Fleiß an der Modernisierung des Bismarckbildes,
das ja politisch immer weniger in unsere Zeit zu passen scheint. Zweifellos
ist dieses aber nicht nur mit Rücksicht auf die historische Objektivität viel zu
groß, als daß es irgendwelche Übermalung oder Renovierung vertragen könnte


Die Nachfolge Bismarcks

schrieb er die nachdenklichen Worte, daß es uns überhaupt nicht gegeben sei
„den ganzen Menschen zu Papier oder über die Zunge zu bringen, und daß
wir die Bruchstücke, die wir zutage fördern, andere nicht so wahrnehmen lassen
können, wie wir sie selbst empfinden, teils wegen der Inferiorität der Sprache
gegen den Gedanken, teils weil die äußeren Tatsachen, auf die wir Bezug
Nehmen, sich selten unter dem gleichen Lichte darstellen, sobald der eine nicht
die Anschauungen des anderen auf Glauben und ohne eigenes Urteil annimmt".

Bei dieser tiefen Auffassung ist es erklärlich, daß er mit der oberflächlichen
Ausnutzung beliebiger Zitate für die Darstellung seines Charakters oder seiner
Anschauungen, wie sie Moritz Busch betrieb, wenig einverstanden war. Des
öfteren hielt er ihm deshalb entgegen, daß die Art, seinen „inneren Menschen
aus fragmentarischen Beobachtungen zu entziffern, zu gänzlich verfehlter Auf¬
fassung" führen müsse, wenn anders er sich nicht durch seine Pedanterie, die
abgerissene Bruchstücke von Konversationen verwerte, als ob sie „mit der
Gewissenhaftigkeit eines vereideten Zeugen vor Gericht" geführt worden wären,
veranlaßt fühlen solle, in keinem Augenblick die schriftliche Form und den
amtlichen Kothurn zu verlassen! Und von Poschinger kennen wir den Bismarckschen
Ausspruch: „Jedes in bewegter Zeit unter vier Augen gesprochene Wort
gewinnt eine ganz andere Bedeutung, wenn es, aus dem Zusammenhang gelöst,
nach Jahren vor das Publikum gebracht wird, welches die Situation nicht
selbst erlebt hat." Bismarck weigerte sich daher mit Recht auch nach seiner
Entlassung, für alle in zwangloser politischer Konversation „ohne Zeugen und
ohne Stenogramm" ausgesprochenen Ansichten, die seinem „gewohnheitsmäßigen
Bedürfnis nach politischer Aussprache" entsprangen und nie den „Charakter einer
systematischen Manifestation" hatten, die volle Verantwortung zu übernehmen.
Nach seiner treffenden Beobachtung verschieben sich derartige Äußerungen in der
Tat im Gedächtnis des Zuhörers und bringen daher, vervollständigt und
unterstrichen, auch bei ehrlicher Anknüpfung an wirklich Gesprochenes doch einen
dem Urheber fremden und fernliegenden Gedanken zum Ausdruck. — Wieviel
mehr sollten also erst wir Epigonen uns hüten, Bismarcksche Worte, die nur
in ihrer Zeit verständlich sind, auf die Gegenwart anzuwenden und auszumünzen!

Natürlich haben auch unsere Bismarckpolitiker eine Vorstellung von den
schon vom Altreichskanzler gerügten Folgen tendenziöser Geschichtschreibung in
politischer Absicht. Aber sie würden ihren jedesmaligen Zweck nicht mit dem¬
selben Erfolg erreichen, wenn sie jene prophetischen Warnungen im Be¬
wußtsein ihres loyalen, trotz allen Kampfes gegen den „neuen Kurs" doch
auch wieder auf eine Erleichterung der Regierungspolitik gerichteten Charakters
beherzigt und befolgt hätten. Darum arbeiten sie lieber, wennschon vielfach
unbewußt, auch weiterhin mit Fleiß an der Modernisierung des Bismarckbildes,
das ja politisch immer weniger in unsere Zeit zu passen scheint. Zweifellos
ist dieses aber nicht nur mit Rücksicht auf die historische Objektivität viel zu
groß, als daß es irgendwelche Übermalung oder Renovierung vertragen könnte


