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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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^gends provocateurs

Leben eines jeden Menschen, um dessentwillen es sich lohnt, gelebt zu haben."
so hatte Bogroff noch ein paar Tage vor dem Attentate gesagt -- und als er
seinen Plan ausführte, war er ein aufrichtiger Revolutionär. Aber, wenn auch
die Akten über den Prozeß Bogroffs nie veröffentlicht worden sind, so wissen
wir doch, daß er die Eintrittskarte zu dem Theater von dem Chef der Ochrana
in Kiew, dem Obersten Kuljabko. erhalten hatte. Auch er hat im Dienste der
Ochrana gestanden, und die Ochrana ist es gewesen, deren unheilvollen
Wirken Stolypin, ihr Begünstiger und Beschützer, im Grunde zum Opfer ge¬
fallen ist.

Die Tragik dieser Stunde kommt uns nachträglich bei der Lektüre eines
hochinteressanter Briefwechsels zwischen Witte und Stolypin, der in der März¬
nummer der Rußkaja Mysl veröffentlicht worden ist, noch klarer zum Bewußtsein.
Der Anlaß dieses Briefwechsels waren die Attentate auf Witte, die im Februar
und Juni 1907 von Alexander Kasanzeff, Wassili Fjodoroff und Alexei
Stepanoff unternommen wurden, ohne ihr Ziel, die Ermordung des Grafen,
zu erreichen. Das erste Mal wurde die Höllenmaschine in dem Rauchabzug
des Witteschen Hauses noch rechtzeitig entdeckt, das andere Mal konnte der
Bombenanschlag auf das Automobil des Grafen deshalb nicht zur Ausführung
kommen, weil dieser einen anderen Weg zum Reichsrat einschlug und teilweise
zu Fuß ging. Die Briefe, die Witte an Stolypin drei Jahre nach dem
Attentate schrieb, sind aber nicht wegen dieses tatsächlichen Materials interessant,
sondern wegen der Motive der Mordanschläge, und der dabei im Dunkeln
wirkenden Kräfte. Auch hier treffen wir wieder auf die Ochrana und auf den
ÄZsnt provoLatsui-. Kasanzeff, der die zum Morde des Grafen ausersehenen
beiden Leuten geleitet und beauftragt hat, war bezahlter Agent der Ochrana.
Er war von einem Beamten der Moskaner Ochrana, dem Grafen Buxhövden,
in Sold genommen, um hohe Würdenträger gegen Attentate zu schützen; --
oder hatte er vielleicht den Auftrag, diese hohen Beamten zu töten, weil es
das Interesse des Staates gebieterisch verlangte? Graf Witte, der drei Jahre
uach dem Tage des Attentats die Untersuchungsakten mit dem Einstellungs¬
beschluß vorgelegt erhält, neigt dieser Ansicht zu, und jeder, der unbefangen
Wildes Anklagebrief und Stolypins schwächliche Antwort darauf liest, wird ihm
darin beistimmen, daß die ganze Art der Ausführung des Verbrechens diesen
Schluß zuläßt. Kasanzeff begnügte sich, wie Graf Witte wörtlich sagt, nicht
mit der Rolle eines Provokateurs, er ging weiter. Ihm war es nicht darum
zu tun, den oder jenen Maximalsten abzufangen -- er benutzte ihre Dienste,
um ein wirkliches Verbrechen zu begehen. Der Graf weist an der Hand der
Antersuchungsakten nach, wie im einzelnen das Verhalten von Kasanzeff, das
Verhalten der Polizei, der Verlauf der Untersuchung darauf hindeutet, daß man
seinen Mord unter allen Umständen wollte, und als er nicht gelang, die Tat¬
sachen verschleierte, die die Wahrheit hätten ans Licht bringen können. Die
Polizei ist "bewußt untätig gewesen", die Untersuchung ist "schüchtern geführt"


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^gends provocateurs

Leben eines jeden Menschen, um dessentwillen es sich lohnt, gelebt zu haben."
so hatte Bogroff noch ein paar Tage vor dem Attentate gesagt — und als er
seinen Plan ausführte, war er ein aufrichtiger Revolutionär. Aber, wenn auch
die Akten über den Prozeß Bogroffs nie veröffentlicht worden sind, so wissen
wir doch, daß er die Eintrittskarte zu dem Theater von dem Chef der Ochrana
in Kiew, dem Obersten Kuljabko. erhalten hatte. Auch er hat im Dienste der
Ochrana gestanden, und die Ochrana ist es gewesen, deren unheilvollen
Wirken Stolypin, ihr Begünstiger und Beschützer, im Grunde zum Opfer ge¬
fallen ist.

Die Tragik dieser Stunde kommt uns nachträglich bei der Lektüre eines
hochinteressanter Briefwechsels zwischen Witte und Stolypin, der in der März¬
nummer der Rußkaja Mysl veröffentlicht worden ist, noch klarer zum Bewußtsein.
Der Anlaß dieses Briefwechsels waren die Attentate auf Witte, die im Februar
und Juni 1907 von Alexander Kasanzeff, Wassili Fjodoroff und Alexei
Stepanoff unternommen wurden, ohne ihr Ziel, die Ermordung des Grafen,
zu erreichen. Das erste Mal wurde die Höllenmaschine in dem Rauchabzug
des Witteschen Hauses noch rechtzeitig entdeckt, das andere Mal konnte der
Bombenanschlag auf das Automobil des Grafen deshalb nicht zur Ausführung
kommen, weil dieser einen anderen Weg zum Reichsrat einschlug und teilweise
zu Fuß ging. Die Briefe, die Witte an Stolypin drei Jahre nach dem
Attentate schrieb, sind aber nicht wegen dieses tatsächlichen Materials interessant,
sondern wegen der Motive der Mordanschläge, und der dabei im Dunkeln
wirkenden Kräfte. Auch hier treffen wir wieder auf die Ochrana und auf den
ÄZsnt provoLatsui-. Kasanzeff, der die zum Morde des Grafen ausersehenen
beiden Leuten geleitet und beauftragt hat, war bezahlter Agent der Ochrana.
Er war von einem Beamten der Moskaner Ochrana, dem Grafen Buxhövden,
in Sold genommen, um hohe Würdenträger gegen Attentate zu schützen; —
oder hatte er vielleicht den Auftrag, diese hohen Beamten zu töten, weil es
das Interesse des Staates gebieterisch verlangte? Graf Witte, der drei Jahre
uach dem Tage des Attentats die Untersuchungsakten mit dem Einstellungs¬
beschluß vorgelegt erhält, neigt dieser Ansicht zu, und jeder, der unbefangen
Wildes Anklagebrief und Stolypins schwächliche Antwort darauf liest, wird ihm
darin beistimmen, daß die ganze Art der Ausführung des Verbrechens diesen
Schluß zuläßt. Kasanzeff begnügte sich, wie Graf Witte wörtlich sagt, nicht
mit der Rolle eines Provokateurs, er ging weiter. Ihm war es nicht darum
zu tun, den oder jenen Maximalsten abzufangen — er benutzte ihre Dienste,
um ein wirkliches Verbrechen zu begehen. Der Graf weist an der Hand der
Antersuchungsakten nach, wie im einzelnen das Verhalten von Kasanzeff, das
Verhalten der Polizei, der Verlauf der Untersuchung darauf hindeutet, daß man
seinen Mord unter allen Umständen wollte, und als er nicht gelang, die Tat¬
sachen verschleierte, die die Wahrheit hätten ans Licht bringen können. Die
Polizei ist „bewußt untätig gewesen", die Untersuchung ist „schüchtern geführt"


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/175>, abgerufen am 22.07.2024.