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[0181] Die Nachfolge Bismarcks schrieb er die nachdenklichen Worte, daß es uns überhaupt nicht gegeben sei „den ganzen Menschen zu Papier oder über die Zunge zu bringen, und daß wir die Bruchstücke, die wir zutage fördern, andere nicht so wahrnehmen lassen können, wie wir sie selbst empfinden, teils wegen der Inferiorität der Sprache gegen den Gedanken, teils weil die äußeren Tatsachen, auf die wir Bezug Nehmen, sich selten unter dem gleichen Lichte darstellen, sobald der eine nicht die Anschauungen des anderen auf Glauben und ohne eigenes Urteil annimmt". Bei dieser tiefen Auffassung ist es erklärlich, daß er mit der oberflächlichen Ausnutzung beliebiger Zitate für die Darstellung seines Charakters oder seiner Anschauungen, wie sie Moritz Busch betrieb, wenig einverstanden war. Des öfteren hielt er ihm deshalb entgegen, daß die Art, seinen „inneren Menschen aus fragmentarischen Beobachtungen zu entziffern, zu gänzlich verfehlter Auf¬ fassung" führen müsse, wenn anders er sich nicht durch seine Pedanterie, die abgerissene Bruchstücke von Konversationen verwerte, als ob sie „mit der Gewissenhaftigkeit eines vereideten Zeugen vor Gericht" geführt worden wären, veranlaßt fühlen solle, in keinem Augenblick die schriftliche Form und den amtlichen Kothurn zu verlassen! Und von Poschinger kennen wir den Bismarckschen Ausspruch: „Jedes in bewegter Zeit unter vier Augen gesprochene Wort gewinnt eine ganz andere Bedeutung, wenn es, aus dem Zusammenhang gelöst, nach Jahren vor das Publikum gebracht wird, welches die Situation nicht selbst erlebt hat." Bismarck weigerte sich daher mit Recht auch nach seiner Entlassung, für alle in zwangloser politischer Konversation „ohne Zeugen und ohne Stenogramm" ausgesprochenen Ansichten, die seinem „gewohnheitsmäßigen Bedürfnis nach politischer Aussprache" entsprangen und nie den „Charakter einer systematischen Manifestation" hatten, die volle Verantwortung zu übernehmen. Nach seiner treffenden Beobachtung verschieben sich derartige Äußerungen in der Tat im Gedächtnis des Zuhörers und bringen daher, vervollständigt und unterstrichen, auch bei ehrlicher Anknüpfung an wirklich Gesprochenes doch einen dem Urheber fremden und fernliegenden Gedanken zum Ausdruck. — Wieviel mehr sollten also erst wir Epigonen uns hüten, Bismarcksche Worte, die nur in ihrer Zeit verständlich sind, auf die Gegenwart anzuwenden und auszumünzen! Natürlich haben auch unsere Bismarckpolitiker eine Vorstellung von den schon vom Altreichskanzler gerügten Folgen tendenziöser Geschichtschreibung in politischer Absicht. Aber sie würden ihren jedesmaligen Zweck nicht mit dem¬ selben Erfolg erreichen, wenn sie jene prophetischen Warnungen im Be¬ wußtsein ihres loyalen, trotz allen Kampfes gegen den „neuen Kurs" doch auch wieder auf eine Erleichterung der Regierungspolitik gerichteten Charakters beherzigt und befolgt hätten. Darum arbeiten sie lieber, wennschon vielfach unbewußt, auch weiterhin mit Fleiß an der Modernisierung des Bismarckbildes, das ja politisch immer weniger in unsere Zeit zu passen scheint. Zweifellos ist dieses aber nicht nur mit Rücksicht auf die historische Objektivität viel zu groß, als daß es irgendwelche Übermalung oder Renovierung vertragen könnte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/181>, abgerufen am 22.07.2024.